Samuel Beckett (1906–1989) ist neben Eugène Ionesco (1909–1994) der bedeutendste Vertreter des »Theaters des Absurden«. In Dublin geboren, mit hugenottischen Vorfahren, kam er 1928 erstmals nach Paris, wo er zwei Jahre als Englisch-Lektor an der École normale supérieure arbeitete. Zurück in Dublin arbeitete er drei Jahre als Assistent im Fach Französisch am Trinity College und zog danach nach London, wo er Romane und Erzählungen schrieb, damit jedoch keinen Erfolg hatte. 1936 reiste er zum wiederholten Male durch Deutschland und 1937 zog er endgültig nach Paris. 1940 schloss er sich dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung an. Nach der Befreiung arbeitete er als Dolmetscher für das Rote Kreuz. Zurück in Paris erlebte er seine fruchtbarste Schaffensphase. Romane (u. a. Mercier et Camier) und Theaterstücke (u. a. En attendant Godot) entstanden, hatten aber noch keine Verleger und keine Theater, an denen sie aufgeführt wurden.
1953 führte Roger Blin (bekannt aus dem Film Orphée von Jean Cocteau) En attendant Godot in seinem Theater auf. Beckett wurde damit mit einen Schlag an die Spitze des absurden Theaters katapultiert. Im gleichen Jahr kam das Stück auch nach Berlin und war auch hier ein großer Erfolg. Mit dem nächsten Stück, das er 1954 bis 1956 schrieb, Fin de partie, hatte er nicht so viel Glück. Es war schwierig, ein Theater zu finden, das es aufführen wollte. Daher kam es schließlich 1957 (in französischer Sprache) in London heraus, wurde in Paris als Gastpiel gegeben und bald. auch in Berlin gespielt, jedoch überall ohne nachhatigen Erfolg. Das änderte sich in Berlin zehn Jahre später, als Beckett selbst es selbst in der Werkstatt des Schillertheaters inszenierte. Dieser Ausschnitt scheint aus einer Fernsehdokumentation dieser Aufführung zu stammen.
György Kurtág, 1926 in Lugoj (Rumänien) geboren, lebte von 1956 bis 1958 in Paris und sah die Erstaufführung von Fin de partie. Er besorgte sich das Buch und bewahrt es bis heute auf. Er hatte in Budapest bei Sándor Veress studiert, bis dieser 1949 vor den Kommunisten in die Schweiz floh (wo er in Bern Generationen von Komponisten ausbildete, aber erst kurz vor seinem Tod 1991 die Staatsbürgerschaft erhielt). Danach waren Pál Járdányi und Ferenc Farkás Kurtágs Lehrer. 1956 erhielt er einen ungarischen Pass, mit dem er in den Westen reisen konnte. In Paris besuchte er Kurse bei Max Deutsch, Darius Milhaud und Olivier Messiaen. Während die letzten beiden auch als Komponisten große Bekanntheit genießen, kennt man Max Deutsch vor allem als Kompositionslehrer und erst in letzter Zeit hört man von seiner Tätigkeit als Filmkomponist, etwa für Fritz Lang. Zurück in Budapest, schlug sich Kurtág bis 1968 als Korrepetitor erst der Musikakademie, dann der Staatsoper durch. Obwohl er erst mit 84 Jahren anfing eine Oper zu schreiben, ist er also durchaus ein Mann der Oper. 1971 kam er zum DAAD nach West-Berlin und 1993 arbeitete er am Wissenschaftskolleg und als »Composer in Residence« bei den Berliner Philharmonikern.
Die älteste verfügbare Komposition von György Kurtág ist ein Viola-Konzert von 1954, hier in einer Aufnahme von 2006 mit Sándor Nagy und dem ungarischen Nationalorchester unter Zoltán Kocsis. Der Einfluss von Veress ist da noch zu hören, zum Vergleich eines der ersten Werke von Veress, die er in der Schweiz schrieb. In Basel begegnete er den Bildern von Paul Klee. Eine Reaktion ist die Hommage à Paul Klee für zwei Klaviere und Streichorchester von 1951. Als Solist zusammen mit seiner Frau und dem Berner Kammerorchester brachte er sie am 22. Januar 1952 zur Uraufführung. Hier eine Aufnahme der RAI von 2014. Entscheidenden Einfluss auf Kurtágs weiteren Schaffensweg hatte die Begegnung mit den späteren Werken Anton Webern. Die absolute Reduktion auf das Notwendige wurde ihm Vorbild, wie wir sie hier in den 5 Geistlichen Liedern op. 15 von Anton Webern, gesungen von Laura Aikin, hören. Zum Vergleich hier die Kafka-Fragmente von György Kurtág.
Das Ungarische sielt in der Musik von Kurtág immer eine große Rolle. Im Orchester von Fin de partie spielt nicht nur ein Cimbalom mit, sondern auch zwei Bajans (osteuropäische Knopfakkordeons) und ein stehendes Klavier, das nicht mit einem Flügel zu besetzen ist. Für Violine und Cimbalom hat er schon 1961 8 Duos geschrieben, hier zu hören (mit schweizerdeutschem Kommentar).
1990 vertonte Kurtág zum ersten Mal einen Text von Samuel Beckett: What is the Word. Eine Auseinandersetzung mit Sprachloigkeit. In der ersten Fassung, op. 30 ist die Singstimme lediglich von einem Klavier begleitet, wie es hier Valentina Coladonato demonstriert. Die bekanntere Fassung ist jedoch op. 30b, hier die Tonaufnahme mit Anett Zaire, Ildiko Monyok, dem Ensemble Anton Webern und dem Arnold Schönberg Chor unter Leitung von Claudio Abbado. Claudio Abbado war Chefdirigient der Berliner Philharmoniker, als Kurtág Composer in Residence war. Er brachte 1994 ΣΤΉΛΗ (Stele) zur Uraufführung. Hier die Aufnahme mit Noten. In der Zeit, 1993 bis 1998, widmete sich Kurtág einem weiteren Text von Beckett, ... pas à pas – nulle part .... Er komponierte ihn für Bariton, Streichtrio und Schlagzeug. Hier von Vincent Ranallo zu hören.
Seit 1991 war Alexander Pereira Intendant des Opernhauses in Zürich. In den 2000er Jahren führte er mehrere Gespräche mit György Kurtág mit dem Ziel, ihn dazu zu bewegen, eine Oper zu schreiben – was ganz unterschiediche Reaktionen bei Presse und Fachleuten hervorrief. Die einen meinten, dass Kurtágs Domäne die Kürze sei und es unvorstellbar wäre, dass er ein abendfüllendes Werk schreibt. Andere bejubelten die Idee, weil nun endlich einmal die wirkliche Avantgarde ins Opernhaus käme. 2010 willigte Kurtág ein und begann seine Arbeit an Fin de partie. Alexander Pereiras Jahre in Zürich neigten sich dem Ende zu. Doch es gelang ihm, den Kompositionsauftrag auf die Salzburger Festspiele zu übertragen, deren Direktion er 2012 für zwei Jahre übernahm. Als er 2014 zur Mailander Scala wechselte, konnte er auch dahin den Auftrag »umziehen«. So kam denn nach sieben Jahren Kompositionsarbeit und mehr als einem Jahr Vorbereitungszeit am 15. November 2018 die Uraufführung der Oper in Mailand zustande.
Fin de partie ist ein Kammerspiel für vier Personen. Hamm (Bassbariton), ist ein Versehrter, der im Rollstuhl sitzt und abhängig ist von seinem Diener Clov (Bariton), den er gern loswerden möchte – und der auch von ihm loskommen will. Zwei weitere Personen hausen in zwei Mülltonnen. Es sind Hamms Eltern Nagg (Tenor) und Nell (Mezzosopran). Auch sie sind unbeweglich, vielleicht die Folge eines Motorradunfalls, und abhängig von Clovs Diensten. Auch sie kommen nicht voneinaner los, der Begriff »toxische Beziehung« exisierte in den 50er Jahren vielleicht noch nicht, aber er trifft für alle am »Endspiel« beteiligten zu. Der französische Text von Beckett wird im original, gekürzt um etwa die Hälfte, verwendet. Dazu kommt als Prolog ein Gedicht von Beckett in Englisch, roundelay. Das sehr formalistische Gedicht wird von Nell vorgetragen. Es folgen 12 Szenen unterschiedlicher Länge und ein Epilog. Zuerst gehört die Bühne allein Clov, für den Kurtág eine Pantomime, so amüsant wie Beckmessers Pantomime, nur entsprechend dem absurden Theater völlig inhaltsleer, geschrieben hat. Sein erster Monolog beginnt: »Fini, c'est fini, ça va finir, ça va peut-être finir!« (»Ende, es ist zu Ende, es wird zu Ende gehen, es wird vielleicht zu Ende gehen« – ganz schwer zu übersetzen, denn »Fini« heißt auch »Schluss«, aber es ist ein Verb, also korrekter vielleicht »Geendet, es ist geendet, es wird geendet sein, es wird vielleicht geendet sein«, aber was ist das für ein Deutsch?, also »Schluss, es ist Schluss...«). Im Laufe seines Monologs deckt er den unter einer Decke liegenden Hamm auf, der seinen ersten Monolog anfängt, in dem er seine existentialistische Sicht der Welt darlegt. Danach rührt sich was an den Mülltonnen. Nagg und Nell schwelgen in Erinnerungen, und Nagg muss unbedingt seinen Witz vom Schneider und der Welt erzählen. Nell hört brav wie immer zu, aber am Ende hat sie keinen Puls mehr. Danach baut sich Hamm zu seiner Geschichte auf, Nagg muss zuhören, danach erst kann er zu seinem Monolog ansetzen, wo er sein Vatersein bejammert, was Hamm dann mit einem original englischen Satz aus The Tempest von Shakespeare beantwortet. Was jetzt folgt, knapp nach der Hälfte der Oper, hat die Bezeichnung »Hamms vorletzer Dialog«. Er beklagt erneut sein Schicksal und bringt Einsichten wie »La fin est donc le commencement« (»Das Ende ist also der Anfang«). Danach pfeift er Clov herbei, um sich weiter mit ihm zu streiten. Am Ende schmeißt er ihn hinaus, oder versucht es wenigstens. Der singt dann das Liedchen vom Vogel, der aus dem Käfig fliegt, »Clovs Vaudeville«. Hamm bricht das ab, »Assez!« (»Genug!«), daran schließt sich Clovs letzter Monolog an. In einem »Übergang zum Finale« unterhalten sich beide noch einmal kurz, es folgt Hamms letzter Monolog, mit dessen Ende er sich wieder unter dem Taschentuch verbirgt, und ein orchestraler Epilog.
Die Uraufführung kann man hier auf YouTube sehen.
Am Mittwoch mehr in Zehlendorf. Bis dann
Ihr Curt A. Roesler