Dienstag, 11. März 2025

Bernard Foccroulle: Cassandra

Mit siebzig Jahren seine erste Oper augeführt zu sehen und damit gleich solchen Erfolg zu haben, ist erstaunlich, aber wir hatten es ja vom Kurzem mit György Kurtág zu tun, der noch älter werden musste. Aber Jean-Philippe Rameau, den man gewöhnlich als ausgesprochenen Spätzünder aufführt, war erst fünfzig, als er Hippolyte et Aricie herausbrachte. Der Belgier Bernard Foccroulle (*1953) ist ein ausgesprochener Multitasker. Es gibt ihn gewissermaßen vier Mal: als Organist und Barockspezialist, als Musikschriftsteller mit besonderem Focus auf das Zeitgenössische, als Musikmanager und eben auch über die ganze Zeit als Komponist. 

Seine ersten Erfolge hatte er fast gleichzeitig als Organist und als Musikschriftsteller. 1980 gründete er mit Philippe Pierlot und François Fernandez das Ricercar Consort, das bis heute Standards und Raritäten des Barock auf Originalinstrumenten spielt. Zwischen 1982 und 1997 nahm er für das Plattenlabel Ricercar das gesamte Orgelwerk von Johann Sebastian Bach an berühmten historischen Orgeln auf. Als Beispiel hören sie hier das kurze Choralvorspiel »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig«, das er an der großen Orgel in der Klosterkirche Muri spielte. Warum ich das ausgewählt habe, erfahren Sie später. 

1983 veröffentlichte er eine Biografie des belgischen Komponisten Philippe Boesmans (1936–2022), der da gerade seine erste große Oper La passion de Gilles im Théâtre de la Monnaie zur Uraufführung brachte. Reigen, Wintermärchen, Julie, mit denen er vielleicht größeren Erfolg hatte, folgten erst später.

1992 wurde Foccroulle Generaldirektor des Théâtre de la Monnaie und führte die erfolgreiche Modernisierung des Betriebes, die sein Vorgnger Gérard Mortier angefangen hatte, konsequent weiter. Nach 15 Jahren wechselte er zum Festival d'Aix-en-Provence, um dort Stéphane Lissner zu ersetzen, der einem Ruf an die Mailander Scala folgte. 2018 verabschiedete er sich dort. Er war also der Auftraggeber von Written on Skin, nicht aber von Innocence.

Als Komponist schrieb er bis 2020 fast ausschließlich Werke für Orgel und Lieder mit Instrumentalbegleitug. Ihn interessierten dabei auch ganz besoders die Instrumente, auf denen er seine Konzerte als Organist gab, oder die seine Kollegen spielten wie die Gambe von François Fernandez. Hier als Beispiel ein Nigra sum für Sopran, Zink und Barockorgel, komponiert 2012.

Auf die trojanische Prinzessin Kassandra, die von Apollon begehrt und mit der Sehergabe ausgestattet wurde, sind wir in den Zehlendorfer Operngesprächen schon mehrmals gekommen. Die Sehergabe, mit der Apollon sie beschenkt hatte, konnte er nicht zurücknehmen, dafür aber konnte er die Prinzessin mit dem Fluch belegen, dass niemand ihren Prophezeiungen glaubt. Als der trojanische Krieg verloren war, nahm Agamemnon sie mit nach Mykene, wo sie gleich ihm von Klytämnestra und Ägisth ermordet wurde. Um den letzten Teil ihrer Legende geht es in der gleichnamigen Oper Cassandra von Vittorio Gnecchi, die 2007 in auf die Hälfte gekürzter Form aufgeführt wurde. Der Blog exisiterte damals noch nicht, daher kann ich nicht darauf verweisen. Aber YouTube kann Sie mit Tonaufnahmen sowohl einer gekürzten Fassung wie in Berlin, aber aus Catania (hier) wie auch von einer vollständigeren aus Montpellier (hier eine Playlist der CD-Aufnahme, die Sie natürlich auch bei Spotify oder anderen Streamingdiensten hören können) versorgen. Cassandra folgt dem ersten Teil der Orestie des Aischylos, Agamemnon, Elektra dem zweiten, Die Choephoren. Richard Strauss hatte eine große Anzahl von musikalischen Themen aus Gnecchis Oper kopiert und in seine Elektra einfließen lassen, was aber keine Konsequenzen hatte, da niemand gegen den »dicken Fisch« Strauss vorgehen mochte; Urheberrecht steckte auch noch in den Kinderschuhen und endete in der Regel an Landesgrenzen. Sie erinnern sich an die Geschichte. Und Sie erinnern sich auch, dass Richard Strauss mit seinem Genie die Themen in etwas verwandelte, was man in Cassandra nicht finden kann. Bewusster Betrug lag wohl nicht vor, Strauss wird sich die unverlangt eingesandte Partitur angeschaut haben und die Melodien setzten sich in seinem musikalischen Gedächtnis fest als seien es die eigenen.

In den ersten beiden Akten Les Troyens von Hector Berlioz spielt Cassandre ein große Rolle, dazu gibt es den alten Post von 2010, damals noch ohne Links, daher muss ich nichts korrigieren, dafür ergänzen: hier eine Inszenierung von David McVicar am Royal Opera House von 2013. Aus den Jahren 1965/66 stammt die Oresteia von Iannis Xenakis, die Kassandra-Szene (für einen Bariton) ist allerdings erst später eingefügt worden, aber die Oper wurde 2014 auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin aufgeführt und daher gibt es auch in den Zehlendorfer Operngesprächen einen Blogbeitrag dazu, hier.

2020 bis 2022 schrieb Bernard Foccroulle seine erste Oper Cassandra, die 2023 an seiner ehemaligen Wirkungsstätte Théâtre de la Monnaie zur Uraufführung kam. Die Inszenierung von Marie-Ève Signeyrole (wir kennen sie von Négar und Macbeth an der Deutschen Oper Berlin) ist nach wie vor auf YouTube verfügbar, hier, und diese Inszenierung kommt nun auch nach Berlin an die Staatsoper Unter den Linden. Foccroulle und sein Librettist Matthew Jocelyn knüpfen ein zeitgenössisches Drama um nicht gehörte Umweltforschung an die antike Figur der Kassandra. Musikalisch mündet es in den Bach-Choral »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« allerdings nicht in der Orgelversion, sondern in der Version aus der entsprechenden Kantate, die Sie hier hören können (Der Choral kommt am Schluss, wie immer bei Bach). Ausnahmsweise verweise ich für die Handlung und auch noch weitere Informationen zu der Oper auf Wikipedia, wo sie erstaunlicherweise bereits einen umfangreichen Eintrag hat, hier.

Wir sehen uns am Mittwoch, wie gewohnt, ich freue mich,
Ihr Curt A. Roesler

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