Am 15. März bringt die Dresdner Semperoper Innocence von Kaija Saariaho heraus. Lorenzo Fioroni, der an der Deutschen Oper Berlin Simon Boccanegra und Turandot inszeniert hat, inszniert die multilinguale Oper. Es gibt insgesamt sieben Vorstellungen bis zum 11. April, man muss sich also beeilen, wenn man sie sehen will. Oder man fährt nach Gelsenkirchen, dann aber noch schneller, dort gibt es eine Iszenierung von Elisabeth Stöppler, die am 20. März im Rahmen des Essener »Her:Voice-Festivals« noch einmal gespielt wird. Ansonsten wird die Oper im März auch in Adelaide gespielt, aber deswegen wird wohl keiner dahin reisen wollen. Eher schon vielleicht nach Amsterdam, das sich gerade zu einem Saariaho-Festival mit Konzerten, Workshops und einer Ausstellung aufmacht (hier das Programm). Innocence kann man dort auch sehen, allerdings nur im Kino die Aufzeichnung der Uraufführung in Aix, die es auch auch bei YouTube gibt (hier). Aber auch bei den Berliner Philharmonikern kann man ab 27. Februar Saariaho hören. Dalia Stasevska dirigiert (François-Xavier Roth ist offenbar ausgeladen worden) Orion neben Werken von Sibelius, Grieg und Debussy. Orion ist ein dreisätziges Orchesterweerk, das Saariaho 2002 schrieb und Franz Welser-Möst und dem Cleveland Orchestra widmete, die es 2003 zur Uraufführung brachten. 2023 wurde es in der Philharmonie schon einmal gespielt, vom Concertgebouw-Orchester unter Klaus Mäkelä, hier die Tonaufzeichnung. Für Dalia Stasevska habe ich hier noch eine Empfehlung: Mit dem Orchestre National de France dirigierte sie L'apprenti sorcier von Paul Dukas. Hier zu sehen und vor allem auch zu hören, das französische Fagott spielt diesmal nicht Marie Boichard, es ist auch wohl nicht Philippe Hanon, der zweite Solo-Fagottist, aber so gut ist alles nicht zu erkennen. Die Solo-Fagott-Stelle ist bei 2:50, das Kontrafagott – auch den Musiker erkenne ich nicht – ist natürlich auch französischer Bauart und erklingt bei 7:20.
Kaija Saariaho ist gut vertreten auf YouTube. Jemand hat sich die Mühe gemacht 169 Videos zusammenzustellen und damit einen chronologischen Werküberblick zu bieten, hier. Alle CDs können Sie selbstverständlich auch bei den Streamingdiensten hören, meist – je nach Ihrer individuellen Ausstattung – in besserer Tonqualität. Eine DVD bzw Blu-ray-Disc gibt es, Only the Sound Remains, zwei Noh-Spiele, mit Peter Sellars an der Dutch National Opera realisiert. Davon sind nur Ausschnitte und Kommentare auf YouTube zu finden.
Kaija Saariaho, 1952 in Finnland geboren, studierte zuerst bei Paavo Heininen, einem der bekanntesten finnischen Komponisten der Nachkriegs-Avantgarde, und dem bedeutendsten Kompositionslehrer an der Sibelius-Akademie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie studierte danach bei Brian Farneyhough und Klaus Huber in Freiburg i. Brsg. und kam bei den Darmstädter Ferienkursen mit Tristan Murail und weiteren Vertretern des IRCAM (Institut de recherche et coordination acoustique/musique) und der »Spektralmusik« in Kontakt. 1982 zog sie dauerhaft nach Paris und reihte sich in die zweite Generation der »Spektralisten« ein. Diese lösten die auf Reihungen beruhenden Kompositionsmethoden der Nachkriegszeit (»Zwölftonmusik«, »Serialismus«) durch Methoden akustischer Analysen ab. Jeder Ton wird als Klang analysiert und in Beziehung zu anderen Klängen gesetzt. Vieles, was dabei kreativ errechent wird, ist nur mit elektronischen Instrumenten realisierbar, dementsprechend spielt Live-Elektronik auch eine große Rolle. 1985 realisierte sie am IRCAM Jardin secret I, eine rein elektronische Komposition. Kurz davor hatte sie in Helsinki den ersten großen Erfolg mit einem Orchesterwerk, das ebenfalls auf den Prinzipien des Spektralismus beruht und dementsprechend mit Zuspielungen vom Tonband ausgestattet ist. Esa-Pekka Salonen brachte Verblendungen (Titel nach Elias Canetti) zur Uraufführung. Susanna Mälkki brachte das Werk in einem Konzert zum 70. Geburtstag Saariahos am 22. Oktober 2022 mit dem Philharmonischen Orchester Helsinki zur Aufführung, das Konzert ist komplett mit Kommentaren und Interviews in finnischer Sprache hier bei YouTube zu finden, Verblendungen beginnt bei 1:25:40.
Das früheste Werk, das im selbst erstellten Werkverzeichnis Saariahos auftaucht, ist ein Vokalwerk von 1977, Bruden, für Sopran oder Mezzosopran, zwei Flöten und zwei Schlagzeugspieler auf vier schwedischsprachige Gedichte, das aber äußerst selten aufgeführt wird. 1979 wird das Werkverzeichnis schon üppiger und neben zwei Chorwerken taucht auch die Vertonung eines chinesischen Gedichts aus dem 12. Jahrhundert auf, Jing (Spiegel) für Sopran und Violoncello. Hier gesungen von Sandrine Schau und begleitet von Tom Pickles.
1991 wurde die erste Komposition von Kaija Saariaho für die Bühne zur Aufführung gebracht. Im Auftrag der Finnischen Nationaloper entstand in Zusammenarbeit mit der Choreografin Carolyn Carslon das abstrakte Ballett Maa (Erde). Hier eine Playlist der CD-Aufnahme. Auch der Titel ihres Violinkonzerts, das sie wie Philip Glass für Gidon Kremer schrieb, lässt eine Sehnsucht nach der Bühne erkennen: Graal theatre. Hier die Tonaufnahme mit Gidon Kremer und dem BBC-Orchester unter Esa-Pekka Salonen. Aber erst, nachdem sie in Salzburg Saint-François d'Assise von Olivier Messiaen, inszeniert von Peter Sellars, gesehen hatte, wagte sie sich daran, auch selbst eine Oper zu schreiben. 1996 lud Gérard Mortier sie zu den Salzburger Festspielen ein, wo Dawn Upshaw das Oratorium Château de l'âme zur Uraufführung brachte, die in Saint-François d'Assise die Seele verkörpert hatte.
Wie Messiaen wählte Saariaho für ihre erste Oper einen Stoff, der ins 12. Jahrhundert zurückführt. Der Troubadour Jaufré Rudel wird in den Lebensbeschreibungen provenzalischer Dichter dargestellt, wie wenn er in seinen Gedchten sein eigenes Leben verarbeitet hätte. Es gibt jedoch keinen Nachweis dafür, dass er tatsächich an einem Kreuzzug teilgenommen hätte. In seinen Gedichten schwärmt er von einer Gräfin von Tripolis. Um ihr nahe zu sein, macht er sich auf den Weg ins Heilige Land. Er erkrankt auf der Reise und stirbt in ihren Armen; sie lässt seinen Leichnam in die Niederlassung der Tempelritter in Jerusalem bringen und geht als »Witwe« in ein Kloster. Acht Gedichte von Rudel sind erhalten, bei zweien wird die Autorschaft angezweifelt. Schon im 19. Jahrhundert gab es Interesse an ihm. Heinrich Heine verewigte ihn in dem Gedicht Goeffroy Rudel und Melisande von Tripoli, Edmond Rostand schrieb La princesse lointaine für Sarah Bernhardt, wir sprachen davon im Zusammenhang mit L'Aiglon von Ibert und Honegger, dem ein von Rostand ebenfalls für Sarah Bernhardt geschriebenes Stück zugrundeliegt. Saariaho begann ihre Arbeit 1996 damit, dass sie ein Gedicht von Rudel unter dem Titel Lonh für Sopran und Elektronik vertonte. Es handelt sich ausgerechnet um eines, dessen Autorschaft angezweifelt wird, Lanqand li jorn son lonc en mai. Der Text kommt darin in drei Sprachen vor, Okzitanisch (original), Französisch und Englisch. Dawn Upshaw brachte das Werk noch 1996 in Wien zur Uraufführung. Eine spätere Aufführung aus Paris ist hier mit einem Kommentar der Komponistin zu sehen und zu hören. Für die Oper ließ sie sich ein Libretto von dem wie sie in Paris lebenden libanesischen Schriftsteller Amin Maalouf schreiben. Gérard Mortier sorgte dafür, dass noch zwei weitere Opernhäuser in den Uraufführungsvertrag einstiegen, das Théâtre du Châtelet, Paris, und das Santa Fe Opera House. Inzwischen ist die Oper in allen großen Opernzentren gespielt worden, auch an der Met, in Berlin allerdings nur konzertant. In Helsinki sang wie in der Uraufführung Dawn Upshaw die Partie der Clémence, Jaufré Rudel ist Gerald Finley, es dirigiert Johanna Mälkki. Hier zu sehen.
Fünf weitere Werke für das Musiktheater schrieb Kaija Saariaho danach noch. Adriana Mater 2005, hier ein Documentary mit der Komponistin, die nächsten Bühnenaufführungen sind im Oktober in Rom. La passion de Simone (dabei geht es um das Leben der Simone Veil) 2006, eine Kammerversion gibt es hier. In Köln gibt es im Mai fünf Aufführungen einer Inszenierung von Friederike Blum. Das Monodrama Émilie 2008. Für diese drei Werke schrieb ebenfalls Amin Maalouf den Text.
Für das nächste Musiktheaterprojekt griffen Saariaho und Peter Sellars auf zwei japanische Noh-Spiele zurück, von denen es eine englische Übersetzung von Ezra Pound gibt. Der Titel des 2015 uraufgeführten Werks für Countertenor, Bassbariton, kleines Vokal- und kleines Instrumentalensemble lautet Only the Sound remains. Das letzte Bühnenwerk Saariahos ist Innocence, geschrieben 2018. Das Libretto schrieb die finnische Schriftstellerin und Dramatikerin Sofi Oksanen. Auch hier haben sich vier Institutionen zusammengetan, um den Auftrag zu erteilen, das Festival in Aix-en-Provence (wo auch 2021 die Uraufführung stattfand), die Niederländische Nationaloper, das San Francisco Opera House und die Finnische Nationaloper. Die Handlung entspinnt sich um eine Hochzeit in der Gegenwart Finnland, um die sich die nicht vergehende Erinnerung an ein Schulmassaker 10 Jahre früher rankt. Der Bruder des Bräutigams war der Schütze, der vor Kurzem aus der Haft entlassen wurde, wovon die Braut nichts weiß. Die Tochter der kurzfristig eingesprungenen Kellnerin war eine der zehn bei dem Massaker ums Leben gekommenen Schülerinnen und tritt als Geist immer wieder zwischen den Überlebenden auf. Zwischen den Hochzeitsszenen erzählt eine Lehrerin, was damals in der Schule passiert ist. Schließlich verlangt die Kellnerin von der Mutter des Bräutigams eine Erklärung, wodurch die Braut die Wahrheit und somit auch die Verwicklung des Bräutigams in das Massaker erfährt. Sie ist jedoch bereit zu verzeihen. Aber der Bräutigam kann sich nicht von seiner Vergangenheit lösen und entscheidet sich, sie zu verlassen. Es bleibt dem Geist der getöteten Schülerin vorbehalten, die Braut mit ihrem Gesang zu trösten. Die Partie der Makéta, der getöteten Schülerin wurde für und mit der Ethno-Pop-Künstlerin Vilma Jää entwickelt. Die Hochzeitsgäste werden von Opernsängern dargestellt, die SchülerInnen von SchauspielerInnenn. Es kam ein internationales Ensemble zusammen und Saariaho entschied, dass jeder in seiner Muttersprache singen und sprechen sollte. Daher wurden Teile des Librettos ins Tschechische (für Magdalena Kožená als Kellnerin), ins Rumänische (für Lilian Farahani als Braut), ins Französische (für Sandrine Piau als Schwiegermutter und Julie Hega als zweite Schülerin), ins Englische (für Lucy Shelton als Lehrerin), ins Schwedische (für Beate Mordal als zweite Schülerin), ins Deutsche für Simon Kluth als vierter Schüler), ins Spanische (für Camilo Delgado Díaz als fünften Schüler) und ins Greichische (für Marina Dumont als sechste Schülerin) übersetzt. Nur für den Bräutigam Tuomas (Markus Nykänen), den Schwiegervater Henrik (Tuomas Pursio), den Pfarrer (Jukka Rasilainen) und selbstverständlich für Vilma Jää war die finnische Originalsprache vorgesehen. In der Uraufführung in Aix sangen dann die Kellnerin, die Schwiegermutter, die Braut, Tuomas, Henrik und der Pfarrer teilweise auch englisch.
Das letzte Werk Saariahos, das Trompetenkonzert Hush, wurde am 24. August 2023 posthum in Helsinki uraufgeführt. Hier die Tonaufnahme davon.
Mehr von Kaija Saariaho am Mittwoch, ich freue mich darauf, diese musikalische Welt mit Ihnen zu entdecken.
Ihr Curt A. Roesler
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