Schon wieder Shakespeare! Aber ja, Verdi hat ihn nicht umsonst einmal den »Papa« genannt. Tatsächlich hat Oper ganz grundsätzlich einiges mit Shakespeare gemein. Das fängt damit an, dass geau zu der Zeit, als Shakespeare in London wirkte, in Florenz die Oper erfunden wurde. Vielleicht kommt es auch daher, dass einige der unzweifelhaft besten Werke ebensowenig die sogenannten Klassischen Einheiten berücksichtigen wie Shakespeares Bühnenwerke. Zwar haben die in diese Richtung zielenden Reformen mit Reduzierung von Personal und Beschränkung auf einen Zeitablauf innerhalb eines Tages ebenfalls Meisterwerke hervorgebracht wie Le nozze di Figaro, aber schon die französische Oper des 19. Jahrhunderts mit ihrer Vorliebe für historische Stoffe hat wieder mehr Schauplätze und Zeitsprünge hineingebracht. Daher also ja: Shakespeares spektakuläre (und meist mit reichlich Gesang ausgestattete) Bühnenshows sind das natürliche Vorbild für die Oper.
Schon die Hexenszene am Anfang von Macbeth schreit nach Musik. Man kann die erste Begegnung von Macbeth und Banquo mit den Hexen zwar auch ganz ohne Gesang machen wie in diesem Beispiel von 2013 an Shakespeare's Globe. Aber man kann davon ausgehen, dass die ersten Hexen (Männer auf jeden Fall, wie in manchen Schauspielinszenierungen auch heute noch) gesungen haben. Zwar vielleicht nicht gerade so, wie in dieser Komposition der zweiten Hexenszene von 1705, das ist nämlich Musik von fast hundert Jahren danach. Richard Leveridge (1670–1758) ist der Komponist, herausgegeben wurden die Songs, Airs & Chorusses for Macbeth später von dem berühmten Kirchenmusiker William Boyce (1711–1779), der auch mit David Garrick an dessen Theater zusammenarbeitete.
Macbeth wurde schon von den Zeitgenossen als ein besonders blutrünstiges Schauspiel angesehen und vielleicht deswegen erst 1611 aufgeführt, geschrieben wurde es nämlich schon um 1606. Das aber ist Spekulation, denn die Umsetzung der Geschichte enthält durchaus Aspekte, die James I. (dem Nachfolger Elizabeth I. und Schutzherrn Shakespeares) gefallen sollten. Macbeth ist die kürzeste Tragödie von Shakespeare. Liegt es daran, dass sie ganz oben auf der Liste der Schulstoffe steht? Außer den Kompositionen von Leveridge, die aus der Tragödie nach lange keine Oper machten, ist vor dem 19. Jahrhundert nichts bekannt, das zum Musiktheater führen würde. Und vor Verdi, der seinen Macbeth 1846/47 komponierte, findet man auch nur mit Mühe zwei französische Musiktheaterwerke von 1827 und 1829 mit dem Titel Macbeth.
Die erste stammt von Hippolyte André Jean Baptiste Chélard (1789–1861) und war offensichtlich ein Misserfolg. Die deutschsprachige Erstaufführung in München hingegen war ein Erfolg und bewegte den Komponisten, nach Deutschland auszuwandern, wo er weitere Erfolge feierte u. a. mit Die Hermannsschlacht (1835, München) feierte und schließlich 1840 als Hofkapellmeister in Weimar landete. Dort konnte er sich allerdings nicht gegen Franz Liszt behaupten und wurde frühpensioniert. Von seiner Musik hat sich kaum etwas erhalten, bei YouTube gibt es nur diesen Ausschnitt aus Macbeth von der »Oper im Knopfloch«. Wenn man die Tiefkühltruhe sieht, könnte man annehmen, dass sich der Regisseur von Sweeney Todd hat anregen lassen.
Das zweite ist ein »Mélodrame«, also ein Schauspiel mit Musik, von Victor Ducange und Anicet Bourgeois. Die Musik schrieb Louis Alexandre Piccinni (1779–1850), der Enkel des viel berühmteren Niccolò Piccinni, aber nicht einmal bei Wikipedia findet man dazu einen Hinweis. Das Théâtre de la porte Saint-Martin (das heute noch existiert), wo auch Anne-Honoré-Joseph Duveyrier, dit Mélesville und René-Charles-Guilbert de Pixérécourt wirkten, hat für viele Opern (z. B. La gazza ladra, oder Zar und Zimmermann), Ballette (La fille mal gardée) und Filme (Les enfants du paradis) Vorlagen und Anregungen geliefert.
Bis 1857 wurde Verdis Macbeth vermutlich nicht in Berlin gespielt (die deutschsprachige Erstaufführung ist in Wien 1849 dokumentiert), so konnte es der Königliche Musikdirektor Wilhelm Taubert (1811–1891) wagen, für die Hofoper einen eigenen Macbeth zu schreiben. Als Komponist war Taubert nicht sehr bedeutend. Ein Klavierstück, was er für Clara Schumann geschrieben hat, hat diese nie aufgeführt. Mit Liedern, Klavierstücken, vier Sinfonien und zwei Klavierkonzerten, von denen es bei YouTube einzelne Aufnahmen gibt, hatte er imerhin mäßigen Erfolg. Seine großen Verdienste erarbeitete er sich als Dirigent. Er gründete 1842 die »Symphonie-Soireen« der Hofkapelle, die er seither leitete. Gleich in der ersten Spielzeit brachte er darin Schumanns 1. Sinfonie zur Berliner Erstaufführung.
Einer, der Verdis Macbeth ganz bestimmt kannte, ist Lauro Rossi (1812–1885). Wer jemals bei den Opernfestspielen in Macerata war, kennt den Namen sicher, dort ist auch das Theater, wo Wettbewerbe stattfinden, nach ihm benannt. Und weiter kennt man ihn als einen der Autoren der »Messa per Rossini«, die von Ricordi und Verdi zum Jahrestag des Todes von Rossini von 12 anderen Komponisten bestellt, aber nicht aufgeführt wurde. Rossi trug das Agnus Dei bei. Von seinen etwa dreißig Opern wird heute so gut wie keine mehr gespielt. 1876/77 ließ er sich sein eigenes Libretto zu Macbeth von Frank Marshall, den Ehemann seiner Schülerin Mrs. Fitzinman Marshall, ins Englische übersetzen, damit er es für das Queen's Theatre fertig komponieren kann (Teile hatte er schon zwischen 1840 und 1860, also vor Verdi skizziert). Sie erfanden einen neuen Titel, Biorn, und verlegten die Handlung nach Norwegen. Mrs. Fitzinman Marshall sang Lady Elfrida in der Uraufführung und wurde von der Kritik als Amateur-Sängerin angesehen. Das Ganze war ein kompletter Misserfolg und nichts hat sich bis heute erhalten außer der Partitur, die in Neapel aufbewahrt wird.
Im 20. und 21. Jahrhundert folgen mindestens 10 Vertonungen der Tragödie Macbeth – und dazu natürlich Lady Macbeth vom Mzensker Kreis von Dmitri Schostakowitsch, die aber mit Shakespeare wenig zu tun hat. Es beginnt mit Ernest Bloch (1880–1859), einem völlig unterschätzten schweizerisch-amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Bekannt sind allenfalls Werke, die von jüdischer religiöser und Volksmusik inspiriert sind, wie Schelomo für Violoncello und Orchester, oder die Gottesdienst-Musik Avodath Hakodesh. Schon 1904 begann er die Arbeit an Macbeth, für den Edmond Fleg (1874–1963) das Libretto gestaltete. Fleg der später auch das Libretto für Œdipe für George Enescu schreiben sollte, orientierte sich eng an Shakespeare. Der dramaturgische Ablauf unterscheidet sich daher nicht sehr von Verdi, aber die Musik ist im Stil der Zeit, die Diktion etwa ganz ähnlich wie in Pelléas et Mélisande von Claude Debussy. Einer der sich zeitlebens für Bloch und sein Werk einsetzte, war Ernest Ansermet. 1960 nahm er mit seinem Orchestre de la Suisse Romande Ausschnitte aus Macbeth für die Schallplatte auf. Macbeth wurde von Heinz Rehfuss gesungen, Lady Macbeth von Lucienne Devallier, hier zu hören. Eine vollständige Aufführung kam im Grand Théâtre de Genève erst 1968 zustande, es dirigierte Pierre Colombo, Inge Borkh war Lady Macbeth und Nicola Rossi-Lemeni Macbeth, hier zu hören. Szenisch gibt es nur diesen Ausschnitt aus einer Aufführung des Chicago Opera Theatre von 2014. 1998 nahm das Theater Dortmund die Oper in ihr Repertoire auf. Bei der Gelegenheit ist eine CD-Aufnahme unter Leitung von Alexander Rumpf entstanden, die Sie bei Naxos-Music finden können.
Weitere Vertonungen im 20. Jahrhundert stammen von Lawrance Collingwood (London), Nicholas Comyn Gatty (vermutlich gar nicht aufgeführt), Aleksander Goedicke (Moskau), Sidney Halpern (New York), Herman David Koppel (Kopenhagen) und Babette Koblenz (Saarbrücken). Interessant wird es 1990 in Oslo: der italienisch-norwegische Komponist Antonio Bibalo (1922–2008) wagte sich an den Stoff. Auch er folgt Shakespeare recht genau, also die Abfolge der Szenen entspricht der bei Verdi und Bloch, aber es ist Musik des späten 20. Jahrhunderts. Die Uraufführung wurde dirigiert von Antonio Pappano (und zwar bevor er in der Berliner Staatsoper I Capuleti ed i Montecchi dirigierte, danach London ging und Weltkarriere machte) und inszeniert von Willy Decker, der wenig später an der Deutschen Oper Berlin Das Schloss von Aribert Reimann aus der Taufe hob. Hier eine Aufzeichnung des norwegischen Fernsehens.
Zwei herausragende Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, Salvatore Sciarrino (*1947) und Pascal Dusapin (*1955) haben sich in den ersten Jahrzehntes des gegenwärtigen Jahrhunderts mit dem Stoff auseinandergesetzt. Macbeth. Tre atti senza nome von Sciarrino kam 2002 in Schwetzingen heraus und ist inzwischen auch an der Berliner Staatsoper gespielt worden. Die Komposition folgt natürlich auch Shakespeare, ist aber viel mehr als frühere Vertonungen eine Klang- und Szenenfantasie über einzelne Stationen der Handlung. Noch weiter entfernt vom Gewohnten ist Pascal Dusapins Macbeth Underworld, 2019 in Brüssel herausgekommen und mit dem Opera Award für die beste Uraufführung 2020 ausgezeichnet. Es ist eine Paraphrase über den Stoff in acht Kapiteln, in denen der Pförtner aus der Tragödie Shakespeares eine größere Rolle spielt, ebenso der Geist Banquos und ein hinzuerdachter Bühnenmusiker. Die Oper von Sciarrino ist für die CD produziert worden und kann bei Streamingdiensten abgerufen werden. Von Dusapin wurde eine Aufzeichnung angekündigt, zu finden ist sie aber nicht.
Nun endlich zu Verdi. Macbeth, eine Oper, vier (bzw. fünf in der französischen Fassung) Akte, zehn Bilder, zwei Fassungen (oder drei, wenn man die letzte italienische Fassung dazuzählt). 1846/47 komponierte Verdi seine erste Shakespeare-Oper. Er erreichte damit einen ersten Höhepunkt seines Schaffens. Dass er teilweise gleichzeitig an seiner zweiten Schiller-Oper, I masnadieri, arbeitete, ging offensichtlich zuungunsten letzterer aus. Wenngleich man viel für Die Räuber als italienische Oper für den englischen Geschmack ins Feld führen kann, was den Einsatz der Singstimmen angeht, bedeutet sie einen Rückschritt in das Virtuosentum der »Belcanto-Oper«. 1865 bekam Verdi die Gelegenheit, Macbeth für eine Aufführung in Paris noch einmal gründlich zu überarbeiten. Die »Pariser Fassung« ist allerding – anders als Les vêpres siciliennes vorher und Don Carlos danach – nicht auf einen französischen Text komponiert, sondern eine ins Französische übertragene italienische Oper. Und selbst das Ballett, das für Paris – außer in der Opéra-Comique – unerlässlich war, ist kein Zusatz, sondern eine Ergänzung zu einer schon vorhandenen und auch mit Tänzern auszuführenden Szene. Es war allerdings auch nicht das Ballet der Académie impériale de la musique, sondern das Ballett des Théâtre-Lyrique. Außer dem neu komponierten Ballett in der zweiten Hexenszene unterscheiden sich die beiden Fassungen an drei entscheidenden Stellen: in der Arie der Lady Macbeth im zweiten Akt, am Schluss des dritten Aktes und ganz am Schluss. Alles kann durchaus als Verbesserung angesehen werden, aber urteilen Sie selbst:
»La luce langue«, die Arie der Lady im 2. Akt hier gesungen von einer der beeindruckendsten Interpretinnen der Partie, Maria Callas. So kennt man die Arie, so hat sie Verdi 1865 komponiert und dann ins Französische übersetzen lassen. Sie ersetzt diese Arie, die noch ganz den 1840er Jahren verhaftet ist, hier gesungen im Konzert von Klára Kolonits, in einem Amateurvideo festgehalten. – Im Finale des 3. Aktes trat 1847 Lady nicht auf, es endete mit dieser Soloszene des Macbeth, hier gesungen von Thomas Hampson. Auch dies eine Cabaletta wie Verdi sie nach Il Trovatore nicht mehr komponiert hat. Sie wurde durch ein weiteres Duett mit Lady Macbeth ersetzt, hier in einer französischsprachigen Aufnahme mit Ludovic Tézier und Silvia della Benetta. – Und jetzt noch der Schluss: Hier die ganze letzte Szene mit der Arie des Macbeth, dem Kampf auf der Bühne und dem Tod des Macbeth in einer Auffürhung des ROH Covent Garden mit Simon Keenlyside, leider fehlen am Schluss ein paar Takte. 1865 entschloss sich Verdi, es doch genau so zu machen wie Shakespeare, Malcolm und Macbeth eilen von der Bühne um sich zu Duellieren, wir hören nur den Kriegslärm und dann den Siegestaumelderer, die sich von Macbeth befreit haben, so.
An Gesamtaufnahmen von Verdis Macbeth ist auf YouTube kein Mangel, daher hier ein kleiner Leitfaden. Einige von Ihnen werden sich vielleicht gerne an die Sensation der Spielzeit 1979/80 an der Deutschen Oper Berlin erinnern. Giuseppe Sinopoli hatte hier seinen Durchbruch als Dirigent mit Macbeth. Renato Bruson sang den Macbeth, Olivia Stapp die Lady. Der Chor, einstudiert von Walter Hagen-Groll, hing an der Spitze seines Taktstocks. Die Inszenierung stammte von Luca Ronconi, die Ausstattung war von Luciano Damiani, der wenig später auch selbst als Regisseur in Erscheinung trat. Ein paar Jahre später wurde die Aufführung vom Fernsehen aufgezeichnet und vielfach ausgestrahlt. Sie finden sie hier.
Ein Gegenbild zu Sinopoli bietet Claudio Abbado. Dessen Aufführung an der Scala 1975 mit Piero Cappuccilli und Shirley Verrett wurde auch vom Fernsehen aufgezeichnet, Giorgio Strehler führte Regie, Bühne und Kostüme sind ebenfalls von Luciano Damiani. Die Inszenierung finden Sie hier.
Sie suchen etwas Neueres? Hier Thomas Hampson und Paoletta Marrocu in Zürich 2001. Franz Welser-Möst dirigiert, David Pountney inszenierte in Bühnenbildern von Stefanos Lazaridis. Oder eine Inszenierung von Christof Loy, 2016 in Barcelona, hier.
Sie wollen eine Gesamtaufnahme mit Maria Callas? Hier, bitte, natürlich nur Ton, Mittelwellenübertragung, aber mit Partitur. Meine Lieblingsaufnahme Schallplatte/CD? Das ist die von Erich Leinsdorf mit dem Chor und Orchester der Metropolitan Opera. Leonie Rysanek singt die Lady, Leonard Warren den Macbeth, ein unvergleichliches Paar. Hier die Playlist.
Diese Aufnahmen folgen alle der Fassung von 1865, sind aber in
italienischer Sprache (ach ich vergaß noch eine Tonaufnahme in deutscher Sprache aus Wien 1943, Karl Böhm am Pult, Elisabeth Höngen und Mathieu Ahlersmeyer als Solisten, leicht gekürzt auf unter zwei Stunden, hier). Wenn Sie den ganzen Macbeth in französischer Sprache hören wollen, dann gibt es diese Playlist. Ludovic Tézier, der auch in Barcelona (in italienischer Sprache) zu hören ist, ist hier Macbeth. Roberto Abbado ist aber nicht zu verwechseln mit seinem Onkel Claudio Abbado. Das ist genau die Musik, die 1865 in Paris erklungen ist. Die anderen folgen der mit Verdis Einverständnis herausgegebenen italienischen Fassung aus den 1880er Jahren. Manchmal ist das Ballett dabei, manchmal nicht. Und natürlich gibt es auch Mischfassungen, z. B. diese Aufführung des Savonlinna-Festivals 1993 verwendet den Schluss von 1847, sonst aber folgt es der späteren Fassung.
Aber wo bleibt jetzt die Fassung von 1847? Die wurde 1997 beim Festival Valle d'Itria in Martina Franca gespielt und für CD aufgezeichnet. Hier eine Playlist, aber Vorsicht, sie ist mit unmöglich langen Werbefilmen zersetzt, einfach weiterklicken! Diese Aufführung der Nationaloper Mexico von 2020 folgt ebenfalls der Fassung von 1847.
Am Mittwoch mehr davon,
Ihr Curt A. Roesler