Montag, 18. November 2024

Macbeth

Schon wieder Shakespeare! Aber ja, Verdi hat ihn nicht umsonst einmal den »Papa« genannt. Tatsächlich hat Oper ganz grundsätzlich einiges mit Shakespeare gemein. Das fängt damit an, dass geau zu der Zeit, als Shakespeare in London wirkte, in Florenz die Oper erfunden wurde. Vielleicht kommt es auch daher, dass einige der unzweifelhaft besten Werke ebensowenig die sogenannten Klassischen Einheiten berücksichtigen wie Shakespeares Bühnenwerke. Zwar haben die in diese Richtung zielenden Reformen mit Reduzierung von Personal und Beschränkung auf einen Zeitablauf innerhalb eines Tages ebenfalls Meisterwerke hervorgebracht wie Le nozze di Figaro, aber schon die französische Oper des 19. Jahrhunderts mit ihrer Vorliebe für historische Stoffe hat wieder mehr Schauplätze und Zeitsprünge hineingebracht. Daher also ja: Shakespeares spektakuläre (und meist mit reichlich Gesang ausgestattete) Bühnenshows sind das natürliche Vorbild für die Oper.

Schon die Hexenszene am Anfang von Macbeth schreit nach Musik. Man kann die erste Begegnung von Macbeth und Banquo mit den Hexen zwar auch ganz ohne Gesang machen wie in diesem Beispiel von 2013 an Shakespeare's Globe. Aber man kann davon ausgehen, dass die ersten Hexen (Männer auf jeden Fall, wie in manchen Schauspielinszenierungen auch heute noch) gesungen haben. Zwar vielleicht nicht gerade so, wie in dieser Komposition der zweiten Hexenszene von 1705, das ist nämlich Musik von fast hundert Jahren danach. Richard Leveridge (1670–1758) ist der Komponist, herausgegeben wurden die Songs, Airs & Chorusses for Macbeth später von dem berühmten Kirchenmusiker William Boyce (1711–1779), der auch mit David Garrick an dessen Theater zusammenarbeitete.

Macbeth wurde schon von den Zeitgenossen als ein besonders blutrünstiges Schauspiel angesehen und vielleicht deswegen erst 1611 aufgeführt, geschrieben wurde es nämlich schon um 1606. Das aber ist Spekulation, denn die Umsetzung der Geschichte enthält durchaus Aspekte, die James I. (dem Nachfolger Elizabeth I. und Schutzherrn Shakespeares) gefallen sollten. Macbeth ist die kürzeste Tragödie von Shakespeare. Liegt es daran, dass sie ganz oben auf der Liste der Schulstoffe steht? Außer den Kompositionen von Leveridge, die aus der Tragödie nach lange keine Oper machten, ist vor dem 19. Jahrhundert nichts bekannt, das zum Musiktheater führen würde. Und vor Verdi, der seinen Macbeth 1846/47 komponierte, findet man auch nur mit Mühe zwei französische Musiktheaterwerke von 1827 und 1829 mit dem Titel Macbeth

Die erste stammt von Hippolyte André Jean Baptiste Chélard (1789–1861) und war offensichtlich ein Misserfolg. Die deutschsprachige Erstaufführung in München hingegen war ein Erfolg und bewegte den Komponisten, nach Deutschland auszuwandern, wo er weitere Erfolge feierte u. a. mit Die Hermannsschlacht (1835, München) feierte und schließlich 1840 als Hofkapellmeister in Weimar landete. Dort konnte er sich allerdings nicht gegen Franz Liszt behaupten und wurde frühpensioniert. Von seiner Musik hat sich kaum etwas erhalten, bei YouTube gibt es nur diesen Ausschnitt aus Macbeth von der »Oper im Knopfloch«. Wenn man die Tiefkühltruhe sieht, könnte man annehmen, dass sich der Regisseur von Sweeney Todd hat anregen lassen.

Das zweite ist ein »Mélodrame«, also ein Schauspiel mit Musik, von Victor Ducange und Anicet Bourgeois. Die Musik schrieb Louis Alexandre Piccinni (1779–1850), der Enkel des viel berühmteren Niccolò Piccinni, aber nicht einmal bei Wikipedia findet man dazu einen Hinweis. Das Théâtre de la porte Saint-Martin (das heute noch existiert), wo auch Anne-Honoré-Joseph Duveyrier, dit Mélesville und René-Charles-Guilbert de Pixérécourt wirkten, hat für viele Opern (z. B. La gazza ladra, oder Zar und Zimmermann), Ballette (La fille mal gardée) und Filme (Les enfants du paradis) Vorlagen und Anregungen geliefert.

Bis 1857 wurde Verdis Macbeth vermutlich nicht in  Berlin gespielt (die deutschsprachige Erstaufführung ist in Wien 1849 dokumentiert), so konnte es der Königliche Musikdirektor Wilhelm Taubert (1811–1891) wagen, für die Hofoper einen eigenen Macbeth zu schreiben. Als Komponist war Taubert nicht sehr bedeutend. Ein Klavierstück, was er für Clara Schumann geschrieben hat, hat diese nie aufgeführt. Mit Liedern, Klavierstücken, vier Sinfonien und zwei Klavierkonzerten, von denen es bei YouTube einzelne Aufnahmen gibt, hatte er imerhin mäßigen Erfolg. Seine großen Verdienste erarbeitete er sich als Dirigent. Er gründete 1842 die »Symphonie-Soireen« der Hofkapelle, die er seither leitete. Gleich in der ersten Spielzeit brachte er darin Schumanns 1. Sinfonie zur Berliner Erstaufführung.

Einer, der Verdis Macbeth ganz bestimmt kannte, ist Lauro Rossi (1812–1885). Wer jemals bei den Opernfestspielen in Macerata war, kennt den Namen sicher, dort ist auch das Theater, wo Wettbewerbe stattfinden, nach ihm benannt. Und weiter kennt man ihn als einen der Autoren der »Messa per Rossini«, die von Ricordi und Verdi zum Jahrestag des Todes von Rossini von 12 anderen Komponisten bestellt, aber nicht aufgeführt wurde. Rossi trug das Agnus Dei bei. Von seinen etwa dreißig Opern wird heute so gut wie keine mehr gespielt. 1876/77 ließ er sich sein eigenes Libretto zu Macbeth von Frank Marshall, den Ehemann seiner Schülerin Mrs. Fitzinman Marshall, ins Englische übersetzen, damit er es für das Queen's Theatre fertig komponieren kann (Teile hatte er schon zwischen 1840 und 1860, also vor Verdi skizziert). Sie erfanden einen neuen Titel, Biorn, und verlegten die Handlung nach Norwegen. Mrs. Fitzinman Marshall sang Lady Elfrida in der Uraufführung und wurde von der Kritik als Amateur-Sängerin angesehen. Das Ganze war ein kompletter Misserfolg und nichts hat sich bis heute erhalten außer der Partitur, die in Neapel aufbewahrt wird.

Im 20. und 21. Jahrhundert folgen mindestens 10 Vertonungen der Tragödie Macbeth – und dazu natürlich Lady Macbeth vom Mzensker Kreis von Dmitri Schostakowitsch, die aber mit Shakespeare wenig zu tun hat. Es beginnt mit Ernest Bloch (1880–1859), einem völlig unterschätzten schweizerisch-amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Bekannt sind allenfalls Werke, die von jüdischer religiöser und Volksmusik inspiriert sind, wie Schelomo für Violoncello und Orchester, oder die Gottesdienst-Musik Avodath Hakodesh. Schon 1904 begann er die Arbeit an Macbeth, für den Edmond Fleg (1874–1963) das Libretto gestaltete. Fleg der später auch das Libretto für Œdipe für George Enescu schreiben sollte, orientierte sich eng an Shakespeare. Der dramaturgische Ablauf unterscheidet sich daher nicht sehr von Verdi, aber die Musik ist im Stil der Zeit, die Diktion etwa ganz ähnlich wie in Pelléas et Mélisande von Claude Debussy. Einer der sich zeitlebens für Bloch und sein Werk einsetzte, war Ernest Ansermet. 1960 nahm er mit seinem Orchestre de la Suisse Romande Ausschnitte aus Macbeth für die Schallplatte auf. Macbeth wurde von Heinz Rehfuss gesungen, Lady Macbeth von Lucienne Devallier, hier zu hören. Eine vollständige Aufführung kam im Grand Théâtre de Genève erst 1968 zustande, es dirigierte Pierre Colombo, Inge Borkh war Lady Macbeth und Nicola Rossi-Lemeni Macbeth, hier zu hören. Szenisch gibt es nur diesen Ausschnitt aus einer Aufführung des Chicago Opera Theatre von 2014. 1998 nahm das Theater Dortmund die Oper in ihr Repertoire auf. Bei der Gelegenheit ist eine CD-Aufnahme unter Leitung von Alexander Rumpf entstanden, die Sie bei Naxos-Music finden können.

Weitere Vertonungen im 20. Jahrhundert stammen von Lawrance Collingwood (London), Nicholas Comyn Gatty (vermutlich gar nicht aufgeführt), Aleksander Goedicke (Moskau), Sidney Halpern (New York), Herman David Koppel (Kopenhagen) und Babette Koblenz (Saarbrücken). Interessant wird es 1990 in Oslo: der italienisch-norwegische Komponist Antonio Bibalo (1922–2008) wagte sich an den Stoff. Auch er folgt Shakespeare recht genau, also die Abfolge der Szenen entspricht der bei Verdi und Bloch, aber es ist Musik des späten 20. Jahrhunderts. Die Uraufführung wurde dirigiert von Antonio Pappano (und zwar bevor er in der Berliner Staatsoper I Capuleti ed i Montecchi dirigierte, danach London ging und Weltkarriere machte) und inszeniert von Willy Decker, der wenig später an der Deutschen Oper Berlin Das Schloss von Aribert Reimann aus der Taufe hob. Hier eine Aufzeichnung des norwegischen Fernsehens.

Zwei herausragende Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, Salvatore Sciarrino (*1947) und Pascal Dusapin (*1955) haben sich in den ersten Jahrzehntes des gegenwärtigen Jahrhunderts mit dem Stoff auseinandergesetzt. Macbeth. Tre atti senza nome von Sciarrino kam 2002 in Schwetzingen heraus und ist inzwischen auch an der Berliner Staatsoper gespielt worden. Die Komposition folgt natürlich auch Shakespeare, ist aber viel mehr als frühere Vertonungen eine Klang- und Szenenfantasie über einzelne Stationen der Handlung. Noch weiter entfernt vom Gewohnten ist Pascal Dusapins Macbeth Underworld, 2019 in Brüssel herausgekommen und mit dem Opera Award für die beste Uraufführung 2020 ausgezeichnet. Es ist eine Paraphrase über den Stoff in acht Kapiteln, in denen der Pförtner aus der Tragödie Shakespeares eine größere Rolle spielt, ebenso der Geist Banquos und ein hinzuerdachter Bühnenmusiker. Die Oper von Sciarrino ist für die CD produziert worden und kann bei Streamingdiensten abgerufen werden. Von Dusapin wurde eine Aufzeichnung angekündigt, zu finden ist sie aber nicht.

Nun endlich zu Verdi. Macbeth, eine Oper, vier (bzw. fünf in der französischen Fassung) Akte, zehn Bilder, zwei Fassungen (oder drei, wenn man die letzte italienische Fassung dazuzählt). 1846/47 komponierte Verdi seine erste Shakespeare-Oper. Er erreichte damit einen ersten Höhepunkt seines Schaffens. Dass er teilweise gleichzeitig an seiner zweiten Schiller-Oper, I masnadieri, arbeitete, ging offensichtlich zuungunsten letzterer aus. Wenngleich man viel für Die Räuber als italienische Oper für den englischen Geschmack ins Feld führen kann, was den Einsatz der Singstimmen angeht, bedeutet sie einen Rückschritt in das Virtuosentum der »Belcanto-Oper«. 1865 bekam Verdi die Gelegenheit, Macbeth für eine Aufführung in Paris noch einmal gründlich zu überarbeiten. Die »Pariser Fassung« ist allerding – anders als Les vêpres siciliennes vorher und Don Carlos danach – nicht auf einen französischen Text komponiert, sondern eine ins Französische übertragene italienische Oper. Und selbst das Ballett, das für Paris – außer in der Opéra-Comique – unerlässlich war, ist kein Zusatz, sondern eine Ergänzung zu einer schon vorhandenen und auch mit Tänzern auszuführenden Szene. Es war allerdings auch nicht das Ballet der Académie impériale de la musique, sondern das Ballett des Théâtre-Lyrique. Außer dem neu komponierten Ballett in der zweiten Hexenszene unterscheiden sich die beiden Fassungen an drei entscheidenden Stellen: in der Arie der Lady Macbeth im zweiten Akt, am Schluss des dritten Aktes und ganz am Schluss. Alles kann durchaus als Verbesserung angesehen werden, aber urteilen Sie selbst: 

»La luce langue«, die Arie der Lady im 2. Akt hier gesungen von einer der beeindruckendsten Interpretinnen der Partie, Maria Callas. So kennt man die Arie, so hat sie Verdi 1865 komponiert und dann ins Französische übersetzen lassen. Sie ersetzt diese Arie, die noch ganz den 1840er Jahren verhaftet ist, hier gesungen im Konzert von Klára Kolonits, in einem Amateurvideo festgehalten. – Im Finale des 3. Aktes trat 1847 Lady nicht auf, es endete mit dieser Soloszene des Macbeth, hier gesungen von Thomas Hampson. Auch dies eine Cabaletta wie Verdi sie nach Il Trovatore nicht mehr komponiert hat. Sie wurde durch ein weiteres Duett mit Lady Macbeth ersetzt, hier in einer französischsprachigen Aufnahme mit Ludovic Tézier und Silvia della Benetta. – Und jetzt noch der Schluss: Hier die ganze letzte Szene mit der Arie des Macbeth, dem Kampf auf der Bühne und dem Tod des Macbeth in einer Auffürhung des ROH Covent Garden mit Simon Keenlyside, leider fehlen am Schluss ein paar Takte. 1865 entschloss sich Verdi, es doch genau so zu machen wie Shakespeare, Malcolm und Macbeth eilen von der Bühne um sich zu Duellieren, wir hören nur den Kriegslärm und dann den Siegestaumelderer, die sich von Macbeth befreit haben, so.

An Gesamtaufnahmen von Verdis Macbeth ist auf YouTube kein Mangel, daher hier ein kleiner Leitfaden. Einige von Ihnen werden sich vielleicht gerne an die Sensation der Spielzeit 1979/80 an der Deutschen Oper Berlin erinnern. Giuseppe Sinopoli hatte hier seinen Durchbruch als Dirigent mit Macbeth. Renato Bruson sang den Macbeth, Olivia Stapp die Lady. Der Chor, einstudiert von Walter Hagen-Groll, hing an der Spitze seines Taktstocks. Die Inszenierung stammte von Luca Ronconi, die Ausstattung war von Luciano Damiani, der wenig später auch selbst als Regisseur in Erscheinung trat. Ein paar Jahre später wurde die Aufführung vom Fernsehen aufgezeichnet und vielfach ausgestrahlt. Sie finden sie hier.

Ein Gegenbild zu Sinopoli bietet Claudio Abbado. Dessen Aufführung an der Scala 1975 mit Piero Cappuccilli und Shirley Verrett wurde auch vom Fernsehen aufgezeichnet, Giorgio Strehler führte Regie, Bühne und Kostüme sind ebenfalls von Luciano Damiani. Die Inszenierung finden Sie hier.

Sie suchen etwas Neueres? Hier Thomas Hampson und Paoletta Marrocu in Zürich 2001. Franz Welser-Möst dirigiert, David Pountney inszenierte in Bühnenbildern von Stefanos Lazaridis. Oder eine Inszenierung von Christof Loy, 2016 in Barcelona, hier.

Sie wollen eine Gesamtaufnahme mit Maria Callas? Hier, bitte, natürlich nur Ton, Mittelwellenübertragung, aber mit Partitur. Meine Lieblingsaufnahme Schallplatte/CD? Das ist die von Erich Leinsdorf mit dem Chor und Orchester der Metropolitan Opera. Leonie Rysanek singt die Lady, Leonard Warren den Macbeth, ein unvergleichliches Paar. Hier die Playlist.

Diese Aufnahmen folgen alle der Fassung von 1865, sind aber in italienischer Sprache (ach ich vergaß noch eine Tonaufnahme in deutscher Sprache aus Wien 1943, Karl Böhm am Pult, Elisabeth Höngen und Mathieu Ahlersmeyer als Solisten, leicht gekürzt auf unter zwei Stunden, hier). Wenn Sie den ganzen Macbeth in französischer Sprache hören wollen, dann gibt es diese Playlist. Ludovic Tézier, der auch in Barcelona (in italienischer Sprache) zu hören ist, ist hier Macbeth. Roberto Abbado ist aber nicht zu verwechseln mit seinem Onkel Claudio Abbado. Das ist genau die Musik, die 1865 in Paris erklungen ist. Die anderen folgen der mit Verdis Einverständnis herausgegebenen italienischen Fassung aus den 1880er Jahren. Manchmal ist das Ballett dabei, manchmal nicht. Und natürlich gibt es auch Mischfassungen, z. B. diese Aufführung des Savonlinna-Festivals 1993 verwendet den Schluss von 1847, sonst aber folgt es der späteren Fassung.

Aber wo bleibt jetzt die Fassung von 1847? Die wurde 1997 beim Festival Valle d'Itria in Martina Franca gespielt und für CD aufgezeichnet. Hier eine Playlist, aber Vorsicht, sie ist mit unmöglich langen Werbefilmen zersetzt, einfach weiterklicken! Diese Aufführung der Nationaloper Mexico von 2020 folgt ebenfalls der Fassung von 1847.

Am Mittwoch mehr davon,
Ihr Curt A. Roesler


Montag, 11. November 2024

Sweeney Todd

Wenn wir annehmen, dass Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny eine Oper ist und nicht ein Schauspiel mit Musik oder ein Musical und daher ins Opernhaus gehört, gehört auch Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street ins Opernhaus. Zur Erinnerung: die Definition von Mahagonny als Oper im Gegensatz zur Dreigroschenoper als Schauspiel mit Musik, entspringt einer Absprache zwischen den Erben Brechts und Weills. Beide Stücke wurden am Ende der Weimarer Republik auf dem Ku'damm als Schauspielproduktionen herausgebracht.

In einer Serie von »Penny dreadfuls« (Groschenromanen) taucht Sweeney Todd 1846 erstmals auf. Als Autoren werden Thomas Peckett Prest (1810–1859) und James Malcolm Rymer (1815–1889) genannt, der eine begann seine Karriere als Musiker, der andere als Ingenieur und Verlagsmitarbeiter. The String of Pearls hieß die Serie, die 1850 auch in einem Buch zusammengefasst erschien. Da allerdings war Sweeney Todd bereits eine bekannte Bühnenfigur. 1847, gleich nach Erscheinen der ersten Folgen, hatte George Dibdin-Pitt im Britannia Theatre im Norden Londons ein Theaterstück The String of Pearls herausgegeben, das auch unserem Musical letztlich zugrunde liegt. Schon 1926 drehte George Dewhurst einen Kurzfilm Sweeney Todd nach der Dramatisierung Dibdin-Pitts, 1928 kam dann der britische Stummfilm von Walter West, den Sie hier (nicht ganz vollständig) sehen können. 1936 drehte George King den ersten Tonfilm mit wunderbaren Cockney-Dialogen, hier (vermutlich auch nicht ganz vollständig) zu sehen mit dem auf Verbrecher spezialisierten Tod Slaughter in der Titelrolle. Britische Fernsehfassungen folgten 1947 und 1970. 1970 endlich auch ein amerikanischer Horrofilm, Bloodthirsty Butchers. Im gleichen Jahr brachte der Schauspieler und Regisseur Christopher Bond im Victoria-Theater in Stoke-on-Trent (Stadt zwischen Birmingham und Liverpool) eine moderne Adaption des Stückes von Dibdin-Pitt heraus, die Sondheim 1973 kennenlernte. Das Musical (von Sondheim in einem Interview als »tiefschwarze Operette« bezeichnet) kam am 1. März 1979 im Uris Theatre am Broadway heraus und brachte es in 16 Monaten auf 557 Aufführungen. Neun Tony-Awards gewann das Musical 1979. Angela Lansbury musste erst überredet werden, die Rolle der Mrs. Lovett zu übernehmen. Da würde sie ja nur die »second banana« spielen, soll sie gesagt haben, denn die Hauptfigur sei und bleibe ja Sweeney Todd. Ein Amateurfilm hält die Uraufführungsproduktion hier fest.

Wie Roméo et Juliette beginnt Sweeney Todd mit einem Prolog: »Hört die Geschichte von Sweeney Todd, dem teuflischen Barbier aus der Fleet Street«. The ballad of Sweeney Todd, hier zu sehen bei einer Show zum Tony Award, erfährt nicht weniger als sieben Reprisen im Laufe des Stückes, zuletzt als Epilog. Warum auch nicht? Es ist wirklich gute Musik. Der von dem korrupten Richter Turpin einst nach Australien verbannte Barbier Benjamin kehrt unerkannt nach London zurück. Wenn man Johnny Depp im Kinofilm von 2007 so auf dem Schiff sieht, denkt man unwillkürlich an die Karibik, aber nein, im Hintergrund ist die Tower Bridge zu sehen. Er erzählt seinem Matrosen Anthony die Geschichte »A Barber and his wife«. Hier der Clip aus dem Film. Depp geht glatt als Engländer durch. Danach sehen wir Mrs. Lovett, die dem Unbekannten, der sich Sweeney Todd nennt, »The worst Pies of London« anbietet. Hier Angela Lansbury in der Original-Broadway-Produktion. Von ihr erfährt er, was mit Lucy passierte, als Richter Turpin deren Mann Benjamin mit falschen Anschuldigungen in die Verbannung schickte: Er hat sie vergewaltigt, sie hat sich, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, vergiftet – »Poor thing« hier gesungen von Caryn Stringer am Prager Nationaltheater 2012. Johanna, das Kind Lucys (Johanna, wir werden sie gleich kennenlernen) wurde Turpins Mündel. Mrs. Lovett reicht Todd die scharfen Rasiermesser ihres früheren Nachbarn – »These are my friends«, hier aus einer Konzertaufführung 2001 in San Francisco mit George Hearn und Patti LuPone. Todd lässt jetzt durchblicken, dass er Benjamin ist. Unter seinem neuen Namen Sweeney Todd will er Rache nehmen, Gelegenheit für die erste Reprise der »Ballad«. Auftritt Johanna, die in einem Lied das Schicksal eingesperrter Vögel beklagt – »Green Finch and Linnet Bird«, hier gesungen von Cassandra Lemoine in einer Aufführung der Königlichen Oper in Kopenhagen. Von einer Bettlerin erfährt Anthony den Namen des Mädchens, in das er sich sofort verliebt hat, »Johanna« – so gesungen von Jamie Muscato in einer Produktion der Welsh National Opera 2015. Ein italienischer Barbier erscheint mit seinem Assistenten Toby. Sie bieten ein Elixir an, das jedem in kürzester Zeit eine glatte Haut verschaffen soll. Todd geht jedoch eine Wette ein, dass er mit seinem Rasiermesser schneller ist. Natürlich gewinnt er die Wette, wie hier in der New York Philharmonic bewiesen mit Kyle Brenn (Toby), Christian Borle (Pirelli), Bryn Terfel (Sweeney Todd) und Emma Thompson (Mrs. Lovett). Richter Turpin hat Schuldgefühle, weil er scharf auf Johanna ist, erst geißelt er sich, aber dann will er sein Mündel doch lieber einfach heiraten: »Johanna – Mea Culpa«, hier gesungen von Philip Quast. Todd lässt in seinem Barbershop Anthony sich und Johanna verstecken. Inzwischen entpuppt sich Pirelli als der einstige Assistent von Benjamin, der Todd an den Rasiermessern, die er benutzt, als diesen erkannt hat. Er will ihn erpressen, doch Todd schneidet ihm die Kehle durch. Das ist schon die Gelegenheit für die dritte Reprise der Ballade von Sweeney Todd. Anthony und Johanna bereiten inszwischen ihre Flucht vor während der Assistent Richter Turpins, Beard, Boden für seinen Meister gutzumachen versucht. »Kiss Me« und »Ladies in Their Sensitivities«, hier in der halbszenischen Aufführung von San Francisco 2001. Bleibt das Problem, wie der Tote wegzuschaffen ist. Bald (im zweiten Akt) gibt es weitere Tote, weil Todd nun durch Beard, Turpin und Anthony so in Rage gerät, dass er sich entschließt, an allen Londonern Rache zu nehmen. Mrs. Lovett hat die rettende Idee, alle in ihren Meat-Pies zu verarbeiten. »Epiphany« (hier hat jemand einen Interpretationsvergleich aufgestellt) und »A Little Priest«, Finale des 1. Aktes, hier Emma Thompson und Bryn Terfel.

Nach einigen Wochen ist aus dem Pie-Shop der Mrs. Lovett dank der neuen Geschmacksrichtung ein Bombengeschäft geworden. »God That's Good«. Sweeney Todd wird auf der ganzen Welt gespielt, siehe hier. Das Einzige, was Todd außer seiner Rache noch interessiert, ist, seine Tochter Johanna wiederzusehen. Auch Anthony sehnt sich nach ihr. Nebenbei aber beklagt sich die Bettlerin schon über seltsame Gerüche aus dem Pie-Shop. »Johanna (Quartet)«. Hier in der New Yorker Aufführung von 2014, aus der wir schon andere Ausschnitte gesehen haben. Derweil träumt Mrs. Lovett von einem Leben am Meer mit Todd. Hier ein Clip aus dem Film mit Johnny Depp. Anthony findet heraus, dass Johanna in einer Nervenheilanstalt festgehalten wird. Tobias, der Assistent Pirellis, ahnt, dass etwas mit Todd nicht stimmt, deswegen gibt er vor, Mrs. Lovett beschützen zu wollen: »Not while I'm around«, hier gesungen von Neil Patrick Harris in einer halbszenischen Aufführung mit Patti LuPone als Mrs. Lovett. Beadle, der Assistent des Richters Turpin soll den Pie Shop untersuchen, in ihrer Wohnung macht er sich am Harmonium zu schaffen und wird beim ausprobieren von entsprechenden »Parlor Songs« überrascht, hier die offizielle CD von der Originalproduktion. Der eine oder andere Dirigient sollte sich das vielleicht einmal anhören, bevor er sein Tempo angibt. (Es wird meist viel zu langsam intoniert.) Todd bietet Beadle eine Gratisrasur an, wir ahnen mit welchem Ausgang. Vom neuen Rasierstuhl fällt er direkt in den Keller. Nun hat Tobias den Beweis, Mrs. Lovett und Todd verabreden den Tod des unbequemen Zeugen. Inzwischen passiert ein anderer Mord. Anthony hat Johanna gefunden und auf der Flucht erschießt sie den Direktor der Nervenheilanstalt. Die Bettlerin sieht den Weltuntergang kommen: »City on Fire«, hier in einem Bewerbungsvideo mit Klavierbegleitung. Jetzt überstürzen sich die Ereignisse, die kaum in Worte zu fassen sind. Todd bringt wie erwartet Richter Turpin um, dann stellt sich heraus, dass die Bettlerin in Wahrheit Benjamins Frau Lucy ist und Todd wird auch wütend auf Mrs. Lovett, weil sie ihn offensichtlich angelogen hat. Er bingt sie um, ihm wird aber schließlich vom verrückt gewordenen Tobias mit seinem eigenen Rasiermesser auch der Hals aufgeschlitzt. Nach Mrs. Lovetts Rezept fängt Tobias nun an, Pies mit Menschenfleisch zu fabrizieren. Für einen Epilog kommen alle wieder, und sie singen die siebte und letzte Reprise der Ballad of Sweeney Todd. Hier noch einmal die Auführung der New York Philharmonic.

Wie jedes erfolgreiche Broadway-Musical kam auch Sweeney Todd sehr schnell an ein Theater im Londoner West End. Und wie üblich war dies eine Übertragung der Originalproduktion, aber mit vollem Probenprozess unter der Leitung des ursprünglichen Teams, hier also mit dem Regisseur Harold Prince. Diese Londoner Produktion wurde 1980 von einem Fernsehteam dokumentiert, wie sie hier sehen können. Stephen Sondheim wird darin ebenso ausführlich interviewt wie Christopher Bond.

Eine halbszenische Aufführung im New York City Centre 2001 mit dem San Francisco Symphony Orchestra mit George Hearn und Patti LuPone in den Hauptrollen und keinem Geringeren als John Aler als Beard hob das Werk in die Spähre der Klassik (hier eine Aufführung aus San Francisco). Aber spätestens seit Bryn Terfel (auch in einer halbszenischen Aufführung der New York Philharmonic unter Alan Gilbert) die Titelpartie übernahm (hier komplett zu sehen), reißen sich die großen Opernhäuser darum, das Werk zu präsentieren. Das Problem ist dabei nur, dass man Aufführungsrechte in der Regel nur bekommt, wenn man sich genauestens an die Bühnenanweisungen hält. Ein Regisseur in dem Sinne, wie wir das verstehen, ist also überflüssig, es reicht ein erfahrener Spielleiter. Den Kinofilm mit Johnny Depp bekommen Sie als DVD bzw. BD oder auch bei verschiedenen Streamingdiensten.

Am Mittwoch mehr davon, es hat wieder großen Spaß gemacht, das alles herauszusuchen.
Ihr Curt A. Roesler

Montag, 4. November 2024

Roméo et Juliette

Die unsterblichen Liebenden von Verona haben Vorgänger in der Antike. Das babylonische Liebespaar Pyramus und Thisbe fand durch Ovid Eingang in die Weltliteratur. Ihre Kommunikation durch einen Spalt in der Wand zwischen den Häusern ihrer verfeindeten Eltern kennen wir vor allem durch die ungeschickte Darstellung der Handwerker im Sommernachtstraum, womit wir schon bei Shakespeare angelangt sind, dessen The Most Excellent and Lamentable Tragedy of Romeo and Juliet (Erstdruck 1597) der Oper von Charles Gounod zugrunde liegt, die wir am Mittwoch näher betrachten wollen. Hero und Leander – auch ihre Geschichte wurde zuerst durch Ovid überliefert – werden gelegentlich ebenfalls als Vorbilder genannt, doch neben der aller Widrigkeiten zum Trotz blühenden Liebe ist die einzige Parallele Heros Tod über der Leiche Leanders. Auch in der Geschichte von Girolamo und Salvestra, die in der achten Geschichte des vierten Tages in Giovanni Boccaccios Decamerone besungen werden, gibt es einen wesentlichen Unterschied: Nicht eine Familienfehde trennt die Liebenden, sondern der Standesunterschied zwischen dem reichen Kaufmannssohn und der armen Schneiderstochter. So ist es auch mit den die Liebenden von Teruel, die sich angeblich im Jahre 1217 in der spanischen Stadt zugetragen haben soll. Sie können nicht heiraten, weil Diego ein armer Schlucker ist, und der reiche Vater Isabels dies verhindert. Doch Diego hat fünf Jahre Zeit, sich in der Fremde Reichtum aufzubauen. Er schafft das auch, aber da er nie etwas von sich hat hören lassen, heiratet Isabel einen anderen. Er kommt zurück und die Geschichte endet wie bei Boccaccio. Er stirbt in Isabels Bett, als sie ihm den Kuss verweigert, und der Leichnam wird vom nichtsahnenden Ehemann Isabels beiseitegeschafft. Am nächsten Tag geht Isabel in die Kirche und küsst den dort aufgebahrten Toten. Und bleibt leblos auf ihm liegen. Gabriel Téllez, den wir auch als Tirso de Molina und als ersten Autor des Don-Juan-Stoffes kennen, schrieb 1615 Los amantes de Teruel. Das lässt sich aber auch als spanisches Gegenstück zu Castelvines y Monteses von Félix Lope de Vega y Carpio verstehen. Zwischen 1607 und 1612 schrieb Lope de Vega seine Version von Romeo und Julia mit glücklichem Ende.

Am Anfang der in Verona verorteten Stoffgeschichte steht eine Novelle von Luigi Da Porto (1485–1529). Zwischen 1512 und 1524 erschien die Historia novellamente ritrovata di due nobili amanti. Sein Zeitgenosse Matteo Bandello (1485–1561) veröffentlichte seinerseits 1554 drei Libri di Novelle. Die neunte Geschichte im zweiten Buch, La sfortunata morte di dui infelicissimi amanti che l'uno di veleno e l'altro di dolore morirono, con varii accidenti, diente sowohl Shakespeare als auch Lope de Vega als Vorlage für ihre Dramen um Romeo und Julia.

Shakespeares Tragödie gehörte zu seinen Lebzeiten zu den populärsten. Und auch als 1660, nach der Diktatur Cromwells und der Rückkehr und Inthronisation Charles II. Schauspiel wieder zugelassen wurde, erinnerte man sich schnell daran. Doch inzwischen war man schon deutlich puritanischer geworden. Samuel Pepys befand, dass es das schlechteste Schauspiel sei, das er je in seinem Leben gesehen habe. Er störte sich vor allem an den vielen explizit erotischen Anspielungen. John Dryden war hingegen ein paar Jahre später begeistert. Aber vielleicht hatte man da schon begonnen, das Stück zu bereinigen. So wie es nämlich im 18. Jahrhundert gespielt wurde, etwa in der Bearbeitung von David Garrick, ist es gänzlich jugendfrei. Bei den ersten Aufführungen im späten 17. Jahrhundert war der Schluss in die glückliche Version Lope de Vegas geändert, um 1680 gab es eine Neubearbeitung, die das Stück in die römische Zeit zurückversetzte, allerdings wieder den tragischen Schluss restituierte. David Garrick fügte in seiner 1748 erstmals gespielten Version etwas hinzu, das wir auch bei Gounod und in fast jeder anderen musikalischen Version finden: Romeo lebt noch, wenn Julia aufwacht, und die beiden haben noch einen letzten Dialog bzw. ein letztes Duett. Das ist Romantik und nicht Shakespeare.

Im 18. Jahrhundert erobert sich der Stoff die musikalische Bühne. Die ersten Singspiele erschienen in Braunschweig und Gotha 1773 und 1776, 1792 kam Tout pour l'amour ou Roméo et Juliette von Nicolas Dalayrac an der Comédie-Italienne in Paris heraus, im Jahr darauf ein Konkurrenzprodukt an der Opéra-Comique. 1810 gab es zum ersten Mal eine Oper mit tragischem Schluss. Sie kam in der Shakespeare-Stadt London heraus. Vom Komponisten Pietro Carlo Guglielmi (1772–1817) ist sonst so gut wie nichts bekannt. So klingt die Musik des Braunschweiger Kapellmeisters Johann Gottfried Schwanberger, es ist die Ouvertüre zu seiner Oper Solimano. Hier eine Tonaufnahme der Gothaer Romeo und Julie aus Bremen.

Das Libretto von Felice Romani, das 1825 Nicola Vaccai (1790–1848) als Giulietta e Romeo vertonte und 1830 Vincenzo Bellini als I Capuleti e i Montecchi lässt die Liebenden zum Schluss wieder am Leben – Vorlage ist denn auch mehr Lope de Vega als Shakespeare. Hier eine Tonaufnahme der Oper von Vaccai (oder Vaccaj)

1827 gastierte die Schauspielgesellschaft der Brüder Kemble in Paris. In den Partien der Juliet und der Ophelia wechselten sich Maria Foote und Harriet Smithson ab. Die junge Irin Smithson elektrisierte ganz Paris, so auch Hector Berlioz (1803–1869), der sie sofort heiraten wollte, was aber noch ein paar Jahre dauern sollte. Die Kemble-Gesellschaft stützte sich mit ihrer Aufführung auf die Fassungen von David Garrick. Juliet spricht also noch einmal mit dem sterbenden Romeo, ehe sie sich selbst umbringt. Der Graf Paris wird zwar in der Fassung nicht umgebracht von Romeo, dafür wird aber der Grabgesang für Julia, den Garrick nachgedichtet hatte, einbezogen. Für die »Symphonie dramatique« Roméo et Juliette, die Berlioz 1839 schrieb und 1847 veröffentlichte, verfasste Émile Deschamps (1791–1871, Co-Autor von Les huguenots und Le prophète) einen neuen »Convoi funèbre« (Trauerzug). Der Schluss der Sinfonie restituiert Shakepeare vollständig: Kein Dialog von Romeo und Julia, aber Zusammenkunft der ganzen Stadt und Waffenstillstand zwischen den Familien. Hier eine Konzert-Aufführung der »Symphonie dramatique« unter der Leitung von Daniele Gatti.

Charles Gounod (1818–1893) kannte die »Symphonie dramatique« von Hector Berlioz seit 1839, als er eine nicht öffentliche Probe im Conservatoire besuchte (offentlich aufgeführt wurde das Werk da noch nicht). Schon während seines Rom-Aufenthaltes (1841–1843) vertonte er übungshalber Texte aus Romeo und Julia – möglicherweise Ausschnitte aus dem Libretto von Felice Romani, das schon Vaccai und Bellini vertont hatten. Ende des Jahres 1864 entschloss er sich, den Stoff für eine Oper in Angriff zu nehmen und ließ sich von seinen Librettisten Jules Barbier (1825–1901) und Michel Carré (1821–1872) einen Text schreiben. Die beiden hatten bereits die Libretti für Le médecin malgré lui und zu Faust verfasst und einen Hamlet, den Ambroise Thomas komponierte, der aber noch nicht zur Aufführung gelangt war. 1865 brachte Gounod die Komposition in kurzer Zeit zu Papier. Bis zur Uraufführung im Théâtre-Lyrique dauerte es jedoch noch zwei Jahre, in denen noch Wünsche des Direktors Léon Carvalho zu erfüllen waren. Wie bei Faust war zunächst die Form der opéra comique mit gesprochenen Dialogen vorgesehen, doch Carvalho wünschte Rezitative. Vor allem aber fehlte ihm noch ein großes Chor-Bild. Daher wurde der 4. Akt, der urprünglich nur in Juliettes Kammer spielte, um den Hochzeitszug und Juliettes scheinbaren Tod, bevor sie dem Grafen Pâris vermählt werden kann, ergänzt. Noch zwei Mal nahm Gounod Umarbeitungen vor. Zuerst als die Opéra-Comique das Werk erworben hatte, nach der Pleite des Théâtre-Lyrique 1871. 1873 war Roméo et Juliette die erste Oper, die an der Opéra-Comqiue mit Rezitativen gespielt wurde. Dazu wurden u. a. die Finali des 3. und 4. Aktes umgearbeitet. Im gleichen Jahr kam es nach den Erfahrungen mit der Premiere an der Opéra-Comique noch zu weiteren Umarbeitungen. Als die Oper 1888 endlich an die Opéra kam, war die Bedingung natürlich ein Ballett. Das wurde nun auch noch in den 4. Akt gepackt – also nachdem Juliette scheintot zusammen gesunken ist, kommen die Tanzerinnen und Tänzer und tanzen eine »danse bohémienne«...

Die Ouvertüre weitet Charles Gounod zum Prolog. Das entspricht formal Shakespeare, zunächst auch wörtlich, aber der Chor ist mehr im Sinne des antiken Dramas Erzähler und spricht nicht das Publikum direkt an. Diese Schallplattenaufnahme von 1909 klingt fast solistisch besetzt – wie es vermutlich gedacht war –, doch der Grund dafür ist vermutlich, dass das Studio sehr eng war. Nach dem kurzen Ausschnitt aus dem Prolog folgen noch Ausschnitte aus der Garten- bzw. Balkonszene. Daher hier noch einmal die ganze Prolog-Ouvertüre aus der allerersten Schallplatten-Gesamtaufname von 1912. 

Der erste Akt bringt uns in den Palast der Capulets. Dort wird ein Maskenball gefeiert. Man tanzt. Und was tanzt man in Verona im 14. Jahrhundert? Walzer natürlich! Hier ein Ausschnitt aus der Minnesota Oper. Den Walzer, greift Juliette später auf, um ihre Freiheit als noch nicht Verheiratete zu feiern; sie ist nämllich gar nicht erpicht, den Grafen Pâris zu heiraten, so sehr ihn auch Cousin Tybalt und Amme Gertrude anpreisen. Eindringlinge kommen auf das Fest. Romeo wird von seinen Freunden angeschleppt, sie wollen ihn Rosaline vergessen machen. Mercutio fährt mit seiner Ballade von der Königin Mab großes vokales Geschütz auf. Hier Simon Kennlyside in der CD-Gesamtaufnahme von 1995. Juliette und Roméo sehen sich zum ersten Mal, ohne etwas über die gegenseitige Identität zu ahnen. Juliette macht sich von der Menge los, aber sie sucht eben nicht Pâris wie die sie ständig begleitende Amme vermutet, sondern sie will frei sein. Das ist der Inhalt ihrer Ariette im Walzer-Tempo, hier von Nellie Melba 1904 vielleicht etwas zu hitzig gesungen. Man muss die Szene dazu sehen, etwa so. Das ist Julie Fuchs, die in der Inszenierung von Ted Huffman im letzten Jahr in Zürich die Situation der jungen Frau, die sich gegen das Verheiratetwerden wehrt, sehr deutlich machte. Ob Roméo während des Walzers in der Nähe bleibt oder nicht, bleibt dem Regisseur überlassen. Nach dessen Ende jedenfalls schnappt sich Grégorio Gertrude, damit hat Roméo freies Feld. Er stellt sich Juliette in den Weg und stimmt ein »Madrigal« an, in das sie einstimmt. Es ist das erste von insgesamt vier Duetten. Hier ist mit Jussi Björling einer der makellosesten Tenöre des französischen Fachs zu hören, Juliette ist Anna-Lisa Björling. Tybalt stört die beiden, jetzt erst wird Roméo klar, dass er Juliette gegenübersteht. Mercutio kann ihn gerade noch vor Tybalt und Pâris retten, die auf Rache sinnen.

Der zweite Akt spielt im Garten Juliettes. Stéphano hilft Roméo über die Mauer. Noch ist Juliette nicht zu sehen, Gelegenheit für eine berühmte Arie, »Ah, lève-toi soleil« hier gesungen vom Tenor aller Tenöre, Enrico Caruso, eine Aufnahme in italienischer Sprache aus dem Jahr 1909. Juliette erscheint auf dem Balkon, die beiden nehmen Kontakt auf, aber Gertrude und Grégorio haben etwas mitbekommen und Grégorio sucht mit seinen Dienern den Garten ab, »Personne, personne« (»Niemand, niemand«) haben wir bereits ebenfalls in einer Aufnahme von 1909 gehört. Roméo konnte sich verstecken, Juliette kommt herunter und die beiden haben ausgiebig Zeit für ein Duett. Hier »O nuit divine«, gesungen von Alfredo Kraus und Catherine Malfitano, aus einer Schallplatten-Gesamtaufnahme von 1983.

Der dritte Akt besteht aus zwei Bildern: die Zelle des Frère Laurent und eine Straße vor dem Haus der Capulets. – Frère Laurent nimmt heimlich die Trauung von Juliette und Romeo vor: »Dieu qui fit l'homme à son image«, hier aus einer Gesamtaufnahme von 1953, Alberto Erede dirigiert das Orchester der Pariser Oper, es singen Raoul Jobin (Roméo), Janine Micheau (Juliette), Pierre Mollet (Frère Laurent) und Odette Ricquier (Gertrude). – Stéphano, selbst ein wenig verliebt in Juliette, wagt sich in die Nähe des Hauses Capulet, wo er seinen »maître«, wie er Roméo nennt, vermutet. Sein Chanson ruft Grégorio und die Diener auf den Plan. Hier zu sehen in einer Aufführung des Teatro La Fenice, in der Regie von Damiano Michielotto, es singt Kemoklidze Ketevan. Die Hosenrolle Stéphano erinnert sehr an die Hosenrolle Siebel in Faust, der seine Romance auch am Anfang des dritten Aktes zu singen hat. Zwischen dem »enfant« Stéphano und den Dienern entsteht ein Handgemenge, Mercutio kommt ihm zu Hilfe, auf der Seite der Capulets erscheint Tybalt. Romeo versucht zu vermitteln, aber das Duell zwischen Mercutio und Tybalt ist unvermeidlich. Mercutio wird tödlich verwundet. Romeo rächt seinen Freund, indem er Tybalt, den Cousin Juliettes, tötet. Unversöhnlich stehen sich Capulets und Montaigus gegenüber. Nur der Duc kann einen Waffenstillstand erreichen, indem er Roméo ins Exil schickt. »O jour de deuil«, Tag der Trauer, ja, aber »La paix? Non! Jamais!«, Frieden nie! Hier das Finale in einer Aufführung der Oper in Bilbao 2011.

Auch der vierte Akt hat – wie schon erwähnt – zwei Bilder. Das erste, in der Kammer Juliettes, entspricht der zweiten Balkonszene (3. Akt, 5. Szene bei Shakespeare); das zweite ist der von Carvalho erbetene Hochzeitszug. – Es beginnt mit dem großen Duett »Va, je t'ai pardonné« (12 Minuten), für die beiden ist es die Hochzeitsnacht, sie wird von der Lerche beendet, auch wenn Juliette das erst nicht wahrhaben will und die Nachtigall vorschiebt. Hier eine Schallplattenaufnahme von 1964 mit einem anderen schwedischen Tenor, Nicolai Gedda; Juliette ist Rosanna Carteri. Sie schwören sich ewige Liebe, Romeo kann gerade noch entwischen, bevor Capulet ins Zimmer kommt, um der Tochter zu verkünden, dass es nun aber ernst wird mit der Hochzeit mit Pâris. Er hat gleich Frère Laurent mitgebracht, der im Quartett (hier aus einer Gesamtaufnahme des Bayreischen Rundfunks mit Ruth Ann Swensen, Sarah Walker, Alain Vernhes, Alastair Miles) zum Schein darauf eingeht – er kann ja Juliette nicht ein zweites Mal verheiraten. Nachdem Capulet gegangen ist, reicht Frère Laurent Juliette seinen Trank, der sie in todesähnlichen Schlaf versetzen wird. Das Bild endet mit der Arie der Juliette, hier gesungen von Pretty Yende. – In einer großen Halle vor der Kapelle wird alles vorbereitet für die Hochzeit von Pâris und Juliette. Brautzug, Ensemble, Brautlied (»Epithalamium«), Orgel aus der Kapelle, Juliette reißt sich den Brautschmuck vom Kopf und fällt rechtzeitig in Tiefschlaf, bevor sie zum Ja-Wort gezwungen werden kann. Alle halten sie für tot. Den Ausschnitt hören Sie hier noch einmal aus der Gesamtaufnahme mit Alberto Erede von 1953.

Der fünfte Akt spielt in der Krypta, wo Juliette aufgebahrt ist. In einer kurzen Szene (oftmals weggelassen) zwischen Frère Laurent und Frère Jean kündigt sich die Katastrophe an: der Brief an Roméo ist allem Anschein nach nicht durchgekommen. »Le sommeil de Juliette«, Juliettes Schlaf ist auch im Konzert beliebt, hier dirigiert ihn ein Spezialist für französische Musik, Sir Thomas Beecham 1961 mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Romeo kommt, um an Juliettes Seite zu sterben, dafür hat er sich Gift besorgt, das er hinunterstürzt, nachdem er sich von der scheinbar Toten verabschiedet hat. So klingt es mit Rolando Villazon. Doch Juliette wacht auf, aber es ist zu spät, Roméo kann nicht mit ihr fliehen. Hier noch einmal Jussi Björling, dies Mal in einer Aufführung der Metropolitan Opera von 1947, Bidù Sayão ist Juliette. Die Fortsetzung hier, nachdem sie sich ausgeweint hat, findet sie bei ihm einen Dolch, den sie sich in den Leib rammt. Nun sterben beide gemeinsam.

Es gibt mehrere Gesamtaufnahmen als Video auf YouTube. Ganz vorn ist zu nennen diese Aufführung aus Amsterdam von 2011. Die Inszenierung ist von Olivier Py, es dirigiert Marc Minkowski. Beim Auftritt des Roméo im 2. Akt möchte man meinen, dass er bei seinen Shakespeare-Studien eine falsche Seite aufgeschlagen hat, aber schauen Sie selbst (bei etwa 00:40 beginnt die Verwandlung zum 2. Akt). Stéphano entpuppt sich bei Olivier Py als Frau, was sich anbietet. Die Partie wird von einer Frau gesungen und die anderen nennen sie nicht beim Namen, sondern einfach »enfant«, Kind. Man braucht also nicht einmal zu Tricks zu greifen, wie eine Übersetzung in den Übertiteln mit Stephanie. Und sein/ihr Chanson bekommt noch etwas mehr Berechtigung (Beginn zweites Bild des 3. Aktes bei etwa 01:20). Die Aufführung der Bastille Oper von 2023 hat den vermutlich besten gegenwärtigen Roméo als Vorzug, Benjamin Bernheim, aber auch die Juliette der Elsa Dreisig ist erste Klasse, und die Inszenierung von Thomas Jolly lässt sich sehen. Der Moment der Liebe auf den ersten Blick nach dem Walzer ist perfekt eingefangen, dafür streicht er sogar den kurzen Dialog mit Grégorio, was niemand vermissen wird (Walzer bei ca 00:25). Leider nirgendwo zu finden ist die Produktion mit Julie Fuchs und Benjamin Bernheim vom letzten Jahr im Opernhaus Zürich, es gibt nur einzelne Ausschnitte, wie den erwähntren Walzer. In der Naxos-Videolibrary (zu erreichen über die Öffentlichen Bilbiotheken) gibt es nicht weniger als fünf Gesamtaufnahmen, beginnend 1994 in Covent Garden mit Roberto Alagna und Lentina Vaduva, weiter dem Opernfilm (73 Minuten) von 2002 mit Gheorghiu und Alagna und einer Produktion aus Orange aus dem gleichen Jahr mit demgleichen Paar, den Salzburger Festspielen 2008 mit Nino Machaidze und Rolando Villazon, von der Arena di Verona 2011 mir Nino Machaidze und Stefano Secco.

Wer sich für historische Tonaufnahmen interessiert, wird auch bei YouTube fündig. Nehmen wir nur das Jahr 1947. Da gibt es diese Live-Aufnahme von der Metropolitan Opera mit Jussi Björling, und aus der anderen Welt sogar zwei konkurrierende Studioaufnahmen: vom Bolschoi-Theater zuerst diese mit Iwan Kozlovsky und Yelizaveta Shumskaya, und dann diese mit Sergei Lemeshev und Irina Maslennikova.

Ma Mittwoch haben wir zwei Stunden Zeit für alles, ich freue mich
Ihr Curt A. Roesler

Dienstag, 29. Oktober 2024

Mefistofele

Für den dritten Abend im Herbst-Trimester haben wir uns Mefistofele von Arrigo Boito vorgenommen, eine der zahlreichen Vertonungen des Faust-Stoffes. The New Grove Dictionary of Opera zählt in der Ausgabe von 1992 27 bis 1989 entstandene Opern auf. Dabei sind also weder die Oper von Alfred Schnittke (Hamburg 1995), noch die von Pacal Dusapin (Berlin, 2006), aber Henri Pousseur und Wolfgang Rihm sind schon aufgeführt. Schaut man genauer hin, findet man jedoch auch Lücken. Fausto von Louise Bertin z. B. (Paris, 1831, wir sprachen hier darüber) fehlt.

Einige Opern sind erschienen, bevor Goethe den ersten Teil seiner Tragödie veröffentlicht hat, und enthalten daher nichts von der »Gretchen-Tragödie«, wenn Faust da eine Partnerin hat, dann ist es Helena aus der Mythologie. Nach Goethes Publikation allerdings gibt es nur wenige Werke, die davon nicht beeinflusst sind, oder sich wie Ferruccio Busoni in seinem unvollendeten Dr. Faust bewusst von Anspielungen auf Goethe fernhalten. Recht nah an der »Gretchen-Tragödie« ist Charles Gounod, über den wir bei den Zehlendorfer Operngesprächen schon öfter gesprochen haben. Der einzige Komponist aber, der den ersten und den zweiten Teil der Goetheschen Tragödie einbezogen hat, ist Arrigo Boito. Das bedeutet zwar nicht, dass in seinem Mefistofele nun die gesamte philosophische Dimension der Dichtung ins Musikalische übertragen wäre. Goethes Faust, insbesondere dessen zweiter Teil, ist ohnehin mehr ein Lesedrama als ein Bühnenwerk. Eine szenische Aufführung selbst nur des gesprochenen Textes würde jede Theaterkonvention sprengen. Man wird immer nur Ausschnitte aufführen können. Und daher wird man immer den Fokus auf einen bestimmten Aspekt setzen. Wie der Titel schon sagt, hat sich Boito in erster Linie mit dem auseinandergesetzt, was allgemein als das Böse angesehen wird und der Anziehungskraft, die davon ausgeht: Mephistopheles wird zur Hauptfigur in der quasi Kurzfassung der beiden Teile der Tragödie.

Arrigo Boito (1842–1918) war eine führende Figur der »Scapigliatura«, einer Bewegung junger Mailänder Künstler in den 1860er Jahren. Die »Scapigliati« (also etwa die, »die nicht zum Friseur gehen«) propagierten die enge Verwandtschaft von Literatur, Musik und Bildender Kunst und waren gegen jede Konvention. Vorbild waren die »Buveurs d'eau« in Paris, die Henri Murger in seinen »Scènes de la vie de Bohème« trefflich porträtiert hatte. Kein Wunder, dass La Bohème in den 1890er Jahre, als die ehemaligen »Scapigliati« sich längst wieder frisieren ließen, zum durchschlagenden Opernerfolg wurde.

Die »Scapigliati« waren glühende Anhänger des jungen italienischen Königreiches. Boito kämpfte sogar an der Seite Garibaldis im Deutsch-Deutschen Krieg 1866 gegen die Österreicher. Da hatte er sein Kompositionsstudium bei Alberto Mazzucato (1813–1877) längst abgeschlossen und auch schon zusammen mit Franco Faccio, dem späteren berühmten Dirigenten von etlichen Verdi-Premieren, zwei Kantaten komponiert, die ihm Zugang zu Verdi und Rossini in Paris verschafften. 1862 ist zum ersten Mal ein Text von Arrigo Boito in der Vertonung von Giuseppe Verdi aufgeführt worden: der Inno delle Nazioni bei der Weltausstellung in London. Heute kennen wir Arrigo Boito vor allem als Librettisten Verdis (Simon Boccanegra, 2. Fassung, Otello, Falstaff) und Amilcare Pochiellis (La gioconda, unter dem Anagramm Tobia Gorrio). Aber er schrieb auch selbst zwei Opern, Mefistofele, mit dem wir uns am Mittwoch befassen wollen und Nerone, bei seinem Tod unvollendet und mit Ergänzungen von Antonio Smareglia (1854–1929), Vincenzo Tommasini (1878–1950) und Arturo Toscanini (1867–1957).

In der ersten Fassung des Mefistofele, die im März 1868 bei der Uraufführung an der Scala di Milano gnadenlos durchfiel, wurde Faust von einem Bariton gesungen. Diese Fassung hatte einen Prolog und fünf Akte; zu den Gründen für den Misserfolg zählte der Komponist die Länge der Oper, er machte sich also gleich daran zu kürzen und zu konzentrieren. Erst sieben Jahre später kam die endgültige Fassung in Bologna heraus, die von Anfang an ein durchschlagender Erfolg war – und eine italienische Alternative zum Welterfolg Faust des französischen Komponisten Charles Gounod.

In der endgültigen und heute ausschließlich gespielten Fassung umfasst die Oper Prolog, Epilog und vier Akte. Prologo in cielo ist der Prolog überschrieben, also Prolog im Himmel. Musikalisch ist er in vier »Tempi«, also vier Sätze, wie eine Sinfonie, und mitten darin ein »Intermezzo drammatico«, eingeteilt. Der zweite Satz, das erste Scherzo in der Sinfonie, enthält das »Ave Signor« (»Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen...«) des Mefistofele, hier gesungen vom ersten berühmten Interpreten der Partie, Feodor Schaljapin. »Kennst du den Faust?« ist der Inhalt des »Intermezzo drammatico«, hören wir das hier von einem der großen Nachfolger von Schaljapin, Boris Christoff. »Der Herr« wird bei Boito vom Chorus mysticus vertreten. »Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern.« So endet der Prolog nicht bei Boito, sondern als musikalische Zusammenfassung mit einem Salve regina in der »Salmodia finale«, mit Chören und Kinderchor, hier interpretiert von einem Boito-Spezialisten besonderer Prägung, Arturo Toscanini. – Der erste Akt besteht aus »La domenica di Pasqua«, dem Osterspaziergang, und »Il patto«, die Auseinandersetzung mit dem Geist (Mephistopheles) im Studierzimmer. Der Osterspaziergang führt auch zu den Bauern unter der Linde, die hier Bürger sind, »Juhé! Juheissa! Juhé!«, hier aus der frühesten Gesamtaufnahme, 1929 mit dem Chor und Orchester der Scala unter der Leitung von Lorenzo Molajoli. »Dai campi, dai prati«, Faust kommt ins Studierzimmer zurück, die erste Tenorarie, kurz und konzentriert. So sah das in der Inszenierung von Roland Schwab in München aus, gesungen von Joseph Calleja. Nun aber das Pfeifen des Teufels. Dafür kehren wir zu Schaljapin zurück, wie das erste Musikbeispiel aufgenommen 1926 in London bei einem Gastspiel des Weltstars. »Son lo spirito che nega« (»Ich bin der Geist, der stets verneint«). – Der zweite Akt besteht aus »Il giardino«, der Gartenszene und »La notte di Sabba«, dem Hexensabbat. Wir eilen also schnell durch die Gretchentragödie. Das Quartett »Cavaliere illustre e saggio« ist die einzige direkte Parallele zu Faust von Charles Gounod, die 1862 ihre italienische Premiere am Teatro alla Scala hatte. Hier steht aber am Anfang des Quartetts die allererste Begegnung von Margarethe und Faust, die gleich mit Buffo-Paar Marthe und Mephistopheles kontrastiert wird. Aber alles Wichtige ist drin: »Nun sag' wie hast du's mit der Religion« – »Dimmi se credi Enrico«. Hier dieser zweite Teil in der Aufnahme, die in den 1960er Jahren als Referenzaufnahme galt, Tullio Serafin dirigiert die Accademia di Santa Cecilia, ein etwas steifer Faust ist Mario del Monaco, Gretchen Renata Tebaldi, Mefistofele Cesare Siepi und Marta Lucia Danieli. Den Anfang vom Hexensabbat, »Su cammina, cammina« hier in einer Aufnahme, die ich seit jeher bevorzuge, Franco Capuana dirigiert, Giulio Neri ist Mefistofele und Gianni Poggi Faust. Beide standen irgendwie immer in der zweiten Reihe, obwohl sie etwa Siepi und Ghiaurov oder del Monaco di Stefano in nichts nachstanden. Die »Ballata del Mondo« des Mefistofele »Ecco il mondo, vuoto e tondo« hier mit dem Bass der ersten Gesamtaufnahme, Nazzareno de Angelis. Und die abschließende Höllenfuge hier aus einer Aufführung 1989 in Florenz mit Samuel Ramey als Mefistofele. – Mit dem 3. Akt in einem einzigen Bild, dem Kerker, schließt der erste Teil der Tragödie: »Morte di Margherita«. Gretchen, vom Wahnsinn geschlagen, träumt von dem Kind, das sie getötet hat. Eine Arie, die bei allem Aufrührerischen des »Scapigliato« Boito ganz in der italienischen Tradition steht. Hier gesungen von Maria Callas, da hört man gleich auch den ganzen Belcanto-Hintergrund dieser Musik. Faust und Mefistofele dringen in den Kerker ein, doch es wird nichts mit einer Entführung, »Ti scongiuro, fuggiamo« bettelt Faust umsonst, es mündet in eines der schönsten italienischen Duette »Lontano, lontano«, hier in einer Auffürhung des Teatro Massimo in Palermo mit Dimitra Theodossiu und Giuseppe Filianoti. Doch es wird nichts aus der geplanten Wiedervereinigung. Gretchen stirbt und wird gerettet mit einem einfachen »E salva« des Chores hinter der Bühne. Mefistofele zieht Faust davon. Hier Gretchens Ende gesungen von Mirella Freni. – Für der Tragödie zweiten Teil bleibt noch der vierte Akt und der Epilog. »La notte di Sabba classico« ist der 4. Akt überschrieben, der Goethes 3. Akt aus dem 2. Teil nachempfunden ist. Faust begegnet einer anderen weiblichen Figur, Helena von Troja, der angeblich schönsten Frau der Welt. In der Uraufführung wie in vielen späteren Interpretationen auch, wird sie von der gleichen Sängerin verkörpert wie Margherita. Helena wird von ihrer Dienerin Panthalis begleitet, die am Beginn ein Duett mit ihr singt. Hier der Anfang des Klassischen Sabbat in einer Aufnahme aus London von 1980/82 unter der Leitung von Oliviero de Fabritiis, mit Montserrat Caballé (Elena), Della Jones (Pantalis), Luciano Pavarotti (Faust) und Nicolai Ghiaurov (Mefoistofele). Und damit mein bevorzugter Tenor Carlo Bergonzi auch einmal vorkommt, hier das Duett mit Elena »Forma ideal purissima« und der Schluss des 4. Aktes mit Renata Tebaldi aus einer konzertanten Aufführung in der Carnegie Hall 1966. Im Epilog »La morte di Faust« gibt es noch eine große Arie für Faust: »Giunto sul passo estremo«. Hier der ganze Schluss mit Charles Castronovo und Erwin Schrott in einer Produktion der Festspiele in Baden-Baden 2016, Inszeniert von Philipp Himmelmann. Die entscheidenden Worte »Arrestati, sei bello« bei 06:12.

Und jetzt noch ein Hinweis auf eine komplette Aufführung: 1989 inszenierte Robert Carsen Mefistofele in San Francisco mit Samuel Ramey. Davon können Sie eine Aufzeichnung bei YouTube finden, es gibt aber in etwas besserer Tonqualität diese Aufnahme einer Wiederaufnahme von 2017.

Dann also bis Mittwoch in Zehlendorf, wir sehen uns,
Ihr Curt A. Roesler

Montag, 14. Oktober 2024

Der Freischütz

Liebe Opernfreunde,

es ist kaum zu glauben, aber Der Freischütz war hier noch nie Gegenstand näherer Erläuterungen. Der Grund ist ganz einfach: diese Oper kennt doch jeder, da braucht es keine Erklärungen. Oder vielleicht doch?

Anlass ist auch nicht eine Berliner Premiere dieses Stücks – da haben wir schon einige hinter uns, gelungene wie weniger gelungene – und auch nicht die groß angekündigte Fernsehübertragung aus Bregenz (nach wie vor nur in der 3sat-Mediathek zu sehen und nicht auf YouTube, Sie müssen sich das Video also selbst heraussuchen), die habe ich noch gar nicht gesehen, und ich weiß auch nicht, ob ich das bis nächsten Mittwoch noch schaffe. Anlass ist die mit Spannung erwartete Neuproduktion der Oper in Cottbus unter der Musikalischen Leitung von Johannes Zurl, inszeniert von Tomo Sugao, dem Hausregissuer und Stellvertretenden Operndirektor des Staatstheaters. Sugao, der übrigens auch einige Jahre als Spielleiter an der Komischen Oper Berlin verbracht hat, hat das Werk schon einmal in seiner Heimat Japan inszeniert, aber das wird eine neue Produktion sein mit Julia Spinola als Dramaturgin. Premiere ist am 19. Oktober und die Oper wird Bestandteil des Repertoires, d. h. in der laufenden Spielzeit wird es noch Aufführungen bis Mai geben.

Der Freischütz ist einer der Grundpfeiler deutschsprachigen Musiktheaters, aber die Gespenstergeschichte vom Beginn des 19. Jahrhunderts hat es bis ins amerikanische (allerdings zuerst in Hamburg aufgeführte) Musical des 20. Jahrhunderts geschafft. Genau darüber wollen wir sprechen, über die Wandlungen der Erzählweise von einer wundersamen Geschichte. Die Ängste einer Braut, die den Bräutigam nicht recht kennt, die Ängste eines Jungen aus der hohen Gesellschaft, der beim Schießen von den verachteten Bauern übertroffen wird. Und über die Verführungskraft von Blendern, die Lösungen zum Nulltarif anbieten.

»Freikugeln« haben diese Verführungskraft in sich, die die beiden Jägerburschen zu Fall bringt. Natürlich gibt es keine Munition, die den Weg ganz alleine findet, die Künstliche Intelligenz versendet Lockrufe in die Richtung, aber der Drohnenpilot oder der Software-Entwickler muss das Gerät mit ewas füttern, und wenn er dabei einen Fehler macht, dann geht es daneben. Um von dieser Verantwortung abzulenken, werden immer wieder Geschichten von Hexerei und bösme Blick erfunden. Im 15. Jahrhundert ist zum ersten Mal von magischen Kugeln, oder eben Freikugeln die Rede. Immer negativ, als Teufelszeug konnotiert. 1449 wird ein Söldner in Basel ertränkt mit der Begründung, er habe magische Kuglen benutzt. 50 Jahre später wird aus Tiengen, einer Kleinstadt in der Nähe von Basel, von der Hinrichtung eines Juden berichtet. Er wurde offensichtlich nur hingerichtet, weil er Jude war, aber als man eine Begründung brauchte, kam man später darauf, dass er Freikugeln benutzt habe.

Europa stand vor der konfessionellen Spaltung, der Buchdruck revolutionierte die Kommunikation von Grund auf. Die »Kleine Eiszeit«, die gerade eine noch stärkere Abkühlung und Verkürzung der Vegetationszeit bewirkte, trug zur Verunsicherung der Bevölkerung bei. Dem Glauben an das Heil durch Christus oder Maria stellte sich ein negativer Wunderglauben entgegen, auf dem Eiferer wie der Dominikaner Heinrich Kramer (1430–1505) aufbauen konnten. Hexenprozesse erreichten einen ersten Höhepunkt. Die Religionskriege des 16. Jahrhunderts mündeten in den großen europäischen Krieg des 17., den Dreißigjährigen Krieg 1618–1648. Die Folgen dieses Krieges wählten der Librettist Friedrich Kind und Carl Maria von Weber als Folie, vor der sie ihre romantische Oper ausbreiteten.

Gerne wird im Zusammernhang mit dem Freischütz auch ein österreichisch-preußischer Kammerherr und Autor des 18. Jahrhunderts genannt, der sich mit Geistergeschichten auseinandersetzte, Otto von Graben zum Stein (1690–1756). In 18 Bänden veröffentlichte er ab 1730 Unterredungen von dem Reiche der Geister zwischen Andrenio und Pneumatophilo. Unter Friedrich Wilhelm I., der ihn als Beamten (und vielleicht auch österreichischen Spion, Gerüchte gab es) gewähren ließ, fing er sich damit 1731 ein Publikationsverbot ein. Und Friedrich II. strich ihm nach der Thronbesteigung gleich sämtliche Gehälter. (Keine »Gelder an die Narren.«) Die Unterredungen enthalten zwar eine Geschichte, in der es um das Kugel Gießen geht, die aber als Vorlage nicht in Frage kommt, bestenfalls als Ermutigung, sich mit solchen Geschichten zu beschäftigen.

Dies tat u. a. der Leipziger Jurist und Schriftsteller August Apel (1771–1816). Zusammen mit Friedrich August Schulze (1770–1849), der unter dem Namen Friedrich Laun Unterhaltungsromane und Theaterstücke verfasst hatte, gab er 1810–1815 ein Gespensterbuch in mehreren Bänden heraus, das den Weg für die Sammlungen von Sagen und Märchen der Brüder Grimm und von Ludwig Bechstein bereitete. Gleich den ersten Band eröffneten sie mit der Erzählung vom Freischütz, mit einem von der Oper deutlich abweichenden Schluss. Da gibt es nämlich keineHochzeit. Der fehlbare Jägerbursche endet im Wahnsinn. Das ist eine Parallele zu einer berühmten englischen Geschichte vom Teufelspakt, A Rake's Progress, zunächst eine Gemäldeserie von William Hogarth (1697–1764) und heute vor allem bekannt als Oper von Igor Strawinsky (1882–1971).

Schon 1812 kam Der Freyschütze in München als Schauspiel mit Musik auf die Bühne, der Text stammte von Franz Xaver von Caspar (1772–1833), die Musik von dem Violinisten Carl Neuner (1778–1830). Die beiden erfanden den »glücklichen« Schluss, an dem noch heute jeder Regisseur verzweifelt, weil er unlogisch ist. Carl Maria von Weber jedoch nahm die Lösung begierig auf, als er sich zusammen mit Friedrich Kind an die Arbeit an seiner Romantischen Oper nach der Gespenstergeschichte von August Apel machte.

Auch in den Deutschen Sagen der Brüder Grimm (1816/1818) finden sich zwei Stücke, die eine deutliche Nähe zum Freischütz haben. Der sichere Schuss und Der herumziehende Jäger. Wie die Unterredungen der Geister... sollten sie nicht als Vorlage angesehen werden, sondern als Beweis dafür, dass solche Geschichten gerade sehr beliebt waren, als die Oper herauskam.

Die Uraufführung des Freischütz am 18. Juni 1821 im neu erbauten Schauspielhaus am Gendarmenmarkt war ein unermesslicher Erfolg. Kaum eine andere Oper ist je schon bei der ersten Aufführung von Publikum so gefeiert worden. Und die Beliebtheit hat bis heute kaum nachgelassen. 

Die Geschichte vom Schwarzen Jäger hat auch unabhängig von der Oper bis heute ihre Attraktivität bewahrt: 1990 wurde in Hamburg The Black Rider uraufgeführt, den Tom Waits (*1949) und William S. Burroughs (1914–1997) auf Anregung uns zusammen mit Robert Wilson (*1941) schrieben, eine moderne Version der alten Geschichte, die inzwischen auch schon historisch geworden ist.

Der Volkshochschulkurs in Zehlendorf geht Corona-bedingt erst am 23. Oktober weiter.
Bis dann, ich freue mich, Ihr Curt A. Roesler

Samstag, 7. September 2024

Start in die neue Opernsaison

Liebe Opernfreunde, es geht wieder los: am 18. September treffen wir uns zu den traditionellen »Zehlendorfer Operngesprächen«. Danach gibt es eine kleine Pause, bis wir in neun weiteren Gesprächsrunden die erste Hälfte der neuen Spielzeit in Berlin und anderswo besprechen, denn ich bin noch einmal 14 Tage außerhalb von Berlin.

Ein Überblick ist schnell gemacht: bis zum Januar bringen die drei Berliner Opernhäuser in zehn Premieren Werke von neun verschiedenen Komponisten neu auf die Bühne; nehmen wir sie einmal alphabetisch: Charles Gounod, Georg Friedrich Händel, Engelbert Humperdinck, György Kurtág, Jacques Offenbach, Ottorino Respighi, Stephen Sondheim, Richard Strauss, Giuseppe Verdi. Die meisten kennen Sie natürlich, sie tauchen regelmäßig in unseren Gesprächen auf. Aber selbst einer von den selteneren, Ottorino Respighi, kam in den letzten 20 Jahren schon einnal mit einer Premiere an der Deutschen Oper Berlin vor und wurde in der Zehlendorfer VHS dementsprechend schon einmal bedacht, Ottorino Respighi. Wirklich neu dürfte Ihnen György Kurtág sein und vermutlich auch Stephen Sondheim. Zu den beiden werden wir im November kommen.

Vorher noch sind Sie alle eingeladen, am 13. September, 19.00 Uhr in den Piscator-Saal ins »Kulturvolk« zu kommen (im Verwaltungsgebäude der ehemaligen Freien Volksbühne, die jetzt Kulturvolk heißt, Ruhrstraße 6, 10709 Berlin). Da werde ich im Rahmen eines »Gesellschaftsabends« der Gesellschaft für Theatergeschichte e. V. einen Vortrag über die Interpretationsgeschichte von Don Giovanni halten. So ähnlich kam das auch schon einmal bei den Zehlendorfer Operngesprächen vor (ich glaube es war in der Corona-Zeit, also nur online), aber mit Mozarts Meisteropern kann man sich nie genug befassen.

Am 18. September dann also in Zehlendorf ein Überblick über das Herbstsemester und eine kurze Einführung zu La fiamma von Ottorino Respighi (Premiere an der Deutschen Oper Berlin am 29. September). Die weiteren neun Termine habe ich mir folgendermaßen zurechtgelegt – für einige Abende sind Alternativen aufgeführt, also Sie können sich noch etwas wünschen:

9. Oktober
Nabucco von Giuseppe Verdi (Premiere in der Staatsoper Berlin am 2. Oktober)
oder Der Freischütz vn Carl Maria von Weber (Premiere in Cottbus am 19. Oktober)
16. Oktober
Mefistofele von Arrigo Boito (Premiere in Dresden am 28. September mit Aufführungen bis 24. Oktober)
oder Le Grand Macabre von György Ligeti (Premiere in Wiesbaden am 28. September mit Aufführungen bis 31. Oktober)
23. Oktober
Königskinder von Engelbert Humperdinck (Premiere in Münster am 12. Oktober mit Vorsellungen bin 18. Januar)
oder Fedora von Umberto Giordano (Premiere in Genf am 12. Dezember)
30. Oktober
Roméo et Juliette von Charles Gounod (Premiere in der Staatsoper Berlin am 10. November)
6. November
Sweeney Todd von Stephen Sondheim (Premiere in der Komischen Oper im Schillertheater am 17. November)
13. November
Macbeth von Giuseppe Verdi (Premiere in der Deutschen Oper Berlin asm 23. November)
20. November
Fin de partie (oder auch Endgame) von György Kurtág (Premiere in der Staatsoper Berlin am 12. Januar)
27. November
The Listeners von Missy Mazzoli (Premiere in Essen am 25. Januar) 
oder 2 x Zemlinsky = Der Kreidekreis (Premiere in Düsseldorf am 1. Dezember) und Kleider machen Leute (Premiere in Cottbus am 25. Januar)
4. Dezember
Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss (Premiere an der Deutschen Oper Berlin am 26. Januar)

Den endgültigen Plan verabreden wir gemeinsam am 18. September und selbstverständlich können Sie jederzeit Änderungswünsche anbringen. Es kann auch von Woche zu Woche noch Modifizierungen geben, wir bleiben darüber im Gespräch.

Wenn Sie sich jetzt schon ein wenig mit La fiamma befassen wollen: es gibt zwei Aufnahmen bei Youtube, eine ist aus Rom von 1997, Nelly Miricioiu singt die Hauptpartie. Die andere ist acht Jahre früher in Barcelona entstanden, dort singt Monserrat Caballé

Die Handlung fer Oper dreht sich um Anne Pedersdotter, die 1590 in Bergen (Norwegen) als Hexe verbrannt wurde. Der heute wenig bekannte Schriftsteller Hans Wiers-Jenssen hatte 1908 ein Theaterstück über sie geschrieben, das nicht nur von Ottorino Respighi zur Grundlage für seine Oper gemacht wurde, sondern auch von Carl Theodor Dreyer für seinen Spielfilm Tag der Rache (Vredens dag, 1943) verwendet wurde, den Sie hier sehen können.

Dann also bis 18. September, ich freue mich auf den Kurs,
Ihr Curt A. Roesler



Dienstag, 19. März 2024

Abschluss des Frühjahrskurses

Mit Le nozze di Figaro beenden wir den Frühjahrskurs in den »Zehlendorfer Operngesprächen.« Die Partitur von Wolfgang Amadeus Mozart ist so etwas wie eine Bibel für die Opernschaffenden. Sie kommt hier nicht zum ersten mal vor, zuletzt sprachen wir in der Corona-Zeit über die drei Operrn, die Mozart mit Lorenzo da Ponte geschrieben hat, davor – und das ist jetzt mehr als acht Jahre her – anlässlich der letzten Neuinszenierung Le nozze di Figaro an der Berliner Staatsoper.

Es ist das Werk, mit dem Daniel Barenboim sich 1978 in Berlin als Operndirigent eingeführt hat. Von Siegfried Palm wurde er an die Deutsche Oper Berlin verpflichtet, als Regisseur kam Götz Friedrich dazu, der bis 1972 an der Komischen Oper gewirkt hatte und seit 1977 an der Deutschen Oper. Beide hatten danach leitende Funktionen in der Berliner Kultur, Götz Friedrich 1981 bis zu seinem Tod 2001 als Generalintendant und Chefregisseur der Deutschen Oper, Daniel Barenboim seit 1992 als Chefdirigent der Staatsoper. Götz Friedrich hat die Inszenierung zeit seines Lebens mit regelmäßigen Auffrischungsproben lebendig erhalten und sie ist auch heute noch zu sehen, allerdings mit großen Einschränkungen im Bühnenbild. Einige Erfindungen von Götz Friedrich sind noch da, so der Sprung des Cherubino in den Orchestergraben, aber ansonsten wird es schwierig, da die ersten Spielleiter ebenfalls schon verstorben sind und die einzige Spielleiterin, die noch mit Götz Friedrich gearbeitet hat, demnächst in Rente geht.

Daniel Barenboim seinerseits suchte ständig die Auseinandersetzung mit dem Werk und hat es in mehreren Inszenierungen an der Staatsoper herausgebracht, die letzte allerdings im November 2015 dirigierte er nicht selbst. Er überließ den Taktstock Gustavo Dudamel, das Ergebnis (Inszenierung vom ehemaligen Intendanten Jürgen Flimm) ist nach wie vor hier zu sehen. Das Schillertheater übrigens, wo die Staatsoper damals spielte, ist der ideale Ort für diese Oper.

Am Anfang der Auseinandersetzung mit Le nozze di Figaro steht die Frage, ob denn die Oper von Mozart genauso »revolutionär« sei wie die Vorlage von Beaumarchais, La folle journée ou Le mariage de Figaro. Leicht kann man dabei auf Äußerungen des Librettisten Lorenzo da Ponte hereinfallen. Er nämlich musste gegenüber dem Kaiser rechtfertigen, wieso ein Stück, das von der Zensur verboten worden war, als Oper aufgeführt werden soll. Also musste er alles Revolutionäre herunterspielen, sonst hätte er das Ziel niemals erreichen können. Und ja: so explizit wie Figaro im 5. Akt des Tollen Tages seinen Dienstherrn als Nichtsnutz beschimpft, tut das der Bassbariton in seiner Arie des 4. Aktes nicht. Er bleibt im Persönlichen der Eifersucht stecken und fordert die Welt auf, die Augen aufzumachen (»Aprite un po' quegl' occhi«) und er gibt keine konkreten Empfehlungen für die Konsequenzen. Aber das ist in einer Oper ohnehin nicht notwendig, denn in der Oper kommt zu den Worten noch etwas Entscheidendes hinzu: die Musik. Und wer möchte behaupten, dass Mozarts Musik nicht revolutionär sei?

Also lassen wir den Streit und wenden wir uns der Musik zu, die zum Bedeutendsten gehört, was je für die Bühne geschrieben wurde. Die Trennung zwischen klavierbegleiteten Rezitativen für den Fortgang der Bühnenhandlung und Arien als kontemplative Ruhepunkte oder auch emotionale Ausbrüche ist genretypisch gewahrt. Doch dazwischen liegen die Ensembles: Duette, Terzette und ein Sextett. Und dazu kommen drei ausgedehnte Finali, in denen alle rezitativischen Abschnitte vom ganzen Orchester begleitet sind, kleine Dramen für sich. Auf das Finale des zweiten Aktes, das über 20 Minuten dauert (in einer üblichen Opera buffa der Zeit sind die Finali meist sehr kurz) war Mozart besonders stolz. Aber auch das letzte Finale, in dem sich eine in der Zeit beliebte Komödien-Situation wiederholt, wurde zum Vorbild für Finali im 19. Jahrhundert, bis Verdi mit seinem verlöschenden Ausklingen in Aida einen neuen Standard setzte.

Verwechslung gehört zur Grundausstattung aller Komödien. Im ersten Finale ist das Überraschungmoment – nicht für den Zuschauer, der weiß es schon vorher, sondern für das Grafenpaar – dass tatsächlich, wie von der Gräfin behauptet, Susanna aus dem Kabinett kommt und nicht Cherubino, den der Graf erwartet und den auch die Gräfin annehmen muss. Am Schluss tauschen Susanna und die Gräfin ihre Kleider, um ihre Männer in den Senkel zu stellen. Figaro merkt schnell, dass die »Gräfin« in Wirklichkeit Susanna ist. Und so kann er – ohne irgend etwas Unmoralisches zu tun – den Grafen eifersüchtig machen. Und ihn blamieren, wenn sich »Susanna«, mit der dieser sein Rendezvous genießen wollte, als Gräfin entpuppt. Ganz ähnliche Situationen bietet etwa L'amant jaloux von Grétry an, eine opéra comique von 1778.

Jede der 29 musikalischen Nummern in Le nozze di Figaro ist ein Lehrstück ganz eigener Prägung, und fast jede dieser Nummern ist Unterrichtsstoff an den Musikhochschulen. Wer ein Bariton werden will, muss »Hai gia vinta la causa –Vedrò mentre io sospiro«, Retzitativ und Arie des Figaro aus dem 3. Akt im Schlaf beherrschen. Wer eine Karriere als Bassbuffo anstrebt, muss »La vendetta«, die Arie des Bartolo aus dem ersten Akt, herausbringen, ohne sich die Zunge zu brechen. Und die Duette gehören in den szenischen Unterricht. »Vi resti servita«, Susanna und Marcellina im ersten Akt müssen zeigen, dass sie einander die Augen auskratzen und trotzdem im Takt singen können. »Cosa sento«, das Terzett Susanna, Basilio und Conte, ebenfalls aus dem ersten Akt, ist ein Stück mit vier handelnden Personen, denn Cherubino ist von Anfang an mit dabei, doch wird er erst in der Mitte des Stücks entdeckt, und wenn nun noch einmal die gleiche Musik erklingt, erklingt sie anders.

Am Mittwoch mehr davon,

Ihr Curt A. Roesler

Dienstag, 12. März 2024

Lortzing, noch einmal

Es ist noch kein halbes Jahr, dass wir uns mit Lortzing befasst haben, ich verweise auf den damaligen Beitrag, der ist noch nicht veraltet, er ist hier zu finden (und darin finden sich weitere Verweise und vor allem Links zu Ton- und Videoaufnahmen). Der heutige Beitrag gibt nur noch ein paar kleine zusätzliche Anmerkungen zu Hans Sachs. 1825 war in Leipzig der »Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig« gegründet worden, die Urzelle der bis heute bestehenden Leipziger Buchmesse. Schon 1632 war die Leipziger Messe bedeutender geworden als Frankfurt am Main, was Bücher betrifft. 1840 galt es, ein Jubiläum zu feiern: 400 Jahre Buchdruckkunst. So genau kann man das, was in den 1440er Jahren in Mainz vor sich ging, aber eigentlich gar nicht datieren. Johannes Gutenberg jedenfalls war 1440 gar nicht in seiner Geburtsstadt Mainz, sondern in Straßburg, und auch der Haarlemer Laurens Jansszoon Coster hatte erst um 1442 einen Schüler namens Johannes samt Typen und Werkzeug nach Mainz verloren. Die Costerschen Typen waren übrigens noch aus Buchenholz und nicht aus Blei, aber auch damit konnte man ganze Bücher drucken.

Nun also die »Säcularfeier«. Felix Mendelssohn Bartholdy schrieb zuerst einen Festgesang zum Gutenbergfest für Männerchor und zwei Blasorchester, der auf dem Marktplatz aufgeführt wurde. Davon gibt es nur diese Aufnahme mit Klavier. Ein zweites Werk schrieb er für das Gewandhaus-Orchester und die Thomas-Kantorei, eine große Sinfoniekantate mit dem Titel Lobgesang, die zweite seiner fünf Sinfonien. Hier gibt es eine schöne Aufnahme aus dem Kloster Eberbach (passt doch zu Lortzing...) mit Alain Altinoglu. Das Kirchenlied »Nun danket alle Gott«, das auch im Festgesang zitiert wird, spielt dabei eine große Rolle. Für den protestantischen Kirchenmusiker Mendelssohn bedeuete Gutenberg natürlich vor allem: Gutenbergbibel. Deswegen suchte er sich Texte in der Bibel für sein Werk, das am 25. Juni 1840 in der Thomaskirche zur Uraufführung kam. Zwei Tage davor hatte im Leipziger Stadttheater Hans Sachs von Albert Lortzing seine Premiere.

Lortzing und seine Schauspielkollegen Philipp Reger (1804–1857) und Philipp Jacob Düringer (1809–1870), die ihm beim Libretto halfen, nahmen sich dafür ein Schauspiel des Burgtheaterdirektors Johann Ludwig Deinhardstein (1790–1859) zur Vorlage. Deinhardstein befasste sich gern mit Künstlerpersönlichkeiten in dramatischer Form. Fünf davon veröffentlichte er später unter dem Titel Künstlerdramen (1845, Leipzig). Boccaccio war 1816 sein erster großer Erfolg, Hans Sachs folgte 1827 und Garrick in Bristol 1832. 1847 schrieb er noch Fürst und Dichter, der Dichter darin ist Goethe. 

Laut Libretto spielt Hans Sachs 1517. Im Jahr davor war Sachs von der Gesellenwanderung wieder nach Nürnberg zurückgekommen, aber Meister war er natürlich noch nicht, das wurde er erst 1520. Dem Kaiser Maximilian I. war er in Innsbruck auf der Wanderung begegnet und die Begegnung soll ihn dazu animiert haben, den Minnesang zu studieren. Geheiratet hat er 1519 und zwar die Bergbauerntochter Kunigunde Creutzer aus Markt Wendelstein. Eoban Hesse ist die vierte historische Figur in dem Spiel, ebenfalls mit Ungenauigkeiten, denn Helius Eobanus Hessus (oder Eoban Koch) kam erst 1526 nach Nürnberg und zwar nicht als Ratsherr, sondern als Rhetorik- und Poetik-Professor, und auch nicht aus Augsburg, dort hatte er gar nichts zu tun, sondern aus Erfurt. Die Verbindung Maximilians I., der 1519 starb, mit Nürnberg hat außer Hans Sachs nooch einen berühmten Namen: Albrecht Dürer.

Also vier Namen auf dem Personenzettel von Hans Sachs sind geschichtsträchtig: Kaiser Maximilian I., Hans Sachs, Kunigunde und Eoban Hesse. Dazu kommen die erfundenen Figuren Meister Steffen (als Goldschmied das Vorbild für Wagners Veit Pogner), der (und nicht ein Bergbauer) der Vater Kunigundes sein soll, Cordula, eine Nichte Steffens, Görg, Lehrbursche Sachsens und damit Vorbild für David, Meister Stott, als erster Merker Vorbild für Wagners Beckmesser, sowie zwei Ratsherren, zwei Bogenschützen und die Frau Saberl, eine Zeltwirtin.

Die Handlung nimmt manches vorweg, was Wagner in den Meistersingern von Nürnberg weiterspinnt, aber einige Punkte sind ganz anders: so ist Wagners Sachs gar nicht jung, sondern schoon Witwer, und er hat in Walther von Stolzing einen ganz anderen Gegenspieler, als das Görg ist bei Lortzing, der ihm das Lied stiehlt und wegwirft, oder Eoban Hesse oder Maximilian I.

Der Sängerwettstreit steht bei Lortzing im zweiten Akt und hat damit eine zentrale Stellung (nicht so in der CD-Aufnahme mit Karl Schmitt-Walter, wo der zweite Akt mit dem zweiten Bild des ersten Aktes anfängt); eine Entführung wird im zweiten Akt auch geplant, es ist aber Sachs, der Kunigunde entführen will, er wird erwischt und aus der Stadt verbannt. Heimlich kehrt er im dritten Akt zurück, um den Kaiser zu sehen, dabei wird Eoban mit dem falschen Lied, das er nun als seins behauptet, erwischt und seinerseits aus der Stadt verbannt. Allgemeiner Jubel.

Mehr am Mittwoch,
Ihr Curt A. Roesler

Dienstag, 5. März 2024

Minimal Music und Oper

Nixon in China, die Oper, die im Juni, fast 37 Jahre nach ihrer Uraufführung, zur Berliner Erstaufführung kommt, ist keineswegs die erste Oper, die nach den Prinzipien der Minimal Music komponiert wurde. Das ist, wenn schon, Einstein on the Beach (1976), von den Berliner Opernhäusern bisher ebenso ignoriert wie alle anderen Werke dieser Kategorie. John Adams, Jahrgang 1947 wird bereits zur »zweiten Generation« der Minimal Komponisten gezählt, während Philip Glass, der Komponist von Einstein on the Beach (und Satyagraha, und Akhnaten sowie bisher 24 weiterer Opern) noch zur »ersten Generation« gehört, obwohl er nur zehn Jahre älter ist. Übrigens: alle vier Komponisten, die man als Gründer der Minimal Music bezeichnen kann, sind Amerikaner, und alle vier, zwischen 1935 und 1937 geboren, leben noch: Terry Riley, La Monte Young, Steve Reich, Philip Glass.

Vielleicht wäre es genauer, statt von der »zweiten Generation« von einer »internationalen Generation« zu sprechen, den hier sind erstmals Europäer dabei. Neben den Amerikanern Frederic Rzewski (1938–2021) und John Adams (um nur die prominentesten zu erwähnen), werden dabei u. a. zwei Deutsche genannt, von denen einer, der Berliner Erhard Grosskopf, sogar ein Jahr älter ist als Terry Riley und La Monte Young. Der andere, Peter Michael Hamel, ist gleich alt wie John Adams. Wer seit 40 Jahren alle Produktionen an der Deutschen Oper Berlin gesehen hat, wird zumindest den Namen Erhard Grosskopf kennen, 1987 wurde Lichtknall von ihm als Ballett produziert, von Lucinda Childs choregrafiert, von Achim Freyer ausgestattet und inszeniert. Lucinda Childs ist auch mit John Adams seit 1983 verbunden, er schuf die elektronische Musik für Available Light, inzwischenauch etwa im Hebbeltheater gezeigt. Achim Freyer, war der Regisseur und Bühenbildner der Deutschen Erstauffühurng Satyagraha 1981 in Stuttgart, war also ebenfalls schon früher mit Minimal Music in Berührung gekommen. Grosskopf übrigens vermied es damals, sich als Minimalisten zu bezeichnen, lieber wies er auf die Wurzeln in der Reihenkomposition Arnold Schönbergs hin, die ihn zu seinen Lösungen brachte. Es gab in Deutschland damals eine gewisse Skepsis gegenüber allem, was »über den großen Teich« kam, und dazu gehörte Minimal Music. Die weiteren bisher genannten Komponistennamen werden den meisten von Ihnen unbekannt sein. In der »zweiten« oder »internationalen« Generation aber taucht der Name eines Engländers auf, der zumindest den Filmfans unter Ihnen bekannt sein könnte. Wer hat nicht 1993 den Oscar-Prämierten Film The Piano von Jane Campion gesehen? Die Musik stammte vom 1944 geborenen Michael Nyman. Hier ist die Titelmelodie zu hören. Der aggressive Klavieranschlag des Komponisten gefällt mir nicht wirklich, wenn er auch zu der rauen Geschichte passt. Das ist aber nur ein Problem, wenn man die Musik ohne die entsprechenden Bilder hört. Wie man hier sehen und hören kann, wo die Klaviermusik den Moment begleitet, wo Ada as Klavier vo Bord werfen lässt und erst nicht klar ist, ob sie sich selbst zusammen mit dem Klavier im Meer versenken will. Die Melodie ist jedoch eine Erfindung, die sich weiterspinnen lässt, wie in diesem Arrangement, das zwischen »Klassik« und »Unterhaltung« liegt, »easy listening« gewissermaßen.

Was aber ist »Minimal Music«, wo kommt sie her? In der Musikgeschichte gibt es mehrere Übergänge, wo das Neue nicht darin bestand, das Herkömmliche immer noch komplexer zu machen, sondern es zu vereinfachen. Einen solchen Übergang haben wir im 18. Jahrhundert, als die Söhne und andere Nachfolger Bachs, sich weigerten den Kontrapunkt noch vielstimmiger und undurchsichtiger zu machen, um zu etwas Neuem zu gelangen, sondern ihre Musik auf einfache Melodien und Begleitungen reduzierten. Oder am Anfang des 20. Jahrhunderts, als Igor Strawinsky mit Histoire du soldat ein Musiktheater erfand, das mit wenigen Instrumenten und Darstellern den größtmöglichen Gegensatz zu den nach Wagner immer noch größer gewordenen Orchestern mit kaum noch beherrschbaren Klangmassen darstellte. Oder eben 1960 mit der Entwicklung in den Künsten zu einer möglichst konsequenten Reduktion. Das Stichwort dazu ist »Fluxus«, eine vom litauisch-amerikanischen Künstler George Maciunas (1931–1978) gegründete Bewegung in der Kunst. In New York fanden die ersten entsprechenden Veranstaltungen 1961 statt und schnell kam die Bewegung nach Wiesbaden, wo Maciunas mit der US-Army stationiert war. Hier traf sie auf Künstler wie Nam June Paik, Wolf Vostell und Joseph Beuys, die schon ähnliche Konzepte einer Aktionskunst ausprobiert hatten. An der Fluxusbewegung waren immer auch Musiker beteiligt wie John Cage und Karlheinz Stockhausen. Aber parallel dazu gab es Komponisten, die sich auf das musikalische Material konzentrierten. So schrieb der schon erwähnte La Monte Young 1960 die Composition 1960 No. 7, die aus nur zwei Tönen im Quintabstand (h und fis) besteht und in beliebiger Besetzung aufgeführt werden kann. Die Dauer ist nicht fest vorgeschrieben (die Anweisung ist: »To be held for a long time«), es gibt Realisierungen, die über eine Stunde dauern und welche, die sich auf 10 Minuten beschränken. Der musikalische Verlauf aus Abwechslung und Repetition entsteht aus dem Zusammenklang und aus möglichen improvisierten Abweichungen vom reinen Ton. Es kann also so klingen von einem gemischten Ensemble oder so von einem Steichquartett. die Uraufführung 1961 wurde von einem Streichtrio realisiert und dauerte 45 Minuten. Eine minimalistische Aufführung will ich Ihnen zum Schluss auch nicht vorenthalten, sie wird auf einem entsprechend eingestimmten Hurdy-Gurdy gespielt (ohne Melodie, nur die Bordunsaiten werden benutzt) und dauert eine Minute und zehn Sekunden.

Wesentliches Charakteristikum der Minimal Music ist die Repetition. Das trifft übrigens auch auf Composition 1960 No. 7 zu, denn auf fast jedem Instrument muss man mehrmals ansetzen, um die Töne für eine lange Zeit halten zu können. Eine weitere ikonische Komposition der Minimal Music ist In C (1964) von Terry Riley, hier in einer CBS-Tonaufnahme von 1968. Die Komposition besteht aus 53 »Modellen«, kleinen rhythmischen und melodischen Keimzellen, die von einer beliebigen Anzahl von Musikern durchgespielt werden, wobei sie die Freiheit haben, jedes einzelne Modell beliebig oft zu wiederholen. Zusammengehalten wird das Stück durch das unablässig wiederholte ganz hohe C des Klaviers. Hier die Tonaufnahme von 1968 mit Terry Riley selbst am Saxophon. Und hier eine aktuelle Aufführung aus Prag (ohne Klavier, das geht auch), die fast doppelt so lange dauert und bei der der schweizerische Posaunist Roland Dahinden mitwirkt, der auch sein Alphorn mitgebracht hat. 1965 veröffentlichte Steve Reich, der dritte unter den ersten vier Minimal Komponisten It'gonna rain. Auch diese Komposition basiert auf unablässiger Repetition und sie führt das Tonbandgerät als Musikinstrument ein. Grundlage sind zwei identische Tonbänder von einem banalen Satz über den Regen, die versetzt abgespielt werden. Die Aufnahme wurde 1964 in San Frncisco gemacht und zu hören ist ein Pfingstprediger; im ersten Teil ist es tatsächlich nur der eine Satz, interessanter wird es im zweiten Teil, wo die Zeitverschiebung zwischen den beiden Tonbandmaschinen deutlicher wahrzunehmen ist. Hier die Originalkomposition, der zweite Teil beginnt bei etwa 8 Minuten. 

Bevor wir zur Oper kommen, noch ein kurzer Überblick über die Vorgänger der Minimal Music, also reduzierte Musik seit 1900, und über weitere Einflüsse. Fangen wir bei Erik Satie (1866–1925) an, dem von den Akademikern immer wieder gesagt wurde, er würde sich zu wenig um die Form in seinen Werke kümmern. Er reagierte darauf 1903 mit einem Werk für vierhändiges Klavier Trois Morceaux en forme de poire avec une manière de commencement, un prolongement du même et un en plus suivi d’une redite (Drei Stücke in From einer Birne mit einer Art Anfang, einer Verlängerung und noch einer, gefolgt von einer Wiederaufnahme). Jedes Wort dieses langen Titelsist eine Verhöhnung des akademischen Musikbetriebs, so sind es etwa nicht drei sondern sieben Stücke und die Wiederaufnahme stellt eine völlig neue Musik dar. Satie ist dem Dadaismus nah (der allerdings erst 1916 gegründet wurde), wie die Minimalisten es der Fluxusbewegung sind. Hier mit Noten. Charles Ives (1874–1954) schrieb 1906 The Unanswered Question, ein Werk in drei Ebenen: ein Streicherensemble, das mit lange liegenden Akkorden eine Grundlage bildet; ein Ensemble von 4 Flöten, die an einigen Stellen überhaupt nicht dazu passende schnell bewegte Kommentare abgeben; eine ferne Trompete, die eine Melodie in einem ganz anderen Takt spielt. Hier das Rundfunkorchester des Hessischen Rundfunks unter Andrés Orozco-Estrada. Die Gleichzeitigkeit von verschiedenen, auf einfachen Partikeln (Patterns) bestehenden musikalischen Elementen, ist ebenso ein Charakteristikum der Minimal Music. John Cage (1912–1992) schließlich erfand eine Musik der Stille mit 4'33", vier Sätze »Tacet« (heißt: »hat hier nicht zu spielen«) für alle beteiligten Instrumente. Hier aufgeführt von Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern, kurz vor dem zweiten Corona Lockdown. Das Erkunden der Stille ist ebenfalls ein Element in der Minimal Music, wenngleich man gerade bei den Opern eher einen gegenteiligen Eindruck gewinnt, also den Versuch, Wagner an Bombast noch zu übertreffen. Wie die gesamte westliche Kultur der 1960er Jahre sind auch die Minimalists von der Neuentdeckung Indiens geprägt. Ravi Shankar (1920–2012) bereiste die ganze Welt mit seiner Tabla und machte nicht nur das indische System der Ragas (eine Zusammenfassung von Tonarten und Spielanweisungen für den jeweiligen Charakter eines Stücks) und der Talas (Zeiteinteilungen, die nicht mit den westlichen Taktarten zu vergleichen sind), sondern auch die indische Philosophie bekannt. Die Beatles reisten nach Indien, die Gurus verschiedenster Richtungen hatten großen Zulauf, die Ashrams (Einsiedeleien) wurden von Westlern bevölkert. Und damit kommen wir endlich zu Philip Glass. 1965 traf er in Paris Ravi Shankar, der dort war, um die Musik für den LSD-Film Chappaqua, in dem er auch selbst mitwirkte, aufzunehmen. Shankar brauchte jemanden, der seine Musik in westliche Notation brachte, damit sie von örtlichen Musikern gespielt werden konnte. Ornette Coleman, der auch in dem Film mitwirkt, schrieb ursprünglich die Musik, die jedoch offenbar nicht oder nur teilweise verwendet wurde. Das Ergebnis gibt es auch auf YouTube, hier. Glass vertiefte sich in die indische Musik, lernte Tabla spielen, wurde Buddhist, traf den Dalai Lama und blieb in ständigem Kontakt mit Ravi Shankar, wovon das Album Passages von 1990 zeugt, hier zu hören.

Mit Robert Wilson entwickelte er 1975 das Konzept für Einstein on the Beach, alles andere als eine konventionelle Oper, aber auch nicht eine avantgardistische Kampfansage an das Genre wie Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann oder der LICHT-Zyklus von Karlheinz Stockhausen. Eine durchgehende, nachvollziehbare Handlung hat Einstein on the Beach ebensowenig wie die darauf folgenden Satygraha und Akhnaten. 1976 kam Einstein on the Beach in der Regie von Robert Wilson und mit Lucinda Childs als Darstellerin und Choreografin in Avignon heraus. Um die Oper auch in seiner Heimat zu zeigen, mietete Glass die Metropolitan Opera an, zwei ausverkaufte Aufführungen bescherten ihm einen Haufen Schulden. In Berlin ist das Werk bisher nur 2001 von einer freien Truppe in der ehemaligen Staatsbank der DDR gezeigt worden. 2014 brachte das Theatre du Châtelet in Paris eine Neuproduktion durch Robert Wilson, Lucinda Childs und den Dirigenten Michael Riesman, der auch schon bei der Urauffühurng dabei war. Die Produktion wurde übertragen und bei YouTube haben sich größere Ausschnitte erhalten, die in dieser Playlist zusammengfasst sind. Es fehlen namentlich der Prolog und die Knee Plays (Vor- und Zwischenspiele, Knee Play 5 ist eine Art Epilog) 1, 2 und 5, sowie die erste Szene des driten und die zweite Szene des 4. Aktes.

Inzwischen spielt die Metropolitan Opera Philip Glass in eigenen Produktionen, so 2019 Akhnaten mit weltweiter Kinoübertragung. Kann man auf deren Hompage leihen. Öffentlich zugänglich ist natürlich nur der Trailer. Aber kommen wir nun endlich zu John Adams. Er war an der Harvard University Schüler von Leon Kirchner (1919–2009), der seinerseits in Kalifornien bei Arnold Schönberg studiert und dessen Tochter Gertrude geheiratet hatte. Seine erste minimalistische Komposition legte Adams 1977 vor, Phrygian Gates für Klavier solo. Hier zu hören mit Noten, die Nähe zu In C ist unverkennbar. Er zog nach San Francisco, wo 1981 sein Chorwerk Harmonium zur Uraufführung kam, das auch die Aufmerksamkeit von Sir Simon Rattle auf sich zog, der es zuerst in Birmingham und 1990 bei den »Proms« in London zur Aufführung brachte. Inzwischen ist es dort schon eine Art Klassiker, hier die Aufnahme von 2017 mit dem BBC Symphony Orchestra and Chorus. 1982 bis 1985 war er »Composer in residence« bei der San Francisco Symphony, deren Chefdirigent Edo de Waart war.  Den Abschluss bildete Harmonielehre, ein dreiteiliges Orchesterwerk, das inzwischen ebenfalls zu den ikonischen Stücken der Minimal Music gehört. Der Titel ist eine Hommage an den Lehrer seines Lehrers, dessen theoretische Schrift Harmonielehre, zur Pflichtlektüre aller Komponisten gehört. Hier eine Aufnahme vom Mostly Modern Festival in Saratoga Springs NY 2019.

Schon 1983 traf er den jungen Regisseur Peter Sellars, der mit Inszenierungen der Da-Ponte-Opern Mozart Furore gemacht hatte und der im Folgejahr als Direktor des American National Theatre im Kennedy Center nominiert wurde. Die Mozart-Inszenierungen, die in einem Diner in Cape Cod in einem Luxus-Appartement im Trump-Tower und in der New Yorker Harlem City spielen, wurden auch als Fernsehfilme produziert. Sellars wollte, dass Adams eine Oper schreibt, weil er etwas Zeitgenössisches haben wollte, aber der sträubte sich zuerst. Vor allem wollte er einen erfahrenen Autor als Librettisten an seiner Seite haben. Erstaunlich, dass sie sich dann gemeinsam auf Alice Goodman einigten, eine junge Literaturwissenschaftlerin, die zwar auch schon ein paar Gedichte veröffentlicht hatte, die Adams gelesen hatte, die aber keinerlei Erfahrungen mit Theater oder Oper hatte. Als man sich auf ein Sujet geeinigt hatte, nämlich den Besuch Richard Nixons 1972 in China, war Adams Feuer und Flamme, weil er die Möglichkeit sah, aufzuzeigen, wie aus realen Ereignissen Mythen entstehen. Unter uns: das ist genau das Prinzip von Giulio Cesare in Egitto, Gustave III., Les huguenots, Le prophète, Don Carlos etc. Allerdings wird man kaum eine barocke, klassische oder romantische Oper finden, deren Hauptpersonen aus der realen Welt zum Zeitpunkt der Uraufführung nicht schon längst tot waren.

Außer der Washington Opera fanden sich als Auftraggeber noch die Brooklyn Academy of Music (dort gibt es ein wunderschönes Neo-Renaissance-Opernhaus mit 2100 Plätzen) und die Houston Grand Opera, wo das Werk am 22. Oktober zur Uraufführung kam, Peter Sellars inszenierte und John DeMain dirigierte. Sechs Hauptpersonen führt das Libretto auf: Richard und Pat Nixon, Bariton und Sopran, Mao Tse-tung und Chiang Ch'ing (Schreibweisen wie im Libretto), Tenor und Koloratursopran, Chou En-lai und Henry Kissinger, Bariton und Bass. Dazu kommen als Sidekicks drei Sekretärinnen Maos, Mezzosopran, Alt und tiefer Alt. Dass Henry Kissinger von einem Bass dargestellt wird, ist wohl klar, denn als Tenor hätte diese Figur wohl niemand akzeptiert. Die Verteilung Tenor–Bariton zwischen Mao und Nixon zwingt aber zum Nachdenken. Wieso ist Nixon nicht der Held und Mao der Bösewicht? Und wieso ist Maos Gattin Koloratursopran? Dass Chou En-lai Bariton ist, dem das Schlusswort zukommt, ist bleibt sicher unwidersprochen.

Von den drei Akten sind die ersten beiden in jeweils drei Bilder aufgeteilt. Es beginnt spektakulär mit der Ankunft der Nixons und Kissingers am Peking Airport, Chou erwartet sie, der Chor singt die Regeln der Disziplin und der Achtsamkeit ab, man tauscht Höflichkeiten aus und Nixon muss natürlich erwähnen, dass das alles historisch ist. Das zweite Bild bringt uns in Maos Büro, wo die Sekretärinnen die kryptischen Worte des »Überragenden Führers« sekundieren. Man tauscht Banalitäten aus. Das dritte Bild führt uns in die Große Halle des Volkes, wo Chou und Kissinger Toasts ausbringen. Kissinger, der weiß, dass man ihn als »Kommunistenfresser« kennt, versteigt sich zu: »I opposed China, I was wrong«. Im ersten Bild des zweiten Aktes folgen wir Pat Nixon bei einer Führung durch die Stadt, Fabrikarbeiter geben ihr einen Spielzeugelefanten, der wie sie anmerkt das Wappentier der Republikaner ist, der Partei, die ihr Mann anführt; in einer Schule erinnert sie sich an die eigene Zeit als Lehrerin. Im zweiten Bild ist sie in einem Sommerpalast, wo sie in einer Arie die wunderbare Zeit des Friedens voraussieht. Der absolute Höhepunkt kommt im dritten Bild, in der Peking Oper wird Das rote Frauenbataillon von Chiang Ch'ing zu Ehren der Gäste aufgeführt, die natürlich nichts davon verstehen, Pat Nixon versucht sogar einzugreifen und fordert eine wütende Arie Chiang Ch'ings heraus, in der sie die Kulturrevolution preist, worauf ein Revolutionschor folgt. Der dritte Akt ist eine Simultanszene der Schlafzimmer. Die Nixons erinnern sich an ihre Jugend im Zweiten Weltkrieg, wie sie sich um das Radio versammelten, auch Mao erinnert sich, Chiang war ein junger Star und suchte ihn in der Revolutionszeit auf, sie aber bleibt auf dem rechten Pfad: »The revolution must not end«; Chou ist alt und kann nicht schlafen, er resumiert sein Leben und fragt sich »How much of what we did was good?«

Eine Aufführung der Oper aus dem Pariser Théâtre du Châtelet von 2012 ist hier zu sehen. Die Fernsehübertragung der Uraufführung ist etwas versteckt, aber man findet sie auch auf YouTube, hier.

Dann also bis Mittwoch Abend, Ihr Curt A. Roesler