Montag, 27. Oktober 2025

Russische Oper bis Glinka

Mit einiger Verzögerung kam die Kunstform Oper in Russland an. Am streng orthodoxen Hof in Moskau nämlich galten Musikinstrumente als uangemessen. Lediglich in den deutschen Vorstädten gab es überhaupt Instrumentenbauer und Musiker, die ernst zu nehmen waren. Und selbst unter Peter I., der den Hof 1710 an das Baltische Meer in die von ihm gegründete Stadt St. Petersburg brachte, gab es zwar viele Nachahmungen westlicher Kultur und Lebensweise, aber nicht eine einzige Opernaufführung. Er kannte die Kunstform aber sicherlich. Zu der Zeit, als er sich in Paris und Versailles aufhielt, wurden in Paris Hypermnèstre von Charles-Hubert Gervais und Tancrède von André Campra aufgeführt. Ob er eine der Opern gesehen hat, habe ich allerdings nicht herausgefunden. Sicher ist, dass er den siebenjährigen König Louis XV. auf den Arm genommen hat, davon gibt es ein Bild, zu sehen in den Annalen von Versailles, hier.

Erst in der Zeit der Kaiserin Anna (Regierungszeit 1730–40, die »dunkle Epoche« genannt wegen der vielen erfolglosen Kriege, vom eigentlichen Machthaber Ernst Johann Biron befehligt) gab es Opernaufführungen in St. Petersburg. Unter ihrer Nachnachfolgerin Elisabeth II. gab es schon erste Bemühungen die italienische »opera seria« an den russischen Geschmack anzupassen, etwa dadurch, dass die Handlung nach Russland versetzt wurde. Das Publikum bestand selbstverständlich ausschließich aus Höflingen. Aber nicht alle beherrschten westliche Sprachen und daher wurden auch Übersetzungen zur Verfügung gestellt. Sie holte Francesco Domenico Araja nach St. Petersburg, der die erste Oper in russischer Sprache komponierte, Tsefal i Prokris, 1755. Zu einem richtigen Opernzentrum wurde St. Petersburg aber erst unter Katharina II. (Regierungszeit 1762–1796). Sie holte u. a. Giovanni Paisiello nach St. Petersburg, der dort von 1777–1783 zahlreiche Opern zur Uraufführung brachte, die den Weg über ganz Europa fanden, wie etwa Il barbiere di Siviglia, wir sprachen hier auch schon darüber. Von ihr gingen aber auch Bestrebungen aus, Oper noch weiter zu russifizieren. 1772 kam mit Anjuta von Wassili Alexejewitsch Paschkewitsch (1742–1797), Libretto von Michael Popow (1742–ca.1790), die wohl erste komische Oper in russischer Sprache im chinesischen Theater in Tsarskoye Selo auf die Bühne. Größeren Erfolg hatten die beiden mit der sieben Jahre später in St. Petersburg aufgeführten Oper Unglück wegen einer Kutsche. Für die erste russische Märchenoper lieferte Katharina II. selbst den Text: Fewej, Musik wiederum von Paschkewitsch, uraufgeführt am 19./30. April 1786 im Theater in der Eremitage in St. Petersburg. Der vollständige Titel klingt schon ganz ähnlich wie die Titel der Märchenopern von Rimsky-Korsakow, Сказка о царевиче Февее. Аллегорическая сказка (Die Legende vom Zarewitsch Fewej. Allegorische Legende). Paschkewitsch soll ukrainische Vorfahren haben, vielleicht sogar in der heutigen Ukraine geboren sein. Aber wie viele andere mit ukrainischen Wurzeln zählt er zu den Kunstschaffenden, die die russische Kultur prägten. Zwei weitere Werke von ihm sind noch zu erwähnen, Skupoi (Der Geizige, Libretto von Knjaschnin nach Molière, 1781) und Fedul und seine Kinder (noch ein Libretto von Katharina II., 1791, Gemeinschaftskomposition mit Vicente Martín y Soler, der 1788 bis 1794 in St. Petersburg weilte).

In dieser Zeit wirkten auch die Komponisten Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski (1751–1825, der ist wirklich in der heutigen Ukraine, bei Sumy, geboren) und Jewstignei Ipatowitsch Fomin (1761–1800). Bortnjanski kennt man hierzulande eher als Komponist geistlicher Werke (»Ich bete an die Macht der Liebe«), er hat in der ersten Zeit aber auch Opern geschrieben. In Italien, wohin ihn sein Lehrer Baldassare Galuppi (1765–68 fest in St. Petersburg) mitgenommen hatte, hatte er zwischen 1776 und 1779 mit mindestens drei Opern Erfolg. Zurück in St. Petersburg schrieb er noch vier Opern auf französische Libretti von Franz-Hermann Lafermière. Die bekannteste ist Le faucon (uraufgeführt 1786 in Gattschina, 45 km südlich von St. Petersburg). Davon gab es zu LP-Zeiten eine Gesamtaufnahme zusammen mit dem Geizigen von Paschkewitsch auf vier Schallplatten. Fomin wird gern erwähnt, wenn es um frühe russische Oper geht. Oft wird dabei Orfej angeführt. Dieses Bühnenwerk hat tatsächlich einen russischen Text (die Tragödie von Knjaschnin), ist aber keine Oper, sondern ein Melodram. Orpheus singt darin nicht – also nicht sein Gesang kann die Unterwelt erweichen, sondern nur sein Lyraspiel. Gesungen wird aber doch in dem Werk, nämlich vom wie in der antiken Tragödie kommentierenden Chor. Das ist eine Besonderheit des russischen Melodrams in Abgrenzung zu den Vorbildern von Rousseau und Benda. Den abschießenden Furientanz, komponiert 30 Jahre nach Gluck, hören Sie hier. Fomins bekannteste Oper ist Ямщики на подставе (Die Kutscher auf der Poststation, 1787). Auch davon gab es früher eine Schallplattenaufnahme, hier das Finale mit Beschreibungen, die ich natürlich nicht verstehe. Was wir von italienischen, französischen und deutschen komischen Opern nicht gewohnt sind: der große Anteil des Chores.

Michail Glinka – und jetzt müssen wir endlich zu ihm kommen – ist also keineswegs der erste Komponist, der Opern in russischer Sprache komponierte. Dennoch gilt er zu Recht als der »Vater der russischen Oper«, denn mit ihm erst begann die große Tradition des russischen Operngesangs. Michail Iwanowitsch Glinka wurde am 20. Mai / 1. Juni 1804 in Nowopasskoje im Gouvernement Smolensk geboren (damals russisch, seit 1924 zu Belarus gehörend). Er hatte eine abgeschiedene Kindheit. Aufgezogen von der Großmutter, waren seine einzigen musikalischen Eindrücke Kinderlieder und Kirchenglocken. Im Alter von zehn Jahren (die Großmutter war bereits gestorben und er lebte jetzt bei seinen Eltern) hörte er ein Klarinettenquartett von Bernhard Henrik Crusell (1775–1838) und war so begeistert, dass ihn die Musik nicht mehr losließ. Es muss sich um das erste Klarinettenquartett gehandelt haben, denn das zweite schrieb Crusell erst 1817. Hier kann man es hören. Für eine vermutlich angedachte Beamtenlaufbahn begann Glinka am Adelsinstitut in St. Petersburg zu studieren, wo einst auch Puschkin studiert hatte. Nachdem er schon in seiner Heimat Violine spielen gelernt hatte, nahm er nun bei John Field Klavierunterricht (das ist der, der das »Nocturne« für Klavier solo als erster, lange vor Chopin, verbreitet hat). Field zog aber bald nach Moskau weiter und Karl (Charles) Mayer übernahm Glinka als Schüler. Puschkins jüngerer Bruder studierte mit Glinka, aber vor allem der Lehrer Wilhelm Küchelbecker, ein glühender Dekabrist, begeisterte ihn für den großen Dichter, der 1820 mit dem Gedicht Ruslan und Ljudmila einen großen Erfolg feierte, sich damit aber auch bei den Herrschenden unbeliebt machte. Den Dekabristenaufstand im Dezember 1825 erlebte Glinka, jetzt Beamter in der Kanzlei des Verkehrsamtes, auf dem Senatsplatz mit, wo die blutige Niederschlagung begann. Danach zog er sich nach Novopasskoje zurück bis er 1830 endlich einen Reisepass bekam und nach Italien fahren konnte. Auf dem Weg durch Deutschland sah er zum ersten Mal Fidelio und lernte auch den Freischütz kennen. Im Dezember 1830 kam er in Mailand an, gerade rechtzeitig für die Aufführungen von I capuleti ed i Montecchi von Vincenzo Bellini, die ein Dreiviertel Jahr vorher in Venedig zur Uraufführung gekommen waren, an der Scala. Und zur Uraufführung der Anna Bolena von Gaetano Donizetti im Teatro Carcano. Im dritten Opernhaus Mailands, dem Teatro alla Canobbiana kommt im Frühjahr 1831 eine Neufassung der Le convenienze ed inconvenienze del teatro von Donizetti heraus. Im Dezember dann Norma von Bellini wieder an der Scala und im Früjahr 1832 zwei neue Donizettis – an der Scala Ugo, conte di Parigi und am Canobbiana L'elisir d'amore. Die drei Jahre, die Glinka in Mailand bleibt und von da aus die anderen Opernzentren Italiens besucht, gehören zu den produktivsten der italienischen Operngeschichte. 1833 traf er sich in Venedig mit Bellini anlässlich dessen Einstudierung der Beatrice di Tenda. Auch mit Felix Mendelssohn Bartholdy traf sich Glinka bei seinem Italienaufenthalt und zum ersten Mal mit Hector Berlioz. Klaviervariationen über Themen aus Anna Bolena und I capuleti ed i Montecchi schrieb er zweifellos auch zum eigenen Vortrag in Gesellschaften. Die Eindrücke von Venedig fasste er in die Venezianische Nacht für Singstimme und Klavier (hier vielleicht etwas zu elegisch zu hören). Das bedeutendste Werk aus der Zeit jedoch ist das Trio pathétique, das jedes klassische Klaviertrio in seinem Repertoire hat, wie hier z. B. David Oistrakh, Sviatoslav Knushevitsky und Lev Oborin. Komponiert ist das Trio allerdings für Klavier, Klarinette und Fagott, das klingt so.

Die Rückreise führte über Berlin, wo Glinka noch einmal »in die Schule« ging. Sein Lehrer war der nur fünf Jahre ältere Siegfried Dehn. Ein Musikwissenschaftler und Bilbliothekar. Später lernten u. a. Peter Cornelius und Anton Rubinstein bei ihm. Nach den Studien bei Dehn fühlte sich Glinka bereit für die Komposition seiner ersten Oper. Auf Anregung des bedeutenden russischen Dichters der Romantik Wassili Andrejewitsch Schukowski wählte er dafür einen Stoff, der schon einmal für die Opernbühne bearbeitet worden war. Es geht um eine Legende aus dem russisch-polnischen Krieg 1609–18. Ein einfacher Bauer namens Iwan Sussanin soll Michail Romanow vor plündernden und mordenden Kosaken gerettet haben, als der sich aus dem belagerten Moskau zur Krönung nach Kostroma begab, indem er die Kosaken auf eine falsche Fährte brachte, wofür diese ihn im Wald erschlugen. Die 1815 von Catterino Cavos komponierte und in St. Petersburg uraufgeführte Oper endet allerdings nicht mit dem Tod des Helden, sondern mit dessen Errettung. Die Oper von Cavos hat den Titel Iwan Sussanin. Diesen Titel sollte auch die Oper von Glinka erhalten, aber man entschied sich kurzfristig für Ein Leben für den Zaren, denn hier endet die Geschichte tragisch, so wie es die Legende will. In der Sowjet-Zeit wurde wieder der ursprüngliche Titel verwendet. Für die Komposition brauchte Glinka zwei Jahre, 1836 wurde die Oper in St. Petersburg uraufgeführt und stand viele Jahre neben Cavos' Iwan Sussanin im Repertoire. Von den Tonaufnahmen empfehle ich die von 1957 mit dem Orchestre Lamoureux und dem Chor der Belgrader Oper unter der Leitung von Igor Markevitch mit Boris Christoff als Iwan Sussanin, Teresa Stitch-Randall als Antonida und Nicolai Gedda als Sobinin. Die finden Sie bei den Streamingdiensten (Spotify, Naxos Music Library, Deezer etc.) hier gibt es nur den Epilog mit dem Chor. Und hier die Arie des Sobinin.

1837 begann Glinka seine zweite Oper, jetzt nach Puschkins Gedicht, das Glinka seit 1820 kannte, Ruslan und Ljudmila. Puschkin wollte sogar selbst das Libretto schreiben, aber dann liess er sich ja bekanntlich im Duell umbringen. 1842 wurde die Oper, die nun eine ganze Reihe von Textautoren hat, ebenfalls in St. Petersburg zur Uraufführung gebracht. Sie spielt in einem märchenhaften Russland, denkbar im Kiewer Reich, also im 9. oder 10. Jahrhundert. 1. Akt: Festsaal in Kiew Die Hochzeitsfeier für Ruslan und Ljudmila wird jäh unterbrochen von zwei Ungeheuern, die die Braut entführen. Der Brautvater verspricht demjenigen, der sie zurückbringt, die Hälfte seines Reiches und Ljudmilas Hand. Außer Ruslan wollen das auch Farlaf und Ratmir, die leer ausgegangenen Freier, versuchen. 2. Akt, 1. Bild: Finns Höhle Der gute Zauberer Finn erklärt, dass der böse Zauberer Tschernomor mit Ljudmila entflohen ist. Bevor er Ruslan in den Norden schickt, erzählt er seine eigene traurige Geschichte mit Naina, die ihn verfolgt. 2. Akt. 2. Bild: Öde Gegend Naina schickt Farlaf nach Hause und verspricht, ihm Ljudmila zu bringen. 2. Akt 3. Bild: Weites Feld Ruslan findet in der Wüste einen riesigen Kopf, der sich als Überbleibsel von Tschernomors ermordetem Bruder entpuppt, unter dem ein Schwert liegt, mit dem Ruslan Rache nehmen soll. 3. Akt: Nainas Zauberschloss Mädchen betören Reisende. Gorislawa, die verlassene Braut von Ratmir sucht diesen und findet ihn auch, aber er ist ebenso betört von den Mädchen wie der bald auftauchende Ruslan. Finn erscheint und erinnert Ratmir und Ruslan an ihre Bestimmung. Sein Zauberstab verwandelt das Schloss in einen Wald. 4. Akt: Tschernomors Zaubergärten Tschernomor wird von einer Trompete zum Kampf gerufen und versetzt die gefangene Ljudmila, die sich immer noch nach Ruslan sehnt, in einen Zauberschlaf. Tschernomor wird getötet aber dennoch dauert Ljudmilas Schlaf an. Ruslan, Ratmir und Gorislawa beschließen, die Heilkünstler Kiews um Hilfe zu bitten. 5. Akt, 1. Bild: Nachtlager in einem Tal Die vier  haben sich zur Ruhe niedergelassen, Ratmir ist froh, wieder mit Gorislawa vereint zu sein. Die schlafende Ljudmila wird erneut entführt, Ruslan eilt ihr nach. Finn erklärt, dass Ljudmila jetzt von Naina entführt wurde und gibt Ratmir einen Zauberring, mit dem er Ljudmila erwecken kann. 5. Akt, 2. Bild: Festsaal in Kiew Farlaf brachte Ljudmila nach Kiew, konnte sie aber nicht erwecken. Ruslan, Ratmir und Gorislawa erscheinen und bringen Ljudmila mit Hilfe des Zauberrings ins Leben zurück. Das Volk preist die Götter, das Vaterland und die Paare.

Die klassische Schallplattenaufnahme von Ruslan und Ljudmila stammt aus dem Jahr 1952 und wurde am Bolshoi-Theater in Moskau unter der musikalischen Leitung von Kirill Kondrashin gemacht. Die Besetzung ist allererste Güte. Den Ruslan singt Iwan Petrow, der auch als Boris Godunow international berühmt war. Über Vera Firsova gibt leider nur die russische Wikipedia Auskunft (das können Sie sich ja übersetzen lassen). Als ihre Glanzpartien werden dort außer Ljudmila und Antonina (Das Leben für den Zaren) u. a. Rosina (Il barbiere di Siviglia) und Violetta (La Traviata) genannt. Von alledem wie auch von den entsprechenden Partien in den Opern von Rimsky-Korsakow kann man bei YouTube Aufnahmen finden. Die beiden Tenorpartien werden von Sergei Lemeshev (Bajan) und Georgi Nelepp (Finn) gesungen. Hier ist die Aufnahme in voller Länge, fast dreieinhalb Stunden. Anfangen sollten wir diese russische Oper aber wieder einmal mit Schaljapin. Das Rondo des Farlaf nahm er in London in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf. Farlaf ist eine Nebenfigur, aber wie in Boris Godunow, wo Schaljapin auch andere Basspartien im Repertoire hatte – und gleich ihm auch später Boris Christoff. Das Lied des Warlaam sollten wir uns gleich danach anhören, verblüffend ist nämlich die Nähe zu Farlaf. Die Titelpartie Ruslan sang Schaljapin selbstverständlich auch, da gibt es diese Aufnahme, etwas älter, noch aus der akustischen Ära. Diese Arie des suchenden und zweifelnden Ruslan leitet das dritte Bild des 2. Aktes ein, unmittelbar nach dem prahlerischen Rondo des Farlaf, der voll auf Naina hereingefallen ist.

Ljudmila ist eine Koloraturpartie, die musikalisch nicht weit entfernt von den sogenannten »Belcanto-Partien« ist. Das war eine ideale Partie für die junge Anna Netrebko, Sie finden das auch bei YouTube, sogar in einer szenischen Form der Kooperation von Mariinski-Theater mit San Franciso noch vor der Jahrtausendwende, aber nur in Ausschnitten. Der Link aus meinem letzten Post dazu von November 2020 ist aus urheberrechtlichen Gründen inzwischen gesperrt. Aber Netrebko singt die Partie auch in der CD-Aufnahme mit Gergiev, die Sie bei den Streamingdiensten finden. Wir gehen hier stattdessen in die Schallplattengeschichte. 1937/38 wurde das Werk zum ersten Mal vollständig aufgenommen und in den 50er Jahren von Melodiya auf 4 bzw. 5 Schallplatten veröffentlicht. Wir hören daraus den Abschied der Braut von ihrem Vater und den Freiern auf der Hochzeitsparty. Es singt Valeria Barsova, Mark Reizen (Ruslan) und Maksim Mikhailov (Swetosar) sind auch zu hören, Chor und Orchester des Bolschoi-Theaters, Moskau, stehen unter der Leitung von Samuel Samosud: »Grustno mne, roditel dorogoi«. Hören Sie doch ein wenig in ein anderes Werk, das 1842 uraufgeführt wurde – nein, nicht in Dresden (Rienzi) und auch nicht in Mailand (Nabucco), sondern in Wien: Linda di Chamounix von Gaetano Donizetti. Olga Peretyatko singt »O luce di quest'anima« im Konzert in Grafenegg. Die Ähnlichkeiten sind deutlich, aber auch die Unterschiede.

2011 inszenierte Dmitri Tcherniakov am Bolschoitheater, Moskau, Ruslan und Ljudmila, es dirgierte Vladimir Jurowski. Die Aufführung wurde bald verboten, doch nicht bevor eine DVD-Aufnahme gemacht wurde. Die können sie kaufen oder z. B. in der Naxos Video Library finden. Bei YouTube finden Sie die Aufnahme vielleicht auch, aber sie scheint irgendwelchen Beschränkungen zu unterliegen, jedenfalls ist sie 18+, vielleicht wegen der Kopulierungsandeutungen in Nainas Reich und einiger Nackter im 4. Akt.

1844 unternahm Glinka weitere Reisen. In Paris traf er sich nun mehrfach mit Hector Berlioz, aber auch nach Spanien zog es ihn. Dort ließ er sich zu zwei »Spanischen Ouvertüren« inspirieren, die erste wurde bekannt als Jota aragonesa, da sind reichlich Kastagnetten dabei, die Melodie im Hauptteil erinnert allerdings an etwas sehr Bekanntes, was man eher mit Venedig in Verbindung bringen würde. Das dirigiert hier Toscanini. Die zweite, Erinnerungen an eine Sommernacht in Paris, veröffentlichte er erst 1851, hier vom Bolschoi-Orchester gespielt, dirigiert von Lev Steinberg.

1856 brach er noch einmal in den Westen auf. Er besuchte in Berlin, wo er drei Monate blieb, Siegfried Dehn, mit dem ihn inzwischen eine tiefe Freundschaft verband. Mit ihm studierte er noch einmal intensiver die Fugen Bachs. Meyerbeer führte in einem Konzert Ausschnitte aus Ein Leben für den Zaren auf. Völlig unerwartet starb Glinka am 15. Februar 1857 in Berlin an einer schweren Erkältung.

Mehr wie immer am Mittwoch in der Alten Feuerwache. Ich freue mich darauf,
Ihr Curt A. Roesler 

Sonntag, 5. Oktober 2025

Drei Rätsel – von Henze zu Glanert

Detlev Glanert und Hans-Werner Henze sind die beiden Komponisten, mit denen wir uns diese Woche befassen. Detlev Glanert ist für die Zehlendorfer Operngespräche tatsächlich neu – wir haben zwar vermutlich alle die Uraufführung Oceane gesehen, aber bei Uraufführungen bin ich immer vorsichtig, da reicht mir das Material meist nicht aus, um seriös vorher darüber zu sprechen. Hans Werner Henze hingegen ist ein »Klassiker«, zuletzt 2019 (The Bassarids) und 2023 (Das Floß der Medusa). Wenn Sie links oben im Suche-Feld einen Namen oder einen Titel eingeben, bekommen Sie das Entsprechende aufgelistet und können alles noch einmal nachlesen (inklusive aller Irrtümer und Druckfehler).

Detlev Glanert, mit dem wir beginnen wollen, ist ein Schüler von Hans Werner Henze. Soviel ist schon bekannt. Natürlich war und ist er auch ein Bewunderer des Komponisten Hans Werner Henze – und Spuren davon kann man auch in seiner Musik finden. Aber er hatte auch andere Lehrer. In seiner Gebrutststadt Hamburg (*1960) ging er bei Diether de la Motte (1928–2010) in die Komponistenschule. Der Ehemann der Berliner Musikwissenschaflterlin Helga de la Motte-Haber (TU 1978–2005) ist vielleicht bedeutender als Lehrer und Theoretiker, denn als Komponist. Seine theoretische Schriften Harmonielehre und Kontrapunkt sind Standards. Seine früheste verfügbare Komposition (von 1951) ist bezeichnenderweise eine Toccata, Aria und Fuge für Klavier, hier gespielt vom großen Pianisten Conrad Hansen. Bei Diether de la Motte studierten u. a. auch Manfred Trojahn und Charlotte Seither. Diether de la Motte ging auch in Grundschulen und arbeitete mit Kindern, er war ein umfassender Musikpädagoge. Und wer bei ihm gelernt hatte, war ausgebildet im besten Sinn. Die Bedeutung von Hans Werner Henze (1926–2010) als Lehrer ist eine ganz andere. Er wollte seinen SchülerInnen nicht unbedingt etwas »beibringen«, er lehrte sie, aus sich herauszugehen und den eigenen Weg zu finden. Vor allem aber bereitete er ihnen, wenn er von ihrem Talent berzeugt war, auch Wege. Mit dem »Märchen für Musik« Leyla und Medjnun von Detlev Glanert eröffnete er die erste »Münchener Biennale – Festival für neues Musiktheater«. Noch sechs andere Musiktheaterwerke kamen dort 1988 zur Uraufführung, darunter Stallerhof von Gerd Kühr (ebenfalls Henze-Schüler) und Bremer Freiheit von Adriana Hölszky. Als dritten Lehrer nennt Glanert Oliver Knussen (1952–2018). Der schrieb um 1980 zusammen mit dem amerikanischen Kinderbuchautor und Illustrator zwei Klassiker des Kindermusiktheaters: Where the Wild Things Are (nach dem gleichnamigen Kinderbuch) und Higgelty Piggelty Pop. Beides zusammen gibt es zusammen auf einem CD-Album von DG und sie können es bei den Streamingdiensten hören. Oliver Knussen, der auch als Dirigent eine bedeutende Karriere hatte, leitet die Einspielungen mit der London Sinfonietta selbst.

Leyla und Medjnun, das erste von bisher 14 Musiktheaterwerken Glanerts, liegt inzwischen in einer revidierten Fassung von 2016 vor. Es wurde zuletzt 2021 in Wien gespielt. Für seine zweite Oper, Der Spiegel des großen Kaisers nach Arnold Zweig erhielt er 1993 den Rolf-Liebermann-Opernpreis. Was ich über diesen Preis herausgefunden habe: er wurde von Kurt A. Körber 1983 in Erwartung des 75. Geburtstages von Rolf Liebermann (1985) gestiftet und nach Körbers Tod im August 1992 eingestellt. Glanert war also der Letzte, der ihn verliehen bekommen hat. Ich habe längst nicht alle Preisträger herausbekommen, mein Eindruck, dass alles nur Männer über dreißig waren, mag daher falsch sein. Man musste die Partitur eines Musiktheaterwerks von mindestens 100 Minuten Spieldauer einreichen, um sich für den Preis zu bewerben. Wolfgang Rihm hätte ihn also weder für Jakob Lenz, noch für Oedipus bekommen können. Er hat ihn aber 1986 für Die Hamletmaschine bekommen (war auch knapp, die CD hat eine Laufzeit von 92 Minuten). Der erste Preisträger war 1983 Konrad Boehmer, weitere waren York Höller und Detlev Müller-Siemens. Der Spiegel des großen Kaisers wurde 1995 in Mannheim uraufgeführt. Zuletzt gab es 2006 in Münster Aufführungen.

Davor und danach arbeitete Glanert an drei Kammeropern nach frühen Texten von Thornton Wilder, in deutschen Ausgaben als »Einakter und Dreiminutenspiele« bezeichnet (original: The Angel That Troubled the Waters an Other Plays, 1928). Drei Wasserspiele kamen kurz vor Der Spiegel des großen Kaisers in Bremen zur Uraufführung. Zuletzt wurden sie 2024 in Kaiserslautern gespielt. In Bremen kam 1999 die nächste große Oper von Glanert heraus, Joseph Süß. Auch diese Oper ist mehrfach nachgespielt worden, zuletzt 2015 in Münster. Nach Bremen kommt Halle als Wirkungsstätte, auch da gab es zwei Uraufführungen. 2001 Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, die Auseinandersetzung Christian Dietrich Grabbes mit der Romantik. Die letzten Aufführungen sind aus Pforzheim 2011 dokumentiert. 2003 kamen in Halle Die drei Rätsel, die seither an vielen verschiedenen Orten gespielt wurden, so in Hamburg und in Montpellier, zuletzt in Basel, und jetzt an der Deutschen Oper Berlin. Die Basler Aufführung ist hier bei YouTube zu sehen. Drei Rätsel kennt man ja aus Turandot und um so etwas Ähnliches geht es auch hier. Aber beim Inhalt mache ich mir jetzt einen schanken Fuß und lasse den Verlag reden, hier (herunterscrollen, dann kommt die »Zusammenfassung«).

 Dass Elke Heidenreich unbedingt Opernlibretti schreiben wollte, haben wir ja in zahlreichen Talkshows seit den 90ern gehört, Glanert hat für sie das 9-Minuten-Intermezzo Ich bin Rita vertont, 2003 in Köln (wo sonst) uraufgeführt. Etwas ganz anderes ist Caligula, 2004–2006 komponiert nach dem Drama von Albert Camus, die erste Zusammenarbeit mit Henzes Librettist Hans-Ulrich Treichel. Die Uraufführung war in Frankfurt/M unter der Musikalischen Leitung von Markus Stenz, ein Tonmitschnitt ist hier zu hören. Es gibt ihn auch auf CD. Caligula wurde mehrfach nachgespielt, zuletzt 2015 in Hannover und 2022 in Weimar. Und wieder etwas ganz anderes ist Nijinskys Tagebuch (2007/08) für zwei Sänger, zwei Schauspieler, zwei Tänzer und Instumente. Die Tagebücher, die Nijinsky 1919 in St. Moritz führte und die seinen Nervenzusammenbruch und den Weg in die Schizophrenie dokumentieren, die ihn von 1919 bis 1945 zum Pflegefall machte, hatte bereits 2001 der niederländische Fotograf Paul Cox einem in Australien gedrehten Spielfilm zugrundegelegt. Nijinskys Tagebuch kam in Aachen zur Urauführung und wurde verschiedentlich nachgespielt, so in Linz und Bregenz, zuletzt wohl in Bordeaux 2015. Das Holzschiff nach dem gleichnamigen Roman von Hans Henny Jahnn schwimmt wieder in etwas gewohnteren Operngefilden, dennoch scheint es nach der Uraufführungsserie 2010/11 in Nürnberg (Regie: Johann Kresnik) nicht mehr gespielt worden zu sein. YouTube hat aber den Rundfunkmitschnitt der Uraufführung festeghalten, hier.

An dem futuristischen Roman Solaris von Stanisław Lem haben sich mehrere Komponisten abgearbeitet. Ich kann mich erinnern, dass ein Komponist – ich weiß nur nicht mehr welcher – unbedingt in den 80er Jahren einen Auftrag von der Deutschen Oper haben wollte, »operabase« listet vier Opern mit diesem Titel auf. Der erste war wohl Michael Obst, der 1996 (im ersten Jahr unter der Leitung von Peter Ruzicka) bei der Münchener Biennale seine Kammeroper vorstellte. Gleichzeitig mit Glanert arbeitete Enrico Correggia an dem Stoff, sein Solaris für vier Stimmen, Tomband und Ensemble kam 2011 in Turin zur Aufführung. Wie er auf Pinterest zum Besten gibt, hätte schon lieber eine große Oper für großes Orchester geschrieben, aber die Aufführungsmöglichkeiten waren beschränkt und da ist es eben eine Kammeroper geworden. Solche Beschränkungen musste sich Glanert nicht auferlegen. Seine Oper kam mit Erfolg 2012 in Bregenz heraus und wurde in 2014 Köln nachgespielt. Seither aber wurde sie nicht mehr gespielt. Warum? Solaris das neuere Konkurrenzprodukt von Dai Fujikura 2015 in Lausanne (zusammen mit Lille und Théâtre des Champs-Élysées produziert) und danach auch in Augsburg und in Wien gespielt, wurde nämlich, insbesondere von der deutschen Presse, nicht sehr begeistert aufgenommen.

Zum Abschluss der Intendanz von Peter Ruzicka an der Münchener Biennale kam noch einmal ein Werk von Glanert heraus, Die Befristeten, nach dem gleichnamigen Stück von Elias Canetti. Die Berliner Truppe »Nico and the Navigators« war mit dabei und damit kommen wir zu Oceane, uraufgeführt im Fontane-Jahr an der Deutschen Oper Berlin (ohne Nico). Die Uraufführung haben Sie bestimmt noch in guter Erinnerung, die CD vielleicht sogar im Schrank. Dazu braucht also nicht viel gesagt zu werden. In Bremerhaven gab 2022 es eine zweite Inszenierung. Die neueste Oper von Glanert ist Die Jüdin von Toledo nach Feuchtwanger, 2024 in Dresden uraufgeführt. Da finden Sie noch verschiedene Trailer von der Semperoper bei YouTube. Die Uraufführung wurde von verschiedenen Rundfunkanstalten übertragen, wer damals auf den Aufnahmeknopf gedrückt hat, hat jetzt eine Aufnahme.

Auf ein nicht szenisches Werk von Detlev Glanert möchte ich noch besonders aufmerksam machen Requiem für Hieronymus Bosch, geschrieben 2015/16 und am 500. Todestag Boschs am 4. November 2016 in der Kathedrale von 's-Hertogenbosch vom Concertgebouw-Orchester und dem Niederländischen Rundfunkchor unter Leitung von Markus Stenz zur Uraufführung gebracht. Diese außergewöhnliche Aufführung finden Sie hier als Video. Die Solisten sind Aga Mikolaj, Ursula Hesse von den Steinen, Gerhard Siegel, Christof Fischesser (SATB), David Wilson-Johnson (Sprecher), Leo van Doeselaar (Orgel).

Nun auch noch etwas zu Henzes The English Cat. Die Uraufführung 1983 in Schwetzingen kam manchen wie der Beginn einer neuen Epoche vor. Von einigen Journalisten wurde Henze vorgeworfen, er habe seine Überzeugungen über Bord geworfen, indem er sich so einer harmlosen Tierstory widmet. Dass die Story ganz und gar nicht harmlos ist, wurde dabei wohl übersehen. Alte Vorurteile über einen Komponisten, der vorzugsweise für ein Publikum in Pelzen und mit Sektgläsern in der Hand komponiert (1966 bei The Bassarids in Salzburg eine weit verbreitete Rede), wurden hervorgeholt. Beim Publikum jedoch kam die Oper gut an, wenn auch der eine oder andere Besucher eher so etwas wie Cats von Andrew Lloyd-Webber erwartet haben mag. Bis 1992 berbreitete sich das Werk über die gesamte Opernwelt. Danach wurde es ewtas stiller, jedenfalls gibt es in der Chronik des Verlags eine Lücke bis 2011, wo The English Cat in Münster gespielt wurde. Den Stoff fand Henze in den Scènes de la vie privée et publique des animaux (1840) von Honoré de Balzac, einem Seitenwerk zu La comédie humaine. Grandville illustrierte die erste Ausgabe wunderbar. Hier das Digitalisat der BnF. Eine deutsche Übersetzung ist schwer zu finden, es gibt antiquarisch ein Taschenbuch aus den 50ern Herzensleid einer englischen und einer französischen Katze. Der Bühnenverlag Hartmann & Stauffacher bietet ein Stück von Geneviève Serreau, übersetzt von Astrid Fischer-Windorf mit dem Titel Herzeleid einer englischen Katze an, das Henze 1978 in Paris gesehen hat. Er bat Edward Bond, während er an dessen Orpheus-Text arbeitete, ihm ein Libretto daraus zu formen. Edward Bond hatte auch das Libretto zu We Come to the River verfasst, einen Höhepunkt des aktivistischen Musiktheaters von Henze. Also es ist völlig abwegig anzunehmen, Henze habe mit The English Cat eine ganz andere Richtung eingenommen. Es sei denn, eine Hinwendung zum Zuschauer, dem er bei seinem Cantiere Internazionale d'Arte seit 1976 in Montepulciano nähergekommen war.

Worum geht es in der durchaus nicht sanften Satire The English Cat?

Die Königliche Gesellschaft für den Schutz der Ratten will den designierten Präsidenten Lord Puff verheiraten. Es wird Zeit, denn er ist schon recht alt. Die junge Braut Minette kommt mit ihrer Schwester Babette, die sich aber an den vegetarischen Prinzipien der Gesellschaft stört und sie gleich wieder mitnehmen will. Diese findet das aber ganz gut, denn keine anderen Tiere zu fressen, entspricht dem, was sie von ihrem Pfarrer gelernt hat. Sie bleibt also. Arnold, der Neffe Puffs indessen, bangt um sein Erbe. * Auf dem Dach wirbt der junge Kater Tom um Minette, beobachtet von Arnold, der glaubt, mit einer Denunziation die Hochzeit noch hintertreiben zu können. * Tom verkleidet sich als Pfarrer, um Puff und Minette verheiraten zu können. Die Anschuldigungen Arnolds kann Minette damit entkräften, dass sie angibt, sie habe Tom als Mitglied der Gesellschaft werben wollen. 
Minette bekommt Besuch von ihrer Schwester, der sie Geld gibt, um das Elend der Familie auf dem Land zu lindern. Tom kehrt zurück von seinem verzweifelten Ausflug in die Marine, von der er wieder desertiert ist. Tom und Minette werden beim Liebesspiel von der Gesellschaft überrascht, Puff muss die Scheidung einreichen. * Tom sperrt den Verteidiger im Scheidungsgericht ein und versucht in dessen Kleidern den Beweis von Lord Puffs Eheunfähigkeit zu erbringen. Doch er wird entlarvt und er und Minette werden von den Geschworenen schuldig gesprochen. Als alle gegangen sind erkennt aber der Staatsanwalt in ihm seinen verschollenen Sohn, den er nun beerbt. * Minette wird in einen Sack gesteckt und soll in der Themse ertränkt werden. Tom hat sich inzwischen in Babette verliebt und tut nichts mehr für sie. * Der Anwaltsgehilfe Lucian ersticht Tom, der gerade sein ganzes Vermögen Babette vermachen wollte. Da das Testament nicht unterschrieben ist, kann sich die Gesellschaft alles unter den Nagel reißen.

Die CD The English Cat von 1989 unter der Leitung von Markus Stenz ist offenbar nicht mehr lieferbar, aber jemand hat sie zu YouTube hochgeladen, hier.

Dann also bis Mittwoch. Ich freue mich,
Ihr Curt A. Roesler 

 

 

Montag, 29. September 2025

1817: »La gazza ladra«

Hätte Gioachino Rossini einen so ehrgeizigen Vater gehabt wie Mozart, wer weiß, wielleicht wäre auch er als Wunderkind durch die Fürstentümer Europas gereist. Seine Eltern aber waren beide berufstätig und ermöglichten ihm vor allem eine gute Ausbildung. Der Vater war Hornist (der im Orchester auch dien Trompete zu spielen hatte, daher ist gelegentlich auch zu lesen, er sei Trompeter gewesen), die Mutter Sängerin. Seinen ersten Auftritt hatte er mit sechs Jahren als Triangelspieler im Orchester. Im Jahr darauf, 1799, geriet sein Vater als »Revolutionär« in Haft, kam aber glücklicherweise bald wieder frei. Mit neun Jahren spielte Rossini im Orchester Bratsche. Und noch einmal hatte Rossini großes Glück: in Fano und Bologna war er in Kinderchören mit einer außergewöhnlichen Sopranstimme aufgefallen und nur der energische Widerstand seiner Mutter ersparte ihm mit 12 Jahren das Schicksal eines Kastraten. 1804, da kam die Familie in Bologna an, wo es europaweit berühmte Musikschulen gab. Klavier- und Kompositionsunterricht hatte er schon in den Jahren zuvor in Fano gehabt – und dabei offensichtlich bei den Kirchenmusikern sehr viel über Kontrapunkt gelernt. 1804 komponierte er die Sei sonate a quattro, die schon ganz unverkennbar nach Rossini klingen. Obwohl es sich um allerfeinste Kammermusik handelt, werden sie oft auch von (Streich-)Orchestern gespielt (auch von Karajan gibt es eine Aufnahme). Es handelt sich nicht um Streichquartette im von Haydn und Beethoven etablierten Sinn, also für zwei Violinen, Bratsche und Violoncello. Die Bratsche ist ausgelassen, dafür kommt ein Kontrabass dazu. Formales Vorbild sind vielmehr die Triosonaten und Konzerte des italienischen Barock. Mit Haydn und Beethoven verbindet sich Rossini aber durch die »demokratische« Behandlung der Instrumente. Jedes Intrument ist gleichberechtigt, jedes hat seine Soli, aber die Melodien verflechten sich zu einem polyphonen Miteinander. Versuchen Sie den Melodien zu folgen und jeweils auch mitzubekommen, was die anderen Instrumente machen, wenn eines sich in den Vordergrund drängt, z. B. hier in der dritten Sonata, gespielt von Baiba Skride und Andrés Gabetta, Violine; Monika Leskovar, Cello; Roberto di Ronza, Kontrabass beim Solsberg Festival 2017. Solsberg liegt übrigens auf der Schweizer Seite des Rheins bei Rheinfelden. In der sechsten Sonate kommt etwas vor, womit Rossini später sehr berühmt geworden ist, ein Gewitter. Das können Sie sich ja mit Karajan anhören, ist leicht zu finden. Nach zunächst privatem Studium bei Padre Antonio Tesei kam der 14-jährige Rossini an das Liceo musicale zu Stanislao Mattei, dessen Fugen noch heute zu Unterrichtszwecken gebraucht werden. Rossinis Mitschüler war der acht Jahre ältere Francesco Morlacchi, der zu Carl Maria von Webers Zeiten an der Dresdner Hofoper für die italienische Oper zuständig war.

Für die Kantate Il pianto d'Armonia sulla morte di Orfeo erhält Rossini 1808 einen Preis des Liceo musicale (die Musik ist weit weniger unverwechselbar als die Streichersonaten, wie hier zu hören ist), im Jahr darauf übernimmt er die Leitung der »serali trattenimenti« (eine etwas umständliche Bezeichnung von Vortragsabenden) der Accademia oder Società de' Concordi, einer dem freimaurerischen Leben in Bologna verbundenen Vereinigung von neugiereigen professionellen und Laienmusikern. Als Erstes bringt er dort Die Schöpfung von Joseph Haydn zur Aufführung, zwei Jahre später kommen Die Jahreszeiten. Davor aber erhält er mit 18 Jahren seinen ersten Opernauftrag aus Venedig. Die »farsa comica« La cambiale di matrimonio wird am Teatro San Moise zur Uraufführung gebracht. Der Einakter wurde durch eine Oper von Giuseppe Farinelli ergänzt, einem bereits etablierten Opernkomponisten, den heute kaum noch jemand kennt. In La cambiale di matrimonio ist bereits alles ausgebildet, was Rossini ausmacht, zumindest in seinen komischen Opern. Das Werk wird bis heute gerne aufgeführt, meist ohne Ergänzung. Bei YouTube finden Sie leicht drei Inszenierungen (zwei davon aus Pesaro). Gelegentlich wird La cambiale di matrimonio ergänzt durch einen der bald darauf ebenfalls für das Teatro San Moisè geschriebenen Einakter von Rossini, L'inganno felice, La scala di seta, L'occasione fa il ladro (alle 1812) oder Il Signor Bruschino (1813). La cambiale di matrimonio war aber nicht die erste Oper, die Rossini geschrieben hat, das war kurz davor Demetrio e Polibio, ein dramma serio, zuerst nur für die Schublade geschrieben. 1812 kam sie aber schon in Rom heraus. Ein weiteres »dramma serio«, Ciro in Babilonia, kam 1812 in Ferrara heraus. 1813 erfolgten (außer Il signor Bruschino) die beiden Uraufführungen, die Rossinis Ruhm in die Welt trugen, Tancredi und L'italiana in Algeri. Allen diesen Opern steht eine sehr differenziert ausgearbeitete Overtüre vor, die nicht unbedingt mit der Handlung der Oper in Zusammenhang stehen muss. Vielmehr zeigt der Komponist seine Meisterschaft in der Orchesterbehandlung. Sie enthalten teils virtuose Soli und fast alle mindestens ein groß angelegtes Crescendo. Aber nicht immer hatte Rossini Zeit, auch eine neue Ouvertüre zu schreiben. Für Ciro in Babilonia verwendete er einfach die von L'inganno felice noch einmal, obwohl es sich nicht um eine »farsa«, also eine Komödie handelte, sondern um ein »dramma con cori«. Aber es war ja in einer anderen Stadt, in Ferrara. Das Verfahren sollte er noch auf die Spitze treiben. Ausgerechnet für Il barbiere di Siviglia (1816), seine heute beliebteste Oper, hatte er so wenig Zeit, dass er nicht nur die Ouvertüre »recyclen« musste, sondern auch große Teile innerhalb der Oper. Als Ouvertüre kam die von Elisabetta, regina d'Inghilterra (1815) zum Einsatz. Aber auch das ist nicht der ursprüngliche Platz der Ouvertüre, sie wurde für Aureliano in Palmira (1813) komponiert.

39 Opern hat Rossini bekantlich insgesamt komponiert. Wir springen jetzt vier Jahre und acht Opern vor in die Zeit, wo Rossini mit La cenerentola Abschied nimmt von der italienischen Opera buffa. Rossinis Humor war immer schon tiefgründig; seine Musik ist spritzig und nachdenklich zugleich. Auch 1817 brachte er insgesamt vier Opern heraus, in Rom La cenerentola und zum Ende des Jahres Adelaide di Borgogna und in Neapel Armida; das zentrale Werk aber komponierte er für die Scala in Mailand, La gazza ladra. Drei Jahre nach Il turco in Italia wurde er noch einmal um eine Oper gebeten, für die schon die Hauptbesetzung feststand. Das Libretto von Felice Romani, das ihm vorgelegt wurde, lehnte er ab. Stattdessen entschied er sich für einen nicht prämierten Wettbewerbsbeitrag aus dem Vorjahr, La gazza ladra von Giovanni Gherardini, der sonst nicht als Librettist hervorgetreten ist. Als Vorlage hatte ihm das 1815 an der Porte Saint-Martin in Paris uraufgeführte »mélodrame historique« La pie voleuse ou La servante de Palaiseau von Théodore Baudouin d'Aubigny und Louis-Charles Caigniez gedient. Ob sich die Geschichte in Palaiseau tatsächlich so zugetragen hat, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber es wurde dort in der Kirche Saint-Martin, die sich an der Rue de la pie voleuese befindet, traditionell jedes Jahr eine Messe für die diebische Elster gehalten. Bei der Aufführung des Theaterstücks in London wurde in der Ankündigung explizit eine Verbindung zum Fall der Elizabeth Fenning gezogen, die am 26. Juli 1815 wegen gehängt worden war, weil sie ihre Herrschaft vergiftet haben soll, obwohl sie immer ihre Unschuld beteuert hatte. Ihr Beispiel sollte andere Hausangestellte abschrecken. 1829 gestand ein gewisser Robert Gregson Turner, den Mordversuch begangen zu haben – und wurde sogleich ebenfalls gehängt. Der Fall Fenning wurde breit diskutiert und wenn es auch noch lange dauerte, bis die Todesstrafe in den meisten europäischen Ländern abgeschafft wurde, so hat er doch zu der Entwicklung dahin beigetragen, wie auch zur Einführung von echten Beweisen von Gericht. Charles Dickens, der wie vermutlich die 10.000 Londoner, die an ihrem Begräbnis teilnahmen an ihre Unschuld glaubte, war einer der Wortführer dieser Bewegung. Die Musik zu dem »mélodrame historique« stammte vom Musikalischen Leiter des Théâtre de la Porte Saint-Martin, Louis-Alexandre Piccin(n)i, dem illegitimen Enkel von Niccolò Piccin(n)i, den man als Konkurrenten Glucks in den 1780er Jahren kennt. La gazza ladra ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass gute Oper immer Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist.

Jetzt zur Handlung. 1. Akt, 1. Bild. Ein Dorf in der Nähe von Paris. Im Hof Vingradito Als erstes führt sich die Elster ein, die immer wieder den Namen Pippo ruft. Das ist ein junger Bauer (Alt/Mezzosopran) in Diensten der Famiie Vingradito. Die Rückkehr Giannettos (Tenor) aus dem Krieg wird von seinen Eltern Fabrizio (Bass) und Lucia (Mezzosopran) Vingradito und von deren Hausangestellten Ninetta (Sopran/Mezzosopran) sehnsüchtig erwartet. Der fahrende Verkäufer Isacco (Tenor) bietet allerhand Waren an; endlich können sich die Liebenden in die Arme schließen. Ein zerlumpter Kriegsheimkehrer entpuppt sich als Fernando (Bass), der Vater Ninettas, der als Deserteur gesucht wird. Der Podestà Gottardo (Bass) lässt sich von Ninetta den Steckbrief vorlesen, die ihn geistesgegenwärtig entsprechend abändert. Das rettet sie aber nicht vor den Zudringlichkeiten des Podestà, dem Fernando die Meinung geigt, während die Elster einen silbernen Löffel stiehlt. * 2. Bild. Zimmer im Haus Vingradito Ninetta hat gerade anderes Silberbesteck im Auftrag ihres Vaters an Isacco verkauft, als Lucia den Verlust der Gabel bemerkt. Beim Verhör durch Gottardo fällt Ninetta Geld aus der Tasche. Als sich auch noch herausstellt, dass sie die Tochter eines Deserteurs ist, wird sie ins Gefängnis geworfen.

2. Akt. 1. Bild Vorhalle des Gefängnisses Ninetta bittet den Gefängniswärter Antonio (Bass), Pippo zu ihr zu rufen. Als Erster besucht sie aber Giannetto, mit dem sie Liebesgeständnisse austauscht. Da sie sich weiterhin weigert, dem Podestà zu Willen zu sein, ist ihre Verurteilung so gut wie sicher. Pippo leiht ihr noch Geld, das sie für ihren Vater, der es für die Flucht braucht, verstecken können. * 2. Bild Zimmer im Haus Vingradito Fernando erfährt von Lucia, die inzwischen Mitleid mit Ninetta empfindet, dass diese des Diebstahls beschuldigt wird. * 3. Bild Gerichtssaal in der Bürgermeisterei Das Todesurteil wird gesprochen. Der protestierende Fernando wird als Deserteur erkannt und ebenfalls verhaftet. * 4. Bild Dorfplatz mit Kirchturm Ein Trauerzug begleitet Ninetta zur Hinrichtung. Nun stiehlt die Elster ein Geldstück und man sieht, wo sie es versteckt. Dort findet man auch das Besteck. Ninetta ist also unschuldig und das Glockengeläut rettet sie. Eine Amnestie bewahrt auch Fernando vor dem Tod. Ninetta kann nun Giannetto heiraten. 

 Mit La gazza ladra eröffnete das allererste Rossini Festival in Pesaro 1980. Gianandrea Gavazeni dirigierte und die Inszenierung stammte von Sandro Sequi. Im Jahr darauf wurde die Produktion unter der Musikalischen Leitung von Alberto Zedda wiederaufgenommen. Von Zedda stammte auch die erste vollständige Schallplattenaufnahme der Oper, aufgenommen in Rom 1973. Danach erst hatte er seine kritische Werkausgabe vorgelegt und 1979 in London eine weitere Schallplatteneinspielung geleitet, die es ebenso wie die frühere nur antiquarisch auf Schallplatten gibt. Eine weitere Einspielung von 2009 vom SWR in Bad Wildbad aufgenommen, ist heute auf CDs und entsprechend bei den Stramingdiensten zu bekommen. Die allererste Gesamtaufnahme entstand 1959 in Wexford unter der musikalischen Leitung von John Pritchard. Auch diese ist nur auf LPs antiquarisch zu bekommen. Aber immerhin  hat jemand ein paar Ausschnitte auf YouTube hochgeladen, darunter das Duett von Ninetta und Pippo aus dem zweiten Akt (wo sie sich überlegen, wie sie das Geld für Fernando verstecken können) mit Mariella Adani und Janet Baker, hier. (Weitere Ausschnitte so miserabel eingerichtet, dass ich hier keine Links poste.) In Pesaro wurde La gazza ladra 1989 und 2007 von Michael Hampe bzw. Damiano Michieletto neuinszeniert. Die Inszenierung von 2007 wurde 2015 wiederaugenommen. Die Produktion von 2007 unter der Musikalischen Leitung von Jia Lü wurde auch auf DVD gepresst und die können Sie hier sehen. Die wunderbare Inszenierung von Tobias Kratzer im MusikTheater Wien ist in der 3Sat Mediathek nur noch aus Österreich erreichbar. Empfehlenswert ist aber noch diese Inszenierung des Teatro alla Scala Milano von 2017. Nehmen Sie sich Zeit, die Oper dauert fast dreieinhalb Stunden. Ohne Pause.

Weiter reden wir über Rossini und La gazza ladra am Mittwoch. Ich freue mich,
Ihr Curt A. Roesler

 

Montag, 22. September 2025

Robert Schumann auf der Opernbühne

Die Oper Genoveva wurde im gleichen Jahr uraufgeführt wie Lohengrin, 1850. Seit 1840 hatte Schummann nach einem Stoff gesucht, in Frage stand auch – ganz unabhängig von Wagner – die Nibelungensage. Ein Libretto, Die Nibelungen. Text zu einer großen heroischen Oper, stand einigen Komponisten seit Mitte der 1840er Jahre zur Verfügung. Verfasst hatte ihn Louise Otto(-Peters), die nachmalige Initiatorin der Frauenbewegung in Deutschland. Da außer Niels Wilhelm Gade (nach Felix Mendelssohns Tod alleiniger Leiter der Leipziger Gewandhauskonzerte) niemand Anstalten machte, das Libretto zu vertonen, ließ sie es 1852 drucken. Darauf reagierte Schumann und strebte ein Treffen mit ihr im Herbst 1853 an. Dazu kam es wegen der gesundheitlichen Probleme, die ihm schließlich auch jedes Komponieren verunmöglichten, nicht mehr. Es blieb bei der einzigen Oper Genoveva.

Zurück aber zu den Anfängen Schumanns als Opernkomponist. Christoph Columbus, Till Eulenspiegel, Faust, Romeo und Julia gehörten zu den Sujets und praktisch alles, was Wagner später ausgeführt hat. Für Tristan und Isolde gab es sogar ein Libretto von Robert Reinick. Um 1844 fing er mit der Komposition von Lord Byrons The Corsair an, kam aber nicht über den Einleitungschor hinaus. 1847 endlich hatte er sich für Genoveva von Friedrich Hebbel entschieden. Genoveva war 1843 im Druck erschienen, aber noch nicht aufgeführt worden, Schumann bat Hebbel selbst um die Gestaltung eines Librettos, was dieser aber ablehnte. Daher übernahm sein Freund Robert Reinick auch hier die Ausgestaltung. Vor Hebbel hatten schon andere die Legende von Genoveva auf die Bühne gebracht: 1800 Ludwig Tieck (1773–1853); 1811 Friedrich Müller (1749–1825), genannt »Maler Müller«; 1835 Ernst Raupach (1784–1852). Auf Tieck beziehen sich Schumann und Reinick ausdrücklich, was aber ein Ablenkungnsmanöver sein könnte, da das Libretto doch sehr an Hebbel erinnert.

Inszenierungen von Schumanns Genoveva sind zeimlich selten. Zum Schumannjahr 2010 (200. Geburtstag) kamen einige Produktionen heraus, die jedoch alle längst verschwunden sind. Meines Wissens gibt es in dieser Spielzeit keine einzige Neuinszenierung oder Repertoirevorstellung an einem bekannten Opernhaus. Die Aufführung des Zürcher Opernhauses von 2008 – Dirigent: Nikolaus Harnoncourt, Regie: Martin Kušej – ist noch auf DVD erhältlich, wird aber weder auf Medici.tv noch auf Naxos zum Streamen bereitgehalten. Die einzige Aufführung mit Bild und Ton, die man auf YouTube bekommt, ist dieses Konzert aus Dresden von 2023 mit dem Helsinki Baroque Orchestra und dem Wiener Arnold Schönberg Chor. Die Originalinstrumente (und die dazugehörige, für heutige Verhältnisse klein anmutende Besetzung) bekommt Schumann ungemein, wie man schon bei Harnoncourt feststellen kann. Wer nur die Musik hören möchte, dem empfehle ich diese Rundfunkaufnahme von 1951. Leider ist sie nicht nur unvollständig, sondern auch von Störgeräuschen durchzogen, aber die Sänger sind so textverständlich, dass man kein Libretto braucht.

Noch davor, in den frühen 1840er Jahren, entstand das Oratorium Das Paradies und die Peri, das Tobias Kratzer und Omer Meir Wellber an den Anfang ihrer Intendanz in Hamburg stellen. Auf dem »Roten Sofa« äußerten sie sich dezidiert dazu (hier verfügbar bis 7. Juni 2026). Den Stoff entnahm Schumann der »Oriental Romance« Lalla Rookh (1817) von Thomas Moore (1779–1852). Der war seinerseits angeregt durch eine im 17. Jahrhundert in Delhi erschienene Sammlung von Erzählungen, Bahar-i-Danish (Frühling des Wissens oder Garten des Wissens), wo von einer indischen Prinzessin die Rede ist, die zu ihrem Bräutigam nach Samarkand reist und unterwegs allerhand Geschichten hört und erlebt. Lalla Rookh enthält neben der Reisebeschreibung und vielen Prosageschichten vier Verserzählungen: 1. Der verschleierte Prophet (angelehnt an die Geschichte von Al-Muqanna, der in Persien im 8. Jahrhundert einen vergeblichen Aufstand gegen die Araber anführte); 2. Das Paradies und die Peri (darauf kommen wir gleich); 3. Die Feueranbeter (Geschichte Sieges der inzwischen islamisierten Perser über die Zoroastrier); 4. Das Licht des Harems (die Sultanstochter Nurmahal bittet die Zauberin Namouna um Hilfe, um den Kronprinzen Selim zu gewinnen, das Ganze endet in einem Rosenfest).

Schon vor Schumann hat Lalla Rookh Komponisten, Dramatiker und bildende Künstler angeregt. In Belriner Schloss etwa wurde schon am 27. Januar 1821 ein »Festspiel mit Gesang und Tanz« Lalla Rûkh aufgeführt. Die Bühnenbilder stammten von Karl Friedrich Schinkel, die Musik komponierte der neue Generalmusikdirektor Gaspare Spontini. Der ganze Hof machte mit wie einst beim Sonnenkönig in Frankreich. Dieser Marsch, der seltsamerweise Anklänge an die Marseillaise aufweist, soll daraus stammen. Es ist der Marsch der Großfürstin Alexandra Feodorowna. Das war Charlotte, die älteste Tochter Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise. Sie war mit dem russischen Großfürsten Nikolaus verheiratet, auch schon nach St. Petersburg gezogen und hatte zwei Kinder mit ihm, darunter den späteren Zaren Alexander II. Nach einer Fehlgeburt 1820 verfiel sie in Depressionen und kam mit ihrem Mann zur Heilung nach Berlin, wo beide bis zum Sommer 1821 blieben. Nach einer weiteren Totgeburt 1823 kamen sie wieder nach Berlin und kehrten erst kurz vor dem Tod des Bruders von Nikolaus, Zar Alexander I., nach St. Petersburg zurück, wo er dann ziemlich unerwartet dessen Nachfolge als Nikolaus I. antrat. Bei einer Wiederaufführung des Festspiels Lalla Rûkh vor einigen Jahren auf dem Potsdamer Pfingstberg wurde die Handlung mit der Lebensgeschichte Charlottes verknüpft, die 1817 19-jährig wie die Romanfigur Lalla Rûkh die beschwerliche Reise zu ihrem fernen Bräutigam von Berlin nach St. Petersburg angetreten hatte.

1822 schrieb Spontini das erste Originalwerk für die Berliner Oper, Nurmahal oder das Rosenfest von Kaschmir ein »Lyrisches Drama in 32 Abtheilungen«, gewidmet der 19-jährigen Alexandrine, Erbgroßherzogin von Meklenburg-Schwerin (hier noch ohne »c« gedruckt), einer Schwester Charlottes. Die Oper basiert auf der vierten Verserzählung aus Lalla Rookh. Einen Klavierauszug gibt es bei IMSLP, eine Ton- oder Bildaufnahme von Nurmahal habe ich nirgendwo gefunden. Von der nächsten musikalischen Reaktion auf Thomas Moores Lalla Rookh, dem Song of Nurmahal, von Carl Maria von Weber 1826 in London kurz vor seinem Tod komponiert, gibt es nicht einmal Noten bei IMSLP, geschweige denn eine Aufnahme.

Nun also zum Oratorium von Schumann. Zu Chor und Solistenquartett kommen diese singenden Personen (im Konzert auch aus dem Quartett zu besetzen): die Peri und eine Jungfrau (beide Sopran), ein Engel (Alt), ein Jüngling (Tenor), ein Mann (Bariton) und der Tyrann Gazna (Bass). Hier der Inhalt in 153 Worten: Eine Peri steht sehnsüchtig vor dem Paradies und lauscht den himmlischen Klängen. Ein Engel stellt die Bedingung für den Eintritt: sie muss des Himmels liebste Gabe darbringen. Nicht recht wissend, was das sein soll, begibt sie sich nach Indien, das sich zuerst idyllisch zeigt, doch alsbald vom Krieg des Eroberers Gazna überzogen wird. Nur ein Jüngling leistet zuletzt noch Widerstand, vergeblich. Seinen letzten Blutstropfen hebt die Peri auf als Gabe für den Himmel. 
Viel heiliger muss jedoch die Gabe sein, also macht sich die Peri zu den Quellen des Nils auf. Auch dort wird die Idylle gestört, denn es herrscht die Pest. Sie begleitet ein Liebespaar in den Tod und hebt deren letzten Seufzer auf. 
Auch das öffnet das Himmelstor nicht. Also auf nach Syrien. Dort wird sie von Artgenossinnen verspottet, aber dann findet sie einen Sünder, der Reue empfindet. Gleich ihm, der Vergebung empfängt, ist auch sie »entsühnt« und darf ins Paradies.

Es gibt mehrere Konzertmitschnitte des Oratoriums auf YouTube zu sehen. Aus alter Verbundenheit mit Siobhan Stagg, die einige Jahre an der Deutschen Oper verbrachte, greife ich diese Aufführung aus der Vredenburg in Utrecht von 2023 heraus. Mehrere CD-Aufnahmen sind verfügbar, darunter auch eine mit Nikolaus Harnoncourt, allerdings nicht mit Originalisntrumenten, sondern mit dem Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks. Wer unbedingt »period instruments« haben möchte, muss zu John Eliot Gardiner greifen, der mit seinem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique eine Doppel-CD dirigiert hat mit Requiem für Mignon, Nachtlied und Das Paradies und die Peri, hier die YouTube Playlist für das ganze Album.

Drei Opern im Zusammenhang mit Lalla Rookh, die etwas später geschrieben wurden, sind noch zu erwähnen. Allen voran Lalla Roukh (1862) von Félicien David (1810–1876), der den romantischen »Exotismus« in die Musik brachte. Von der Opéra comique gibt es hier eine Aufnahme mit Partitur. Lalla Roukh verliebt sich hier auf dem Weg in den Sänger und Geschichtenerzähler Noureddin und ist ziemlich unglücklich als sie dort den König heiraten soll. Aber alles fügt sich, denn Noureddin war niemand anders als der verkleidete König von Samarkand. So ähnlich geht es in Feramors (1863) von Anton Rubinstein (1829–1894), nur spielt da alles in Hindustan und Feramors ist der verkleidete König von Bokhara, der an den Hof kommt, um Lalla Rookh zu heiraten. Der verschleierte Prophet (1881) von Charles Villiers Stanford (1852–1924) folgt der ertsen Verserzählung aus Lalla Rookh und wurde 2019 beim Wexford Festival konzertant aufgeführt.

Gerade habe ich gesehen, dass arte.tv die Hamburger Inszenierung von Das Paradies und die Peri am 27. September um 20.00 Uhr überträgt. Bei der derzeitigen miserablen Bahnverbindung nach Hamburg wäre das also eine Alternative.

An der Hamburgischen Staatsoper gibt es noch mehr Schumann in dieser Spielzeit. Unter dem Titel Frauenliebe und -sterben inszeniert Tobias Kratzer am 12. April 2026 einen gemischten Abend mit zwei Einaktern von Béla Bartók und Alexander von Zemlinsky, Herzog Blaubarts Burg und Eine florentinische Tragödie und dem Liedzyklus Frauenliebe und -leben von Robert Schumann.

Soviel bis Mittwoch. Ich freue mich auf die Schumann-Entdeckungen mit Ihnen,
Ihr Curt A. Roesler

Montag, 15. September 2025

Los geht es am Mittwoch

Liebe Teilnehmende der Zehlendorfer Operngespräche,

wir treffen uns zum Beginn der Opernspielzeit wieder am Mittwoch, 17. September, 18.15 Uhr, in der Alten Feuerwache in Zehlendorf im zweiten Stock. Wir versuchen, uns einen Überblick zu verschaffen, wenigstens über die erste Hälfte der Spielzeit (hier eine Zusammenstellung der Neuproduktionen in der gesamten Spielzeit in Berlin und anderswo). Dann werden wir uns mit Jesus Christ Superstar, die Premiere der Komischen Oper steht ja unmittelbar bevor. Dazu gibt es im letzten Blogbeitrag einiges zu lesen. Wenn Zeit bleibt, möchte ich danach den Blick auch noch auf Weimar lenken. Dort wird nicht nur – ebenfalls am 19. September – Euridice aufgeführt, die laut Wikipedia allererste Oper, die vor 225 Jahren ein neues Zeitalter der Musikdramatik einleitete. Die Premiere ist schon ausverkauft, sie findet nicht im Nationaltheater, sondern im Studio statt. Also gab es nur wenige Tickets. Am Tag danach gibt es im Nationaltheater ein Kleist-Doppelprogramm: Penthesilea und Der zerbrochene Krug. Die Musik der beiden Vertonungen von Othmar Schoeck (1925) und Viktor Ullmann (ca. 1942) passt besser zusammen, als man denken möchte. In beiden Werken ist der Aufbruch der zwanziger Jahre ebenso enthalten wie die Reaktion etwa eines Richard Strauss darauf. Schoeck, der wie Strauss ein großer Meister des Liedes war, schreibt ein Duett zwischen Penthesilea und Achill (hier eine Tonaufnahme des später eingefügten zweiten Teils), das sehr auf den späten Strauss verweist. Insgesamt vier Gesamtaufnahmen sind bisher auf Schallplatten und CDs veröffentlicht worden. Die älteste ist ein Mitschnitt aus der Württembergischen Staatsoper von 1957 mit Martha Mödl und Eberhard Wächter unter der musikalischen Leitung von Ferdinand Leitner (hier bei YouTube). Zusammenhängend können Sie die neueste Aufnahme, aus der das oben erwähnte Duett stammt, nur bei den Streamingdiensten hören (Naxos-Music-Library gratis, wenn Sie einen Bilbiotheksausweis der Berliner Stadtbibliotheken haben). Die beiden dazwischen entstandenen, 1973 in Luzern unter der Leitung von Zdenek Macal, 1982 in Salzburg unter der Leitung von Gerd Albrecht, sind komplett nur antiquarisch auf Schallplatten bzw. CDs zu erhalten. Hier gibt es bei YouTube immerhin einen Ausschnitt aus der Salzburger Aufnahme. Penthesilea von Schoeck ist eine sehr knappe Fassung des Textes von Kleist, konzentriert auf Achill und Penthesilea mit Meroe als Vermittlerin und Ankerpunkt. Sie dauert eine Stunde und 20 Minuten, wird daher meist allein gespielt, wie etwa 2018 in Frankfurt, wovon sich noch dieser Trailer erhalten hat mit erhellenden Bemerkungen von Hans Neuenfels und anderen Mitwirkenden. Der zerbrochene Krug von Ullmann wurde erst in den 1990er Jahren wiederentdeckt und durch die Staatskapelle Weimar unter der Leitung von Israel Yinon am 17. Mai 1996 in Dresden zur konzertanten Uraufführung gebracht. Gerd Albrecht dirigierte das Werk mit dem DSO in Berlin im folgenden Jahr. Szeische Aufführungen gab es bisher nur wenige, in Münster und Hildesheim etwa. Ein beonderes Problem ist bei dem 40minütigen Werk die Kombination. Im Münchner Opernstudio versuchte man es 2018 mit Kreneks Der Diktator. Ob in Münster 2007 ein zweites Musiktheaterwerk dazu kam, habe ich nicht herausgefunden, in Hildesheim jedefalls hat man es 2012 auch schon mit einer Schoeck-Ullmann Kombination versucht, nur kam man seltsamerweise nicht auf Penthesilea, sondern entschied für das weit unbekanntere Simgspiel Erwin und Elmire. Vielleicht eine kleine Rache an Goethe, der ja den Zerbrochenen Krug von Kleist zwar zur Uraufführung brachte, den Erfiolg aber vermutlich durch seine Inszenierung ruinierte. Sein eigener Singspieltext hat zwar höhere lyrische Qualitäten (man denke nur an Das Veilchen, vertont u. a. von Mozart), ist aber als Komödie mit Tiefgang Kleist bei weitem unterlegen. Bei der Kombination mit Schoecks Penthesilea besteht andererseits die Gefahr, dass diese sich stärker in der Erinnerung einprägt, als Ullmanns Werk. Schauen wir, was Weimar daraus macht. Die Absicht, ein Ganzes aus dem Abend zu machen, spiegelt sich schon in der Besetzung. Einige Sängerinnnen und Sänger treten in beiden Oper auf, darunter Anna Schoeck, die sie vielleicht kennen, sie war einma Stipendiatin dan der Deutschen Oper Berlin, die Meroe und Eve singt. Videos von szenischen Aufführungen habe ich keine gefunden, aber eine Tonaufnahme mit Partitur hier.

Mal sehen, ob wir am Mittwoch Zeit finden auch darüber ein wenig zu sprechen. Jedenfalls freue ich mich auf Sie und verblebe

Ihr Curt A. Roesler 

Dienstag, 9. September 2025

Die Berliner Opernhäuser sind aus den Ferien zurück

Am Montag hat in Berlin wieder die Schule begonnen und die Sommerferien sind auch an den Opernhäusern vorbei. Es wird wieder geprobt und bald folgen die ersten Aufführungen. Die erste Premiere bringt die Komische Oper heraus, für die der Temepelhofer Flughafen als Saison-Opener schon eine Tradition hat. Nach dem Messias von Händel im letzten Jahr folgt jetzt Jesus Christ Superstar. Dieses Musical von Andrew Lloyd Webber war vor über 40 Jahren sein erster großer Erfolg. Zusammen mit seinem Texter Tim Rice hat er sich diesen Erfolg sorgfältig erarbeitet. Das Feld musste vorbereitet werden. Zwar war es um 1970 nicht vollkommen abseitig, aus einem Bibelstoff Massenunterhaltung zu ziehen. 1966 war in den USA schon der hauptsächlich in Italien gedrehte Film La Bibbia unter dem Titel The Bible. In the Beginning... herausgekommen. John Huston spielte dari den Noah (hier das Boarding of the animals), lieh Gott seine Stimme und führte Regie in dem in einer seltenen Breitwand-Technik gedrehten ersten Teil der geplanten Serie. Die Musik stammte übrigens von Toshiro Mayuzumi, über den wir vor einem Jahr als Vorläufer der »Spektralisten« anlässlich von Innocence sprachen. Die LP mit dem Soundtrack kann man hier hören. Keine Angst, das ist keine »moderne Musik« sondern gewohnte Filmmusik aus dieser Zeit, allerdings sehr gute Filmmusik.

Andrew Lloyd Webber und Tim Rice hatten 1968 eine 15-minütige »Pop-Cantata« Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat für Schulaufführungen komponiert. Später – allerdings erst nach Jesus Christ Superstar – wurde auch daraus ein Musical (hier eine Filmversion von 1999), das im Wesentlichen einer klassischen, aber sehr selten aufgeführten Oper folgt: Joseph, 1807 Opéra-Comique, Paris, Musik von Etienne-Nicolas Méhul. Das Besondere an dieser Show ist nicht nur, dass sie durchgehend einen Kinderchor beschäftigt, sondern auch, dass sie Pop-Größen parodiert. Am auffälligsten ist das bei »The King's Song« (also das Lied des Pharao), das klingt wie von »King« Elvis gesungen.

Joseph... in der Kantatenform war so etwas wie eine Fingerübung für das große Projekt, eine kritische Auseinandersetzung mit der Jesus-Geschichte. Die »Leben-Jesu-Forschung« (den Ausdruck prägte Albert Schweitzer) beginnt im Zeitalter der Aufklärung, im 18. Jahrhundert. Sie vergleicht die Beschreibungen in den vier Evangelien, spürt darin Widersprüche auf und gleicht sie mit anderen geschichtlichen Quellen ab. Das war am Anfang natürlich sehr umstritten, die Kirchen verwahrten sich dagegen, denn sie standen auf dem Standpunkt, dass alles wahr ist, was in der Bibel steht, da braucht es gar keine Forschung, die irgend etwas in Zweifel zieht. Aber schon im 19. Jahrhundert war diese Froschung etabliert und 1835 veröffentlichte David Friedrich Strauß Das Leben Jesu und 1863 Ernest Renan Vie de Jésus. Diese beiden viel gelesenen Bücher regten auch Komponisten an. 1862–1866 schrieb Franz Liszt sein Oratorium Christus, das 1873 in Weimar zur Uraufführung kam; 1887–1893 der russisch-jüdische Komponist Anton Rubinstein seine Oper Christus, die 1894 in Stuttgart uraufgeführt wurde. Während diese beiden Werke auf ganz unterschiedliche Weise die biblische Geschichte subjektivieren – Liszt verwendet ausschließlich Bibeltexte, Rubinstein stellt Jesus als historische Person ins Zentrum – hatten Rice und Lloyd-Webber eine neue Betrachtung der Figur im Sinn. Sie wollten die Geschichte von Jesus anders erzählen, nämlich durch die Augen der Mithandelnden, insbesondere Judas, der dann auch zu einer zentralen Figur in Jesus Christ Superstar wurde. Auch wenn die Musical-Zentren London und New York um 1970 eine sehr liberale Gesellschaft beherrschte, war es nicht leicht, einen Musical-Produzenten für diese Vorhaben zu finden. Also setzten sie darauf, durch die Musik zu überzeugen. Leichter war nämlich ein Schallplattenproduzent zu finden, der ihr Popalbum Jesus Christ Superstar 1970 veröffentlichte. Die musikalische Struktur dieses Popalbums ist bereits diejenige des Musicals, es fehlt lediglich eine Nummer, die später eingefügt wurde, »Could We Sart Again Please« zwischen »King Herod's Song«und »Judas' Death«. Es lohnt sich – wenn man überhaupt mit dieser Art von Musik irgendwo zwischen den Beatles und den Rolling Stones etwas anfangen kann –, zuerst dieses Album anzuhören (hier). Im Studio konnten die Ideen offenbar viel besser umgesetzt werden, als auf der Bühne, auch fehlen noch einige Exotismen, die etwa mit Streichertremoli den Spielort Naher Osten wie in Salome definieren sollen und die insbesondere in der Filmfassung breiteren Raum einnehmen.

Im DHM (Deutsches Historisches Musem, Berlin) lauft seit einiger Zeit eine Sonderausstellung »Roads not Taken«. Sie befasst sich mit der Frage, was wäre, wenn Wendepunkte in der Deutschen Geschichte von 1848 bis 1989 anders abgelaufen wären, also keine friedliche Revolution in der DDR 1989, gegelücktes Hitler-Attentat 1944 usw. Eine ähnliche Frage stellt sich in Jesus Christ Superstar: was wäre, wenn Judas Jesus nich verraten hätte? Er tut sich schwer mit der Entscheidung, kommt aber zum Schluss, dass er es tun muss, um den immer radikaler Werdenden zu stoppen.

Jesus Christ Superstar ist ein »sung-through musical«, d. h. es gibt keinen gesprochenen Dialog zwischen den musikalischen Nummern. Tim Rice und Andrew Lloyd-Webber haben sie nicht erfunden, aber sie haben die Form wesentlich geprägt. Evita und Cats sind ebenfalls ohne Dialoge. Die zwei Teile des Musicals umfassen jeweils 12 musikalische Nummern, macht zusammen 24. Man darf dabei gerne an die 24-Stunden-Regel denken, nach der die Handlung eines klassischen Schauspiels sich innerhalb eines Tages abspielen soll. 12 ist außerdem die Anzahl der Jünger bzw. Apostel.

In der Zeit, in der Rice und Lloyd-Webber in London an Jesus Christ Superstar arbeiteten, hatte sich in New York schon das »Off-Broadway Musical« herausgebildet. Die Off-Broadway-Theater, nicht direkt am Broadway gelegen, aber in dessen Nähe, sind kleiner als die Broadway-Theater und umfassen meist nicht mehr als 500 Zuschauerplätze. In den 50er Jahren wurden dort weniger populäre Schauspiele gespielt, wie Ibsen oder Tschechow und amerikanische Gegenwartsdramatik von Edward Albee u. a. In den 60er Jahren gab es dort auch mehr und mehr musikalische Produktionen, schließlich etablierte sich der Off-Broadway als Ort für das Experiment. Ein solches Experiment war Hair, ein Musical, das fast nur aus Musik besteht, und insofern für das »sung-through musical als Modell diente. Das Experiment Hair gelang und schon 1968 wurde es am Broadway gespielt. Und bereitete den Weg für Rice und Lloyd-Webber. 

1970 erschien am Off-Off-Broadway (so werden noch kleinere Theater, die noch weiter vom Broadway entfernt sind, bezeichnet) Godspell heraus. Hervorgegangen war dieses Musical aus einer Studienarbeit des Studenten der Theaterwissenschaft John Michael Tebelak, der sich nach einer Polizeikontrolle nur wegen seiner langen Haare mit der Hippie-Bewegung des »Jesus People« solidarisiert hatte. Die Musik dazu schrieb er teils selbst im Stile des Hard-Rock, teils wurde sie von den aufführenden Schauspielern beigetragen. Damit es zu einer Aufführungam Off-Broadway kommen konnte, musste die Musik vollkommen neu komponiert werden, dafür wurde Stephen Schwartz ins Boot geholt. Die Uraufführung dieser neuen Fassung war am 17. Mai 1971 und sie war ein solch großer Erfolg, dass die Inszenierung noch im gleichen Jahr an den Broadway kam. Inzwischen hatten Rice und Lloyd-Webber den Produzenten Robert Stigwood, der 1968 Hair ins Londoner Wets-End gebracht hatte, überzeugen können, ein Theater am Broadway für die Uraufführung von Jesus Christ Superstar zu suchen. Im Mark Hellinger Theatre kam das Musical am 12. Oktober 1971 heraus. Natürlich gab es Proteste und Verbote von religiöser Seite. Auch Antisemitismus wurde dem Musical vorgeworfen, aber es hat sich zu einem der erfolgreichsten Musical aller Zeiten entwickelt.

Verständlich also, dass die Komische Oper sich dieses Werks annimmt und nicht Godspell oder Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcast, die vielleicht interessantere Werke der Seventies wären, aber eben weit weniger bekannt.

Am 17. September ist das ein Thema in den Zehlendorfer Operngesprächen, ich freue mich darauf,

Ihr Curt A. Roesler 

Montag, 16. Juni 2025

Operngespräche im Herbst

Am 17. September geht es wieder los mit den Operngesprächen. Die Berliner Opernhäuser haben die Spielzeit 2025/26 fertig geplant und auch anderswo kann man Pläne einsehen. Hier können Sie sehen, was so gespielt wird. (Jetzt funktioniert der Link, auch im vorangehenden Post.) Es fehlen mir nur noch Angaben aus Brandenburg, Schwerin, Stralsund/Greifswald und Würzburg. Natürlich werden wir uns in erster Linie mit den Werken befassen, die in Berlin gezeigt werden, aber wie immer möchte ich Ihnen auch unbekanntere Werke vorstellen, die gerade in anderen Städten gezeigt werden. Hier ein Vorschlag für das erste Trimester der VHS Steglitz-Zehlendorf. Die Termine stehen bereits fest (beachten Sie: Der Kurs findet auch in den Berliner Herbstferien statt, danach gibt es aber eine Pause). Und jetzt mein erster Vorschlag:

17. September: Übersicht und Jesus Christ Superstar (Komische Oper ab 19. September) oder Der goldene Drache (Peter Eötvös, Hagen seit 13. September bis 19. Oktober)

24. September: Das Paradies und die Peri (Schumann, Hamburg ab 27. September) oder Les Boréades (Rameau, Karlsruhe ab 4. Oktober) oder The Ghosts of Versailles (Corigliano, Regemnsburg ab 29. September)

1. Oktober: La gazza ladra (Bielefeld ab 6. Dezember) oder Die englische Katze (Henze, München Staatsoper ab 5. November)

8. Oktober: Die drei Rätsel (Detlef Glanert, Deutsche Oper ab 11. Oktober)

29. Oktober: Tristan und Isolde (Deutsche Oper ab 1. November) oder Ruslan und Ludmila (Glinka, Hamburg ab 9. November)

5. NovemberLes contes d'Hoffmann (Staatsoper ab 16. November)

12. November: Salome (Komische Oper ab 22. November) oder Cardillac (ab 6. Dezember in Essen und ab 15. Februar in Zürich)

19. November: Fedora (Deutsche Oper ab 23. November)

26. November: Violanta (Deutsche Oper ab 25. Januar)

3. Dezember: Lady Macbeth von Mzensk (Komische Oper ab 31. Januar, auch Mailand ab 7. Dezember)

Schauen Sie sich doch in der Spielzeitübersicht (unter dem oben angegebenen Link) noch einmal um; sie wird auch ergänzt, sobald es neue Verlautbarungen gibt. Vielleicht fällt Ihnen da noch das eine oder andere Werk auf, über das Sie mehr erfahren möchten.

Ihr Curt A. Roesler 

Sonntag, 1. Juni 2025

Die Spielpläne 2025/26

Mit wenigen Ausnahmen haben die Opernhäuser und Stadttheater in Deutschland und anderswo ihre Pläne für die kommende Spielzeit veröffentlicht. Für die drei Berliner Opernhäuser ist das seit Mitte Mai der Fall und Sie haben sich sicherlich schon informiert. Und freuen sich entsprechend auf »Operngespräche« mit Hoffmanns Erzählungen (Jacques Offenbach), Die drei Rätsel (Detlef Glanert), Fedora (Umberto Giordano), Violanta (Erich Wolfgang Korngold), Lady Macbeth von Mzensk (Dmitri Schostakowitsch) im Herbst in der Alten Feuerwache. Tristan und Isolde und Salome könnten wir natürlich auch besprechen, aber das sind Werke, die doch sehr bekannt sind und auf die nicht unbedingt aufmerksam gemacht werden muss. Dafür gibt es z. B. La gazza ladra (Rossini) in Bielefeld, einen interessanten Doppelabend mit Werken von Othmar Schoeck und Victor Ullmann in Weimar, Didone abbandonata von Domenico Sarro in Meiningen, Wozzeck (Alban Berg) in Braunschweig und vieles Andere. Aber Schauen Sie sich gerne selbst um in meiner Zusammenstellung, die Sie hier finden, zuerst Berlin, dann alle anderen, in rot Regisseure, die etwas mit dem Studiengang Regie an der HfM Hanns Eisler zu tun haben. Und wenn Sie das besonders interessiert – etwa um Argumente zu haben, wieso man nicht beliebig sparen und abbauen kann bei den künstlerischen Hochschulen – gibt es das (also nur die, die mit der HfM zu tun haben) hier zusammengefasst und chronologisch von September 2025 bis Juli 2026. Es fehlen in der Zusammenstellung selbstredend »freie« Produktionen und auch die Sparte Dramaturgie ist noch nicht eingearbeitet.

Ich freue mich auf Ihre Anregungen.
Herzlich, Ihr Curt A. Roesler

Mittwoch, 7. Mai 2025

Kurt Weill 125

In diesem Jahr wäre Kurt Weill 125 geworden. Kurz nach seinem 50. Geburtstag starb er in seiner neuen Heimat New York. Es ist also ein doppeltes Gedenkjahr, sein Tod jährt sich zum 75. Mal. Das ist ein willkommener Anlass, sich an fünf Abenden in der VHS Steglitz-Zehlendorf mit diesem außergewöhnlichen Komponisten zu befassen. Es beginnt am 14. Mai, 18.15 Uhr, mit einem Überblick über das Leben und das Schaffen Kurt Weills. Danach geht es weiter mit vier etwas systematischeren Betrachtungen. Obwohl Weill einer der ganz großen Musikdramatiker ist, beginnen wir nicht mit Bühnenmusiken (wie es in den meisten in Biografien enthaltenen Werkverzeichnissen geschieht), sondern wir behandeln ihn wie Haydn, Mozart, Beethoven. Auch sie waren große Opernkomponisten und doch spricht man meist zuerst von den Symphonien, den Streichquartetten, der Kammermusik.

So also heißt es am 21. Mai: Instrumentalwerke und Oratorisches in der klassischen Tradition. Weill schrieb zwei Streichquartette und zwei Sinfonien, ein Violinkonzert und Werke, die ausdrücklich für das Radio bestimmt waren. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Violinkonzert, während dessen Komposition Weill vom unerwarteten Tod seines Lehrers Ferruccio Busoni erfuhr.

Den dritten Abend am 28. Mai widmen wir den frühen Erfolgen des Musikdramatikers Weill, Oper und Tanz in Deutschland und Frankreich 1925–1933. Der erste Dramatiker, mit dem Weill zusammenarbeitete, war Georg Kaiser, als erstes vertonte er ein Libretto, das auf dessen Schauspiel Der Protagonist basierte, und stellte sich damit in die erste Reihe der Opernkomponisten als legitimer Nachfolger Ferruccio Busonis (dessen Einakter Arlecchino und Turandot darin nachklingen). Darauf folgte die »Zeitoper« Der Zar lässt sich photographieren und schließlich (nach den zwei bekannten großen Erfolgen mit Bert Brecht Der Silbersee. Die Ring-Uraufführung fand wenige Tage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten statt, wurde von Schlägertrupps gestört und sehr schnell an allen drei Theatern (Leipzig, Erfurt ind Magdeburg) abgesetzt.

Ein Abend, und das ist der vierte am 4. Mai, muss der Zusammenarbeit von Kurt Weill und Bert Brecht gewidmet sein. Auf unterschiedlichen Wegen gelangten beide zu einem »epischen« Musiktheater. Ihre Zusammenabeit begann mit Balladen, umfasste ein Berliner Requiem, eine Schuloper und die beiden Großprojekte Mahagonny und Dreigroschenoper, die beide in unterschiedlichen Fassungen vorliegen. Ab dem 1. Januar 2027 wird man möglicherweise neue Interpretationsmöglichkeiten erleben dürfen, dann endet der Urheberrechtsschutz für die Verwerter des Erbes von Bert Brecht. Das gilt auch für Die sieben Todsünden, die letzte gemeinsame Arbeit, bereits im Pariser Exil entstanden.

Noch viel mehr gibt es am letzten Abend, dem 11. Mai, zu besprechen. Musical und Oper in Amerika. Mit dem Weg der Verheißung, zusammen mit Franz Werfel Max Reinhardt entworfen, wollte sich Kurt Weill in New York als Musikdramatiker einführen. Die Uraufführung schob sich immer weiter hinaus, so dass sein erstes amerikanisches Werk Johnny Johnson wurde. Ein Theaterkollektiv um Lee Strasberg (das ist der mit dem »Method Acting«) brachte das »musical play« von Paul Green und Kurt Weill heraus. Neben Ira Gershwin, der zusammen mit Moss Hart das Libretto zu Lady in the Dark verfasste, war Maxwell Anderson der bedeutendste amerikanische Dramatiker, mit dem Weill zusammenarbeitete (Knickerbocker Holiday, Lost in the Stars). Das Großprojekt aber, an dem er lange arbeitete, war Street Scene, eine »American Opera«, in der Form dem Vorbild von Porgy and Bess verpflichtet, allerdings inhaltlich ohne jegliche Anspielung auf den zeitgenössischen Rassismus.

Ich freue mich auf die Kursteilnehmenden, bis bald,
Ihr Curt A. Roesler

Dienstag, 8. April 2025

In memoriam Rolf Kühne

In seinem dreiundneunzigsten Lebensjahr ist Rolf Kühne am 22. März in Wiesbaden gestorben (Video-Traueranzeige hier). Seit 1973 wirkte er an der Deutschen Oper Berlin, die letzten Jahre, bis zu seiner Pensionierung 1997, habe ich ihn in vielen Aufführungen erlebt und hoch geschätzt. Auch auf Reisen war ich mit ihm, einmal ging es nach Rom für eine hier kaum beachtete Aufführung von Undine von E. T. A. Hoffmann, er sang den Ritter Kühleborn, ich durfte als Dramaturg mitreisenund den Ehrengast Italo Calvino empfangen. Ein anderes Mal ging es nach Schwetzingen zur Uraufführung von Ophelia von Rudolf Kelterborn. Besonders habe ich ihn aber in Erinnerung in seiner allerletzten Spielzeit vor der Pensionierung 1996/97. Da hatte ich die Ehre und die Freude, dass er den Alberich und die Stimme des Fasolt in Klein-Siegfried sang und ich durfte mit ihm auf der Bühne stehen. Er war ein aufmerksamer, zuverläsiger und stets hilfsbereiter Kollege auf den Proben. Und ein Stabilitätsanker in den Aufführungen.

1932 geboren, hatte er sein Debüt 1956 in Chemnitz, was damals Karl-Marx-Stadt hieß. Wenn man den wenigen biografischen Angaben trauen darf, die zu finden sind, hat die Theaterleitung den jungen Sänger gleich mit der Partie des Sarastro betraut. In Berlin sang er zu Mauerzeiten zunächst sowohl an der Staatsoper wie an der Komischen Oper. 1968 brachte Hans Swarowsky ein internationales Ensemble zusammen für eine der ersten Studio-Gesamtaufnahmen des Ring des Nibelungen. Ein amerikanisches Plattenlabel produzierte die Aufnahme in Prag mit Musikern der Tschechischen Philharmonie und des Nationaltheaters und Sängerinnnen und Sängern aus beiden deutschen Staaten, darunter auch welche mit tschechischer, amerikanischer oder japanischer Staatsbürgerschaft. Rolf Kühne war der Alberich in dieser Aufnahme, die auch heute noch bei den Streamingdiensten verfügbar ist.

Ab 1969 sang Rolf Kühne am Staatstheater Wiesbaden. Irgendwann muss er sich wie viele andere entschieden haben, nicht in die DDR zurückzukehren. 1973 stand ihm daher wie gesagt die Deutsche Oper Berlin offen, wo er sogleich in die Fußstapfen Gustav Neidlingers als Alberich trat. Auch in Bayreuth sang er diese Partie, für die er fast so etwas wie ein Spezialist wurde, obwohl sein Repertoire sehr viel weiter gefasst war und von Beethoven über Rossini, Verdi und Puccini zu Strauss und auch der zeitgenössischen Oper reichte. Die Liste seiner Gastspielorte ist überlang, es gibt so gut wie kein renommiertes Opernhaus in Ost- und Westeuropa, in Nord- und Südamerika, an dem er nicht aufgetreten ist.

Ich werde ihn immer in lebendiger Erinerung behalten, er hat unser aller Leben mit seiner Kunst bereichert. Möge er in Frieden ruhen.

Curt A. Roesler