Hugo von Hofannsthal war 1929 verstorben, gerade als seine Arbeit an Arabella abgeschlossen war, die Komposition jedoch noch längst nicht fertig. Vor ziemlich genau zwei Jahren haben wir über diese Oper gesprochen, weil sie an der Deutschen Oper Berlin neu herausgebracht wurde, hier mein damaliger Beitrag. Über die Suche nach einem neuen Librettisten sprachen wir ebenfalls im Januar 2023, hier. Stefan Zweig (1881–1942), der ihm vom Verleger Anton Kippenberg empfohlen wurde, wusste, wo ein Stoff zu finden ist, der dem Wunsch des Koponisten nach einem »geistvollen Intrigenstück«, nahekommen könnte: bei Ben(jamin) Jonson (1672–1537), einem der Rivalen Shakespeares um die Gunst James I. von England, des Nachfolgers von Elisabeth I.
Jonson hat nicht ganz so viele Stücke geschrieben wie Shakespeare, insgesamt nur 20, hauptsächlich Komödien es sind nur zwei Tragödien darunter. Doch Jonson konnte den Druck einer Gesamtausgabe im Folioformat noch zu Lebzeiten sehen, eine solche Ausgabe der Werke von Shakespeare gab es erst nach dessen Tod. Außerde hat er den Text zu ca. 35 Masques geschrieben und damit den Weg von höfischen Maskenspielen zu Musiktheaterwerken mit einer nachvollziehbaren Handlung vollzogen – zur gleichen Zeit wie in Italien aus Intermedien und Madrigalkomödien die Oper entstand. Eine der bedeutendsten Komödien Jonsons hatte Stefan Zweig 1926 in einer eigenen Bearbeitung herausgegeben, Volpone, or The Fox (1605/06). Am Wiener Burgtheater inszenierte Albert Heine Volpone. Eine lieblose Komödie von Ben Jonson, frei bearbeitet von Stefan Zweig und spielte selbst den Volpone, hier der Theaterzettel. Gleichzeitig erschien bei Kiepenheuer eine Druckausgabe mit Illustrationen von Aubrey Beardsley, die dieser 1898 für eine Ausgabe des Originals hergestellt hatte, hier in einer späteren Auflage zu lesen und sehen bei Gutenberg.
Zweig schlug Strauss eine andere Komödie von Jonson vor, Epicoene, or The Silent Woman (1609). Die war gerade von Mark Lothar, einem eingefleischten Nationalsozialisten, als Lord Spleen: die Geschichte vom lärmischen Mann vertont worden. Das muss beiden oder zumindest Strauss bekannt gewesen sein, denn die Uraufführung war am 11. November 1930 an der Semperoper in Dresden. 1931 wurde Lord Spleen auch an der Städtischen Oper Berlin gespielt, der Vorgängerinstitution der Deutschen Oper Berlin. Dirigent war ausgerechnet Fritz Stiedry. Obwohl damals im deutschen Sprachraum verbreitet, hat sich diese Version nicht erhalten, lediglich die Ouvertüre kann man hier in einer neueren Aufnahme hören und drei Orchesterstücke hier in einer historischen Aufnahme. Interessant, dass einem überzeugten Nationalsozialisten erlaubt war, einen Foxtrot zu schreiben. Aber Mark Lothar und sein jüdischer (!) Librettist Hugo F. Koenigsgarten waren beileibe nicht die Ersten, die The Silent Woman als Opernstoff entdeckten, wie wir gleich sehen werden.
Nachdem die Komödie Jonsons schon 1660 nach der Wiedereröfnung der Theater in London wieder gespielt und von Dryden als »perfektes Schauspiel« begrüßt wurde, hatte es eine durchgehende Tradition im englischen Theater für nahezu ein Jahrhundert. 1662 wurde vermutlich zu ersten Mal die Titelpartie von einer Frau gespielt, wie es in David Garricks Version schon 1752 geschah. Jetzt war dies allerdings ein fürchterlicher Misserfolg und die Idee, die Partie dann eben von einem Jungen spielen zu lassen, half auch nicht. Der Wind der Moral hatte sich gedreht und eine so aktive Frau wurde auf der Bühne nicht mehr akzeptiert. Allerdings scheint Richard Brinsley Sheridan (1751–1816) sich zur School for Scandal (Die Lästerschule, 1777) angeregt gefühlt zu haben. Epicoene kam erst 1895 wieder auf die Schauspielbühne, und zwar auch nur in Studentenaufführungen. Heute gibt es da und dort auch jetzt wieder Aufführungen. Während des Lockdowns 2020 wurde diese Studentenaufführung online verbreitet. In der Beschreibung wird eine Verbindung der Komödie mit der Pest gemacht, die im 17. Jahrhundert regelmäßig in London wütete. Und da die Wissenschaft noch nicht weiter war, hieß es: »The cause of plague is sin [...] the cause of sinne are playes: therefore the cause of plague are playes.« So waren tatsächlich zwischen 1603 und 1613 die Theater insgesamt für 78 Monate geschlossen, im »Lockdown« wie man heute sagen würde. 1605 und 1606 waren die Schließzeiten allerdings vergleichsweise kurz.
Auf die Musikbühne kam Jonsons Silent Woman mehrmals im 19. Jahrhundert. Am 22. Oktober 1800 machte Antonio Salieri (1750–1825) im Wiener Kärntnertortheater den Anfang mit Angiolina ossia Il matrimonio per sussurro. Die Oper wurde 1803 auch in Dresden gespielt, ein zweisprachiges Libretto zu dieser Aufführung hat sich in der Bayerischen Staatsbibliothek erhalten, das hier digitalisiert ist. Leider gibt es nur die Ouvertüre zu hören, diese sogar in verschiedenen Aufführungen, hier die von Matthias Baert und den London Mozart Players. Auf Salieris Angiolina folgte Ser Mercantonio von Stefano Pavesi (1779–1850), bis vor Kurzem eine Karteileiche, also ein häufig erwähnter Titel, von dem aber kaum jemand etwas wusste, außer, dass er als Vorlage für Don Pasquale von Gaetano Donizetti gedient hat. Nun gibt es aber bei Naxos eine Gesamtaufnahme, die Sie bei Spotify und Co. hören können, oder mit dieser Playlist bei YouTube. Die Aufnahme entstand offensichtlich 2011, als Ser Mercantonio beim Rossini-Festival in Bad Wildbad aufgeführt wurde. Ser Mercantonio wurde 1808 im Théâtre-Italien in Paris zum ersten Mal aufgeführt, da wo auch Donizetti 34 Jahre später seine Version herausbrachte. Die Aufführung an der Mailänder Scala 1810, die bisweilen als Uraufführung ausgegeben wird, ist ihrerseits eine revidierte Wiederaufnahme. Etwas gewöhnungsbedürftig bei dieser Version der Epicoene ist, dass Ser Mercantonio, der dem Morose Jonsons entspricht, ein Tenor ist. Sir Morosus bei Strauss und auch Don Pasquale bei Donizetti sind Bässe.
Die einzige Oper nach Jonsons Silent Woman, die Strauss Konkurrenz machen könnte, ist und bleibt aber Don Pasquale. Am 3. Januar 1843 kam die Oper als eine der letzten von Gaetano Donizetti (1797–1848) am Théâtre-Italien in Paris zur Uraufführung, Giulia Grisi, der wir vor einer Woche als erste Adalgisa in Norma begegnet sind, sang die Hauptpartie der Norina. Und auch die übrige Besetzung war erstklassig für die Zeit: Luigi Lablache (Don Pasquale), Antonio Tamburini (Malatesta), Mario [Pseudonym für Giovanni Matteo de Candia] (Ernesto). Das YouTube-Angebot für Don Pasquale ist beeindruckend. Fangen wir mit dem ZDF-Klassiker an, 1972 in Berlin beim RIAS unter der Musikalischen Leitung von Silvio Varviso in deutscher Sprache musikalisch aufgenommen mit Oskar Czerwenka, Hermann Prey, Reri Grist und Luigi Alva, und dann in der Regie von Axel Corti in den Bavaria-Studios gedreht. Hier zu sehen. Zwei Jahrzehnte später ein anderer Klassiker: Riccardo Muti dirigiert an der Scala 1994 Ferruccio Furlanetto, Lucio Gallo, Nuccia Focile und Gregory Kunde. Auf Gregory Kunde folgt Juan Diego Flórez, das ist eine Inszenierung aus Zürich, für die Nello Santi, jahrelang unter diversen Generalmusikdirektoren für das italienische Fach allein zuständig, an das Opernhaus zurückgekommen ist. Außer Flórez singen Ruggero Raimondi, Oliver Widmer und Isabel Rey, die Inszenierung ist von Grischa Asagaroff, der oft und lange mit Jean-Pierre Ponnelle, aber auch mit Götz Friedrich und vielen anderen Regisseuren der Zeit, zusammengearbeitet hat. Hier mit spanischen Untertiteln. Und bis vor Kurzem war eine aktuelle Auführung einer Produktion aus Wien verfügbar. Irina Brook, die auch schon an der Deutschen Oper Berlin Donizetti inszeniert hat, zeigte dort ihre Version, es dirigierte Evelino Pidò (in der Premiere 2015 war es Jesús López Cobos). Es singen Alessandro Corbelli, Pietro Spagnoli, Andrea Carroll und Maxim Mironov. Jetzt aber für die Liebhaber von historischen Schallplattenaufnahmen (wie mich): die erste Gesamtaufnahme auf 15 12"-78er-Schallplatten wurde 1932 mit dem Ensemble der Scala relisiert, dazu gehört der unvergleichliche Tito Schipa als Ernesto. Dirigent war Carlo Sabajno, hier zu hören mit Ernesto Badini, Afro Poli und Adelaide Saraceni.
Die Geschichte, die Ben Johnson in Epicoene erzählt, ist kurz folgende: Ein lärmempfindlicher Kriegsveteran würde gern heiraten, aber die Frauen machen ja so einen Krach. Sein Neffe weiß aber eine, die ist ganz still und brav. Die gibt es zwar nicht, aber seine Braut, die der gleichen Schauspielertruppe angehört wie er, kann sie spielen. Eine fingierte Hochzeit mit dem Alten ist schnell organisiert. Doch danach bricht für ihn die Hölle los, denn jetzt zeigt sie ihre Krallen und macht ordentlich Lärm. Wieder ist es der Neffe, der ihn erlöst, indem er die Hochzeit rückgängig macht. Der Alte ist von Ehefantasien geheilt und der Junge kann endlich heiraten.
Und so gestaltet sich die Intrige bei Strauss: Sir Morosus, Admiral im Ruhestand, flog einst mit der Pulverkammer seines Schiffs in die Luft und kann seither keinen Lärm ertragen. Die Haushälterin rät ihm zu heiraten und der Barbier hat auch schon einen Plan: Henry, der Neffe des Admirals, Mitglied einer Schauspielertruppe könnte irgendwie helfen. Und da ist er schon mit seinen Kollegen und vor allem mit seiner Braut Aminta. Das Chaos, das die Schauspieler anrichten, nervt Morosus so sehr, dass er den Neffen enterbt und alle hinauswirft. Den Barbier beauftragt er, ihm bis morgen eine Braut zu verschaffen, der er sein Erbe anvertrauen kann. Mit den Schauspielern plant der Barbier für den nächsten Tag eine Scheinheirat. * Der Barbier bringt drei Bräute zur Auswahl, drei Schauspielerinnen in entsprechender Verkleidung. Es läuft auf Aminta (alias Timida) hinaus. Schnell wird die Hochzeit vollzogen mit Schauspielern in den Rollen des Pfarrers und des Notars. Ungebeten erscheinen Nachbarn und Flottenkameraden (alles Schauspieler), um zu gratulieren. Endlich allein mit Morosus entpuppt sich Timida als gar nicht so schüchterne und schweigsame Frau, sondern mischt den Haushalt ordentlich auf. »Zufällig« kommt Henry vorbei, der Morosus baldige Scheidung verspricht. Der Versöhnung von Onkel und Neffe steht nichts mehr im Weg. * Noch ist es aber nicht soweit, die Schauspielerkollegen Amintas und Henrys gestalten das Haus um, Aminta/Timida erhält eine Gesangsstunde mit einer Arie aus L'incoronazione di Poppea von Monteverdi. Der Gesangslehrer ist der verkleidete Henry. Endlich erscheint der Barbier mit »Zeugen« und »Richtern«. Die Scheidung wird abgelehnt, dafür die Maskerade aufgedeckt. Morosus ist heilfroh, gar nie wirklich verheiratet gewesen zu sein und nimmt Henry und Aminta sogar in seinem Haus auf, wenn sie ihm nur seine Ruhe lassen. Endlich allein sinnt Morosus: »Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!«
Zwei Videos kann man bei YouTube finden, den Klassiker von 1972 mit Reri Grist (die auch im gleichen Jahr Norina aufgenommen hat, s. oben), Kurt Moll, Donald Grobe und Barry McDaniel hier. Und eine neuere Aufnahme von der Bard Summerscape Opera 2022. Die Bard Summerscape Opera wird geleitet von dem Dirigenten Leon Botstein und ist in Annandale-on-Hudson angesiedelt, einer Kleinstadt zwischen New York und Albany auf der Höhe von Woodstock. Frank Gehry hat dort ein kleines Theater mit 800 Plätzen gebaut, wo alljährlich eine Oper mit meist jungen und noch wenig bekannten Sängern unter der Leitung von Botstein aufgeführt wird. Meist handelt es sich um Raritäten, bis 2011 gehen die Video-Aufnahmen bei YouTube zurück. Hier Die schweigsame Frau von 2022. Den Sir Morosus singt Harold Wilson, der eine oder andere mag sich erinnern: er war einst Stipendiat an der Deutschen Oper Berlin.
Bis Mittwoch in der Alten Feuerwache,
Ihr Curt A. Roesler
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