Montag, 27. Januar 2025

Ravels Werke für die Bühne

Maurice Ravel (1875–1937) hat viel mehr für die Bühne geschrieben und vor allem geplant, als die beiden bekannten Kurzopern L'heure espagnole und L'enfant et les sortileges. Es fing 1895 an mit Gedanken an eine Vertonung des Einakters von Maeterlinck L'Intrigue; den Text hat 120 Jahre später Aribert Reimann in seiner »Trilogie lyrique« L'Invisible als Mittelteil verwendet. 1898 plante Ravel eine Opéra-féerie Shéhérazade. Dafür komponierte er schon einmal eine Ouvertüre, die erst nach seinem Tod herausgegeben wurde. Charles Dutoit hat diese Ouvertüre im Rahmen seiner Gesamtaufnahme der Orchesterwerke Ravels mit dem Orchestre Symphonique de Montréal eingespielt, hier zu hören; dazu ist die Partitur zu sehen. Zu dem Stoff wurde Ravel zweifellos durch die gleichnamige Sinfonische Suite von Rimsky-Korsakow angeregt, der wie auch die anderen Mitglieder der Gruppe der fünf »Novatoren« für ihn musikalisches Vorbild war. Auf den Stoff kam er später mit einem Liedzyklus Shéhérazade für Sopran und Orchester nach Texten von Tristan Klingsor zurück. 1898/99 plante Ravel auch eine Oper Olympia (nach E. T. A. Hoffmanns Sandmann, also etwas ganz anderes als Spontinis Olympie). Aber das Thema hatte Offenbach ja schon abschließend bearbeitet. Die Bedeutung des Uhrwerks als Chiffre für erotische Sehnsüchte blieb Ravel aber eingegraben (siehe L'heure espagnole). Nachdem Debussy mit Pelléas et Mélisande eine abendfüllende Oper nach Maeterlinck vorgelegt hatte, suchte Ravel nach einem Kontrast zum Symbolismus und fand ihn in Gerhard Hauptmanns Naturalismus. 1906 finden wir Pläne für La cloche engloutie nach Die versunkene Glocke. Mehr als zwanzig Jahre später kam in Hamburg eine Oper nach diesem Text von einem anderen Komponisten heraus, den man (wie Debussy und Ravel) gemeinhin dem Impressionismus zurechnet, Ottorino Respighi.

Als Ravel die Komödie L'heure espagnole (1904) von Franc-Nohain, (eigentlich Maurice Étienne Legrand, 1872–1934) sah, wählte er diesen Text spontan für eine Oper aus, die er im Sommer 1907 schrieb. Die Partitur stieß allerdings erst auf Skepsis, besonders wegen des frivolen Sujets. Aber auch die Notwendigkeit, eine zweite Oper zu finden, die einen Abend vervollständigen konnte, zögerte die Uraufführung heraus. Endlich entschied sich Albert Carré, der Direktor der Opéra-Comique, L'heure espagnole mit einer späten Oper von Jules Massenet zu kombinieren, die 1907 in Monte-Carlo herausgekommen war, aber in Paris noch nicht gespielt wurde, Thérèse. Die gehörte zu den Ausflügen Massenets in die Welt des Verismo. Es ist eine hyperrealistisch präsentierte Geschichte aus der Zeit der französischen Revolution, ähnlich Umberto Giordanos Andrea Chénier. Vielleicht lag es an der Kombination, dass beide Stücke sich nicht sehr schnell verbreiteten. Immerhin kam L'heure espagnole zehn Jahre später, 1921, an die Pariser Opéra. Die Partie der Concepción sang Fanny Heldy, die später einen Ausschnitt mit dem Orchester der Opéra-Comique aufnahm. Hier zu hören. Thérèse wurde sogar erst in den 1980ern wiederentdeckt, vor allem auf Initiative von Gerd Albrecht (er dirigierte auch eine konzertante Aufführung an der Deutschen Oper Berlin). Bis heute haben es aber beide Opern schwer, ins Repertoire zu kommen, auch wenn viele Kombinationen ausprobiert wurden. Besonders häufig wird L'heure espagnole mit L'enfant et les sortilèges, der zweiten Kurzoper von Ravel, zusammen gespielt. Manchmal wird versucht, Puccinis Gianni Schicchi dagegenzustellen, manchal wird ein zeitgenössisches Werk vorangestellt. Oder L'heure espagnole wird auch allein gespielt, wie vor vielen Jahren im Foyer der Deutschen Oper Berlin (in einer Fassung für Kammerorchester). Oder sie wird im Rahmen eines Konzertes wiedergegeben, wie jetzt im Februar in der Deutschen Oper Berlin. L'enfant et les sortilèges wurde vor noch längerer Zeit in der Deutschen Oper zusammen mit einer rekonstruierten Fassung der Oper La chute de la maison Usher von Claude Debussy gespielt und kommt ohne ein zweites Werk, in deutscher Sprache (wie damals an der Deutschen Oper Berlin auch), als Familienoper im Februar in Dresden an der Semperoper heraus. 

L'heure espagnole ist bei Medici TV (erreichbar über voebb.de, wenn Sie einen Ausweis der Berliner Stadtbibliothek haben) in einer Inszenierung von Laurent Pelly aus Glyndebourne zu sehen. Eine ältere Produktion aus Glyndebourne ist hier bei YouTube noch verfügbar. Regie führte 1987 Frank Corsaro, der fünf Jahre davor an der Deutschen Oper Berlin La fanciulla del West, ein in der gleichen Zeit geschriebenes Werk von Puccini, inszeniert hatte.

Besonders intensiv war die Zusammenarbeit Ravels mit den »Ballets russes« Serge Diaghilevs, aber auch mit Tänzern und Tänzerinnen der Opéra. Bereits 1904 hatte Fokine ein Konzept für ein Ballett auf den antiken Stoff von Daphnis und Chloe ausgearbeitet. 1909 beauftragte Diaghilev Ravel mit der Komposition. Die Uraufführung Daphnis et Chloé am 8. Juni 1912 sollte die letzte Choreographie Fokines werden, danach setzte Diaghilev vor allem auf Nijinski. Bekannt sind die beiden Suiten aus der Ballettmusik, die oft im Konzert aufgeführt werden, die erste kam sogar noch vor der Uraufführung des Balletts zur Aufführung, die zweite, heute bekanntere, entstand erst später. Pierre Monteux dirigierte die Urauführung des Balletts, mehr als vierzig Jahre danach dirigierte er eine konzertante Aufführung des gesamten Balletts im Amsterdamer Concertgebouw, hier die Aufzeichnung des Konzerts.

Keine zwei Monate vor Daphnis et Chloé wurde ein anderes Ballett mit Musik (und auch einem Szenario von Ravel nach Alexandre Dumas' La dame aux camélias) aufgeführt. Es handelte sich um eine Orchesterfassung der 1911 erschienenen Schubert-Hommage Valses nobles et sentimentales. Jacques Rouché, der spätere Direktor der Pariser Oper, hatte dies offenbar veranlasst. Er leitete 1910–13 das Théâtre des arts und brachte dort Ballette, Schauspiele und Opern heraus. Informationen über Adelaïde ou Le langage des fleurs – so hieß diese Kurzfassung der Kameliendame – sind nur sehr verstreut zugänglich. Die Choreografie stammte von Natalia Trouhanova aus dem Ensemble der »Ballets russes«. Die Uraufführung war im Théâtre des Arts, dem heutigen Théâtre Hébertot, und nicht im Théâtre du Châtelet (wo die Ballets russes auftraten und wo auch Daphnis et Chloé uraufgeführt wurde), wie gelegentlich kolportiert wird. Die Valses nobles et sentimentales, hier gespielt von Artur Rubinstein, werden noch heute oft in der Orchesterversion gespielt, hier eine Aufführung in der Genfer Victoria Hall mit dem Orchestre de la Suisse Romande, das von dem Ravel-, Debussy- und Strawinsky-Spezialisten Ernest Ansermet gegründet worden war. Es dirigiert Jonathan Nott. Eine moderne Choreografie der Adelaïde ist hier zu sehen.

Ein weiteres Bühnenwerk Ravels war Ma mère l'Oye. Wie Adelaïde liegt auch diesem ein Klavierzyklus zu Grunde, hier gespielt von Arthur und Lucas Jussen zur Corona-Zeit im Concertgebouw Amsterdam. Fünf klassische französische Märchen von Perrault und anderen liegen dem zwischen 1908 und 1910 komponierten Werk zugrunde. Für Jacques Rouché erweiterte Ravel den Zyklus um ein Vorspiel, einen Tanz um das Spinnrad und vier Zwischenspiele. Auch dieses Ballett Ravels erschien 1912, und zwar schon am 28. Januar, vor fast genau 111 Jahren. Die Choreografin war Jeanne Hugard. Ma mère l'Oye wurde später von verschiedenen Choreografen aufgegriffen, so von John Cranko und von John Neumeier, doch keine von diesen Choreografien sind auf YouTube vorhanden. Konzertante Aufführungen der kompletten Partitur sind aber nicht selten, hier eine unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen aus der Elbphilhmaronie von 2020, coronabedingt mit etwas ausgedünntem und weit auseinander sitzendem Orchester und ebenso verstreut platziertem Publikum. Die Magie des Werks stellt sich aber schnell ein.

Auch das nächste Bühnenwerk Ravels geht auf eine Initiative Jacques Rouchés zurück. Als frischer Direktor der Opéra bat er die gefeierte Schriftstellerin (Sidonie-Gabrielle) Colette um den Text für ein »féerie-ballet«. 1916 vollendete sie ein Ballet pour ma fille und Rouché schlug Ravel als Komponist vor, der jedoch erst nach dem Krieg mit der Arbeit begann. Der Erfolg seiner L'heure espagnole in  Monte-Carlo (kombiniert mit I pagliacci von Leoncavallo und mit Fanny Heldy als Concepcion) brachte einen Kreativitätsschub. Jetzt war schon nicht mehr von einer Uraufführung an der Opéra die Rede, sondern das gefeierte Opernhaus in Monte-Carlo, wo schon viele Werke wie Massenets Don Quichotte oder Puccinis La rondine uraufgeführt worden waren, sah am 21. März 1925 die erste Aufführung der zweiten Oper von Ravel, L'enfant et les sortilèges (»Das Kind und die Zauberdinge«). Bei Medici TV (erreichbar über voebb.de, wenn Sie einen Ausweis der Berline Stadtbibliothek haben) gibt es eine schöne Inszenierung von Laurent Pelly aus Glyndebourne. Auch die Ballettversion von Jiri Kylian ist dort verfügbar. Auf YouTube epfehle ich die konzertante Aufführung aus Paris mit der früh verstorbenen Jodie Devos als Kind unter der Leitung von Mikko Frank: hier zu sehen. 

Auch das vermutlich bekanneste und am meisten gespielte Werk Ravels ist für die Bühne geschrieben worden, Boléro. Ida Rubinstein, seit ihrem Auftritt in Oscar Wildes Salomé Pariser Skandaltänzerin und Ensemblemitglied von Serge Diaghilevs »Ballets russes«, hatte Ravel gebeten, für sie einige Klavierstücke aus Ibéria von Isaac Albéniz zu instrumentieren. Als jedoch bekannt wurde, dass der spanische Dirigent und Komponist Enrique Fernández Arbós gerade auch dabei war, diese Stücke zu bearbeiten, entschied sich Ravel, ein eigenes Stück zu komponieren, das Bronislava Nijinska choreografierte. »Les Ballets de Madame Ida Rubinstein« traten in der Opéra auf, nicht im Théâtre des Champs-Élysées wie die »Ballets russes«. In der Opéra kam denn am 22. Oktober 1928 Boléro zur Uraufführung. Heute am bekanntesten ist die Choreografie von Maurice Béjart, hier zu sehen in der Abschiedsvorstellung von Nicholas Le Riche an der Pariser Opéra. Ja, die »Melodie« ist für einen Mann choreografiert, Béjart ließ es allerdings auch zu, dass Tanzerinnen in diese Partie schlüpften. So sahen wir in der Deutschen Oper viele Tänzerinnen wie Heidrun Schwaarz (Premiere 1977) und Tänzer wie Jorge Donn. 

Bereits 1919 hatte Ravel La valse im Auftrag von Serge Diaghilev komponiert, doch die Komposition, die 1920 in einem Konzert uraufgeführt wurde, wurde von vielen Experten als eine sinfonische Fantasie über die Choreografie angesehen und nicht als Musik für eine Choreografie. Daher zog sich Diaghilev zurück. Ravel überließ die Partitur Sonja Korty für Antwerpen, wo La valse zuerst als Ballett herauskam. Bekannter wurde aber die Choreografie von Bronislava Nijinska, die am 12. Januar 1929 wiederum bei den »Ballets de Madame Ida Rubinstein« in der Opéra herauskam.

Am Mittwoch befassen wir uns vor allem mit den beiden Kurzopern, L'heure espagnole und L'enfant et les sortilèges.

Ich freue ich darauf, und bis dann
Ihr Curt A. Roesler

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