Montag, 3. Februar 2025

Der Herzog von Reichstadt

In der Zehlendorfer Runde war das Interesse an L'Aiglon nicht so groß, dass wir dafür die Planung der Abende bis März hätten ändern sollen. Ich werde aber auf jeden Fall nach Mainz fahren, um mir dieses Gemeinschaftswerk von Jacques Ibert und Arthur Honegger anzuschauen. Die Oper (oder Operette, wie die Autoren sie nannten) habe ich noch nie gesehen, also muss ich mich auch ein wenig vorbereiten. Und ich lasse Sie teilnehmen in dieser Woche. Wir pausieren in Zehlendorf wegen der Winterferien.

In meiner Schallplattensammlung befindet sich seit gefühlt 50 Jahren eine Aufnahme aus den 50ern mit Géori Boué als Herzog von Reichstadt. 1952 gab es eine Wiederaufnahme der Oper in Paris mit ihr und unter der Musikalischen Leitung von André Cluytens. Die Schallplatte entstand ein paar Jahre später unter der Leitung von Pierre Dervaux. Sie ist auch als CD erschienen und deshalb können Sie sie bei Streamingdiensten hören (ich empfehle immer Naxos Music Library, weil Sie da freien Zugang haben, wenn Sie sich mit ihrem Ausweis der Berliner Stadtbilbiothek, VOEBB, Verbund Öffentlicher Bilbiotheken Berlin, einwählen). Es gibt auch eine Playlist bei YouTube, die ist aber nicht sehr hilfreich, weil die 19 »Songs« in einer wirren Reihenfolge abgespielt werden. Vor einigen Jahren hatte ich erfahren, dass die Operette von Ibert und Honegger schon in ihrem Uraufführungsjahr Konkurrrenz bekommen hatte. Ein heute so gut wie vergessener österreichischer Komponist namens August Pepöck (1887–1967) hatte zusammen mit dem versierten Librettisten Bruno Hardt-Warden Hofball in Schönbrunn verfasst. Und ein befreundeter Regisseur hatte vor bald dreißig Jahren das Angebot erhalten, diese Operette in einer der Ex-jugoslawischen Republiken zu inszenieren. Dadurch erfuhr ich von deren Existenz. Überlebt hat aus der österreichischen Operette der Tenorschlager »Schönste Frau von Wien« (hier singt ihn Herbert Ernst Groh). Er wird vom Herzog von Reichstadt gesungen und vermutlich ist damit Fanny Elßler gemeint, die als Agentin Metternichs auftritt. In Die Tänzerin Fanny Elßler, einer Operette von Bernard Grun und Hans Adler mit Musik von Johann Strauß, die ein paar Jahre früher, 1934 in Berlin uraufgeführt wurde, tritt der Herzog von Reichstadt auch auf, allerdings nur als Nebenrolle. 1966 wurde die Strauß-Operette mit Ingeborg Hallstein für das Fernsehen aufgezeichnet, hier sind drei Höhepunkte daraus zu sehen.

Wer ist denn nun dieser Herzog von Reichstadt? Es ist der 1811 in Paris geborene Sohn Marie-Louise von Österreichs und Napoleon I. Drei Wochen lang war er 1815 als Napoléon II. Kaiser der Franzosen, wovon er bermutich selbst kaum etwas gemerkt hat. 1818 wurde er von seinem Großvater Franz I. zum Herzog von Reichstadt ernannt. Seine mögliche Karriere in der österreichischen Armee wurde vom Fürsten Metternich behindert, der ihn quasi in Geiselhaft hielt, weil er mit ihm der französischen Regierung drohen konnte. Zuletzt aber war er ohnehin zu krank, um in der Armee eine Rolle zu spielen, er starb 1832 in Schönbrunn an Tuberkulose und die Erbschaft Napoleons ging an seinen jetzt wieder im schweizer Exil am Bodensee weilenden Onkel Louis Napoléon über.

1900 schrieb Edmond Rostand (1868–1918) zum dritten Mal ein Stück für Sarah Bernhardt. Die ersten beiden, ein Troubadour-Drama und eine biblische Geschichte waren nicht besonders erfolgreich, aber Rostand war nach Cyrano de Bergerac 1897 nun ein berühmter Bühnenautor. Und Sarah Bernardt hatte inzwischen große Erfolge in Hosenrollen gefeiert, etwa in Lorenzaccio von Alfred de Musset und Hamlet von Shakespeare. Die Rolle, die Rostand der Bernhardt nun in einem sechsaktigen Versdrama auf den Leib schrieb, war eben jener Herzog von Reichstadt. Die Uraufführung von L'Aiglon in Sarah Bernhardts eigenem Theater war ein Triumph für die Schauspielerin und den Autor. Im folgenden Jahr spielte Bernhardt den Herzog auch in London. Einen Ausschnitt hat sie auch auf Schallplatte gesprochen, die Michigan State University hat die Aufnahme digitalisiert und man kann sie dort hören. Der Link in Wikipedia ist nicht mehr aktuell, hier eine Alternative. Was man daraus lernen kann? Dass man heute einer Schauspielerin, die so spricht, keine 20 Skunden zuhören würde. 

Die sechs Akte Rostands haben Überschriften, die auch in den fünf Akten Iberts und Honeggers wiederkehren. 1. Les Ailes qui poussent (Die Flügel, die wachsen); 2. Les ailes qui battent (Die Flügel, die kämpfen), 3. Les ailes qui s'ouvrent (Die Flügel, die sich öffnen) 4. Les ailes meurtries (Die geprellten Flügel) 5. Les ailes brisées (Die gebrochenen Flügel) 6. Les ailes fermées (Die geschlossenen Flügel). Während der Besatzung war das Stück in Frankreich verboten – die Nazis hatten ein besonderes Verhältnis zum leiblichen Sohn Napoleons: 1940 überführten sie die sterblichen Überreste von Wien nach Paris – 1945 wurde L'Aiglon schon wieder mit großem Erfolg im Théâtre du Châtelet gespielt. Und auch heute noch gehört es zu den Klassikern der französischen Bühne hier der erste Teil einer aktuellen Inszenierung und hier der zweite. Insgesamt über dreieinhalb Stunden. Das Personenverzeichnis ist lang: zum Herzog von Reichstadt kommen:

Séraphin Flambeau, dessen Gefolgsmann, 1900 gespielt von Sacha Guitry, Bass in der Operette
Der Fürst Meternich, Bariton in der Operette
Marschall Marmont, ebenfalls Bariton
Der Schneider (nicht in der Operette)
Friedrich von Gentz (eine kleine Tenorpartie)
Der Französische Gesandte (ebenfalls Tenor)
Der Chevalier von Prokesch-Osten (Bass)
Tiburce de Lorget (nicht in der Operette, dafür aber Thérèse de Lorget, Sopran)
Der Graf von Dietrichstein (nicht in der Operette)
Der Baron Obenaus (nicht in der Operette)
Der Graf von Bombelles (nicht in der Operette)
Der General Hartmann (nicht in der Operette)
Der Doktor (nicht in der Operette)
Der Graf von Sedlinsky, Polizeichef (Tenor)

und weitere 19 kleine männliche Rollen, die nicht in die Operette übernommen wurden, danach kommen 17 weibliche Rollen, wovon nur diese drei in die Operette übernommen wurden:

Die Gräfin Camerata, Schwester Napoléon I. (Alt)
Marie-Louise, die Mutter des Herzogs von Reichstadt (Mezzo-Sopran)
Fanny Elßler (Mezzo-Sopran)

Die Oper L'Aiglon wurde am 11. März 1937 in Monte-Carlo mit einer illustren Besetung zur Uraufführung gebracht. Fanny Heldy sang die Titelpartie, Vanni-Marcoux den Flambeau und Arthur Endrèze den Metternich.

1. Akt: Die Flügel, die sich öffnen: Im Schloss Schönbrunn unterhalten sich Gentz und Metternich zu Walzerklängen über den Herzog von Reichstadt. Sie werden unterbrochen von Marie-Louise und Thérèse, die mit dem französischen Gesandten und Hofdamen dazukommen. Thérèse beginnt mit einer Gedichtrezitation, da kommt der blasse Herzog dazu, der sogleich mit Metternich über die Trikolore in Streit gerät. Thérèse bringt ihn auf andere Gedanken. Ob es Liebe ist, weiß er selbst nicht. Mit Zinnsoldaten findet er jedenfalls auch interessant, dafür hat er Prokesch in seiner Nähe. Doch Metternich lässt nicht locker, er hat einen ehemaligen Soldaten Napoleons aufgetan, Marschall Marmont, der einst für die Niederlage verantwortlich war und den er daher auf seiner Seite glaubt. Doch der will seine damalige Feigheit damit auslöschen, dass er nun den Sohn Napoleons unterstützt. Da kommt noch ein Franzose in österreichischen Diensten dazu, Séraphin Flambeau, der die Flucht des Herzogs nach Frankreich zu organisieren verspricht.

2. Akt: Die Flügel, die kämpfen: Am selben Ort pflanzt der Herzog den zweispitzigen Hut seines Vaters auf, um Flambeau zu signalisieren, dass er in seine Verschwörung einsteigen will. Der Zweispitz bringt Metternich in äußerste Rage. Er streitet sich mit Flambeau und dann redet er dem Herzog ein, dass er gar nicht das Zeug zum Herrscher habe bei all dem schlechten habsburgischen Blut, das von seiner Mutter kommt. Da kommt einiges zusammen: das Erbe von Johanna der Wahnsinnigen, von der unter der Guillotine gelandeten Marie-Antoinette...

3. Akt: Die geprellten Flügel: Auf einem Maskenball im Garten des Schlosses trifft der demoralisierte Herzog wieder auf Thérèse. Das zuerst von Honegger komponierte lange Liebesduett wurde später gekürzt und teilweise durch eine Walzerfolge von Ibert ersetzt. Graf Prokesch richtet den Herzog wieder auf und die Verschwörung kann ihren Lauf nehmen. Die Tante, Gräfin Camerata, kommt in identischer Uniform wie der Herzog, damit dieser unbemerkt verschwinden kann. Auch Fanny Elßler hilft mit, die Identität des Herzogs zu verschleiern. Beinahe wird das Komplott durch Graf Gentz aufgedeckt, doch der Französische Gesandte rettet die Situation.

4. Akt: Die gebrochenen Flügel: Flambeau beschwört die legendäre Schlacht bei Wagram herauf, bei der Napoleon den Erzherzog Karl von Österreich besiegte. Auch der Herzog phantasiert sich hinein, er sieht unter den Schatten gefallener Krieger seine Tante in Uniform, die ihm als Schwächling zusetzt und die Aufdeckung der Verschwörung bekannt macht. Der Polizeichef erscheint, Flambeau will lieber sterben als gefangen werden. Der Herzog verschafft ihm Eleichterung, dadurch, dass er ihn noch einmal die echte Schlacht bei Wagram durchleben lässt.

5. Akt: Die geschlossenen Flügel: Ein paar Monate später ist der Herzog von Reichstadt wieder im Schloss Schönbrunn. In seinem Sterbezimmer warten Marie-Louise, Metternich und Thérèse. Marie-Louise beweint ihren Sohn, Metternich heuchelt Mitgefühl. Er hat die Sterbesakramente empfangen, Thérèse singt ihm die Lieder der Kindheit. Metternich ordnet an, dass der Tote in seine weiße Uniform gekleidet werden soll.

L'Aiglon wird sehr selten aufgeführt. Zwischen 2004 und 2013 gab es im französischen Sprachraum eine Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier, die herumgereicht wurde. 2015 hat Kent Nagano drei konzertante Aufführungen in Montreal dirigiert, daraus ist eine CD-Aufnahme gemacht worden, die Sie auch bei den Streamingdiensten hören können. Das Booklet finden Sie auf archive.org hier. Aktuell gibt es wie erwähnt eine Produktion in Mainz, die noch bis April läuft. Ich bin sehr gespannt darauf.

Nächste Woche geht es dann weiter mit Akhnaten von Philip Glass

Ihr Curt A. Roesler

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