Für den dritten Abend im Herbst-Trimester haben wir uns Mefistofele von Arrigo Boito vorgenommen, eine der zahlreichen Vertonungen des Faust-Stoffes. The New Grove Dictionary of Opera zählt in der Ausgabe von 1992 27 bis 1989 entstandene Opern auf. Dabei sind also weder die Oper von Alfred Schnittke (Hamburg 1995), noch die von Pacal Dusapin (Berlin, 2006), aber Henri Pousseur und Wolfgang Rihm sind schon aufgeführt. Schaut man genauer hin, findet man jedoch auch Lücken. Fausto von Louise Bertin z. B. (Paris, 1831, wir sprachen hier darüber) fehlt.
Einige Opern sind erschienen, bevor Goethe den ersten Teil seiner Tragödie veröffentlicht hat, und enthalten daher nichts von der »Gretchen-Tragödie«, wenn Faust da eine Partnerin hat, dann ist es Helena aus der Mythologie. Nach Goethes Publikation allerdings gibt es nur wenige Werke, die davon nicht beeinflusst sind, oder sich wie Ferruccio Busoni in seinem unvollendeten Dr. Faust bewusst von Anspielungen auf Goethe fernhalten. Recht nah an der »Gretchen-Tragödie« ist Charles Gounod, über den wir bei den Zehlendorfer Operngesprächen schon öfter gesprochen haben. Der einzige Komponist aber, der den ersten und den zweiten Teil der Goetheschen Tragödie einbezogen hat, ist Arrigo Boito. Das bedeutet zwar nicht, dass in seinem Mefistofele nun die gesamte philosophische Dimension der Dichtung ins Musikalische übertragen wäre. Goethes Faust, insbesondere dessen zweiter Teil, ist ohnehin mehr ein Lesedrama als ein Bühnenwerk. Eine szenische Aufführung selbst nur des gesprochenen Textes würde jede Theaterkonvention sprengen. Man wird immer nur Ausschnitte aufführen können. Und daher wird man immer den Fokus auf einen bestimmten Aspekt setzen. Wie der Titel schon sagt, hat sich Boito in erster Linie mit dem auseinandergesetzt, was allgemein als das Böse angesehen wird und der Anziehungskraft, die davon ausgeht: Mephistopheles wird zur Hauptfigur in der quasi Kurzfassung der beiden Teile der Tragödie.
Arrigo Boito (1842–1918) war eine führende Figur der »Scapigliatura«, einer Bewegung junger Mailänder Künstler in den 1860er Jahren. Die »Scapigliati« (also etwa die, »die nicht zum Friseur gehen«) propagierten die enge Verwandtschaft von Literatur, Musik und Bildender Kunst und waren gegen jede Konvention. Vorbild waren die »Buveurs d'eau« in Paris, die Henri Murger in seinen »Scènes de la vie de Bohème« trefflich porträtiert hatte. Kein Wunder, dass La Bohème in den 1890er Jahre, als die ehemaligen »Scapigliati« sich längst wieder frisieren ließen, zum durchschlagenden Opernerfolg wurde.
Die »Scapigliati« waren glühende Anhänger des jungen italienischen Königreiches. Boito kämpfte sogar an der Seite Garibaldis im Deutsch-Deutschen Krieg 1866 gegen die Österreicher. Da hatte er sein Kompositionsstudium bei Alberto Mazzucato (1813–1877) längst abgeschlossen und auch schon zusammen mit Franco Faccio, dem späteren berühmten Dirigenten von etlichen Verdi-Premieren, zwei Kantaten komponiert, die ihm Zugang zu Verdi und Rossini in Paris verschafften. 1862 ist zum ersten Mal ein Text von Arrigo Boito in der Vertonung von Giuseppe Verdi aufgeführt worden: der Inno delle Nazioni bei der Weltausstellung in London. Heute kennen wir Arrigo Boito vor allem als Librettisten Verdis (Simon Boccanegra, 2. Fassung, Otello, Falstaff) und Amilcare Pochiellis (La gioconda, unter dem Anagramm Tobia Gorrio). Aber er schrieb auch selbst zwei Opern, Mefistofele, mit dem wir uns am Mittwoch befassen wollen und Nerone, bei seinem Tod unvollendet und mit Ergänzungen von Antonio Smareglia (1854–1929), Vincenzo Tommasini (1878–1950) und Arturo Toscanini (1867–1957).
In der ersten Fassung des Mefistofele, die im März 1868 bei der Uraufführung an der Scala di Milano gnadenlos durchfiel, wurde Faust von einem Bariton gesungen. Diese Fassung hatte einen Prolog und fünf Akte; zu den Gründen für den Misserfolg zählte der Komponist die Länge der Oper, er machte sich also gleich daran zu kürzen und zu konzentrieren. Erst sieben Jahre später kam die endgültige Fassung in Bologna heraus, die von Anfang an ein durchschlagender Erfolg war – und eine italienische Alternative zum Welterfolg Faust des französischen Komponisten Charles Gounod.
In der endgültigen und heute ausschließlich gespielten Fassung umfasst die Oper Prolog, Epilog und vier Akte. Prologo in cielo ist der Prolog überschrieben, also Prolog im Himmel. Musikalisch ist er in vier »Tempi«, also vier Sätze, wie eine Sinfonie, und mitten darin ein »Intermezzo drammatico«, eingeteilt. Der zweite Satz, das erste Scherzo in der Sinfonie, enthält das »Ave Signor« (»Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen...«) des Mefistofele, hier gesungen vom ersten berühmten Interpreten der Partie, Feodor Schaljapin. »Kennst du den Faust?« ist der Inhalt des »Intermezzo drammatico«, hören wir das hier von einem der großen Nachfolger von Schaljapin, Boris Christoff. »Der Herr« wird bei Boito vom Chorus mysticus vertreten. »Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern.« So endet der Prolog nicht bei Boito, sondern als musikalische Zusammenfassung mit einem Salve regina in der »Salmodia finale«, mit Chören und Kinderchor, hier interpretiert von einem Boito-Spezialisten besonderer Prägung, Arturo Toscanini. – Der erste Akt besteht aus »La domenica di Pasqua«, dem Osterspaziergang, und »Il patto«, die Auseinandersetzung mit dem Geist (Mephistopheles) im Studierzimmer. Der Osterspaziergang führt auch zu den Bauern unter der Linde, die hier Bürger sind, »Juhé! Juheissa! Juhé!«, hier aus der frühesten Gesamtaufnahme, 1929 mit dem Chor und Orchester der Scala unter der Leitung von Lorenzo Molajoli. »Dai campi, dai prati«, Faust kommt ins Studierzimmer zurück, die erste Tenorarie, kurz und konzentriert. So sah das in der Inszenierung von Roland Schwab in München aus, gesungen von Joseph Calleja. Nun aber das Pfeifen des Teufels. Dafür kehren wir zu Schaljapin zurück, wie das erste Musikbeispiel aufgenommen 1926 in London bei einem Gastspiel des Weltstars. »Son lo spirito che nega« (»Ich bin der Geist, der stets verneint«). – Der zweite Akt besteht aus »Il giardino«, der Gartenszene und »La notte di Sabba«, dem Hexensabbat. Wir eilen also schnell durch die Gretchentragödie. Das Quartett »Cavaliere illustre e saggio« ist die einzige direkte Parallele zu Faust von Charles Gounod, die 1862 ihre italienische Premiere am Teatro alla Scala hatte. Hier steht aber am Anfang des Quartetts die allererste Begegnung von Margarethe und Faust, die gleich mit Buffo-Paar Marthe und Mephistopheles kontrastiert wird. Aber alles Wichtige ist drin: »Nun sag' wie hast du's mit der Religion« – »Dimmi se credi Enrico«. Hier dieser zweite Teil in der Aufnahme, die in den 1960er Jahren als Referenzaufnahme galt, Tullio Serafin dirigiert die Accademia di Santa Cecilia, ein etwas steifer Faust ist Mario del Monaco, Gretchen Renata Tebaldi, Mefistofele Cesare Siepi und Marta Lucia Danieli. Den Anfang vom Hexensabbat, »Su cammina, cammina« hier in einer Aufnahme, die ich seit jeher bevorzuge, Franco Capuana dirigiert, Giulio Neri ist Mefistofele und Gianni Poggi Faust. Beide standen irgendwie immer in der zweiten Reihe, obwohl sie etwa Siepi und Ghiaurov oder del Monaco di Stefano in nichts nachstanden. Die »Ballata del Mondo« des Mefistofele »Ecco il mondo, vuoto e tondo« hier mit dem Bass der ersten Gesamtaufnahme, Nazzareno de Angelis. Und die abschließende Höllenfuge hier aus einer Aufführung 1989 in Florenz mit Samuel Ramey als Mefistofele. – Mit dem 3. Akt in einem einzigen Bild, dem Kerker, schließt der erste Teil der Tragödie: »Morte di Margherita«. Gretchen, vom Wahnsinn geschlagen, träumt von dem Kind, das sie getötet hat. Eine Arie, die bei allem Aufrührerischen des »Scapigliato« Boito ganz in der italienischen Tradition steht. Hier gesungen von Maria Callas, da hört man gleich auch den ganzen Belcanto-Hintergrund dieser Musik. Faust und Mefistofele dringen in den Kerker ein, doch es wird nichts mit einer Entführung, »Ti scongiuro, fuggiamo« bettelt Faust umsonst, es mündet in eines der schönsten italienischen Duette »Lontano, lontano«, hier in einer Auffürhung des Teatro Massimo in Palermo mit Dimitra Theodossiu und Giuseppe Filianoti. Doch es wird nichts aus der geplanten Wiedervereinigung. Gretchen stirbt und wird gerettet mit einem einfachen »E salva« des Chores hinter der Bühne. Mefistofele zieht Faust davon. Hier Gretchens Ende gesungen von Mirella Freni. – Für der Tragödie zweiten Teil bleibt noch der vierte Akt und der Epilog. »La notte di Sabba classico« ist der 4. Akt überschrieben, der Goethes 3. Akt aus dem 2. Teil nachempfunden ist. Faust begegnet einer anderen weiblichen Figur, Helena von Troja, der angeblich schönsten Frau der Welt. In der Uraufführung wie in vielen späteren Interpretationen auch, wird sie von der gleichen Sängerin verkörpert wie Margherita. Helena wird von ihrer Dienerin Panthalis begleitet, die am Beginn ein Duett mit ihr singt. Hier der Anfang des Klassischen Sabbat in einer Aufnahme aus London von 1980/82 unter der Leitung von Oliviero de Fabritiis, mit Montserrat Caballé (Elena), Della Jones (Pantalis), Luciano Pavarotti (Faust) und Nicolai Ghiaurov (Mefoistofele). Und damit mein bevorzugter Tenor Carlo Bergonzi auch einmal vorkommt, hier das Duett mit Elena »Forma ideal purissima« und der Schluss des 4. Aktes mit Renata Tebaldi aus einer konzertanten Aufführung in der Carnegie Hall 1966. Im Epilog »La morte di Faust« gibt es noch eine große Arie für Faust: »Giunto sul passo estremo«. Hier der ganze Schluss mit Charles Castronovo und Erwin Schrott in einer Produktion der Festspiele in Baden-Baden 2016, Inszeniert von Philipp Himmelmann. Die entscheidenden Worte »Arrestati, sei bello« bei 06:12.
Und jetzt noch ein Hinweis auf eine komplette Aufführung: 1989 inszenierte Robert Carsen Mefistofele in San Francisco mit Samuel Ramey. Davon können Sie eine Aufzeichnung bei YouTube finden, es gibt aber in etwas besserer Tonqualität diese Aufnahme einer Wiederaufnahme von 2017.
Dann also bis Mittwoch in Zehlendorf, wir sehen uns,
Ihr Curt A. Roesler
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