Modest Mussorgski hat 13 Mal einen Anlauf genommen für ein Bühnenwerk; nur eines ist ganz fertig geworden, diese aber in zwei unterschiedlichen Fassungen, Boris Godunow; eines, Die Heirat nach Gogol, liegt immerhin zu einem Drittel vor; zwei sind halbwegs rekonstruierbar, Chowanschtschina und Der Jahrmarkt von Sorotschinzy. Die letzte Oper haben wir behandelt, als die Komische Oper sie herausbrachte, 2017. Heute geht es um Chowanschtschina, die Staatsoper hat eine Produktion mit Claus Guth als Regisseur vor.
Wie Boris Godunow behandelt Chowanschtschina einen Moment in der Geschichte des russischen Zarenreichs. Spielt Boris Godunow in der Zeit von 1598 (Krönung) und 1605 (Tod und Wirren um die Nachfolge), so kann man Chowanschtschina auf das Jahr 1682 eingerenzen – mit einem Ausblick auf spätere Zeiten bis 1698. Der Titel ist schwer zu übersetzen, ganz sicher bedeutet Chowanschtschina (Хованщина) nicht »Die Fürsten Chowanski« wie das in der ersten deutschen Übersetzung wiedergegeben wurde. Und »Die Sache Chowanski« – wie die Staatsoper den Titel auf ihrer Homepage erläutert, ist vielleicht ein wenig zu schwach. Lew Dodin, der die Oper 2014 an der Wiener Staatsoper inszeniert hat, hat sich bei der Einführungsmatinee (hier bei YouTube) ausführlich dazu geäußert. Chowanschtschina (den Begriff soll Peter I. geprägt haben) heißt demnach so etwas wie »Die Schweinereien der Chowanskis«.
Die Vorgeschichte beginnt 1643 mit dem Tod des Zaren Michael I., der die Regierungsgewalt ganz offiziell an seinen 16järigen Sohn Alexei I. übergibt. Dieser hat insgesamt 14 Kinder, 11 mit seiner ersten Frau Maria Miloslowskaja, drei mit der zweiten, Natalija Naryschkina. Unter den Kindern aus der ersten Ehe sind der künftige Fjodor III. (Regierungszeit 1676–1682) und Ivan V., sowie die künftige Regentin Sofia. Der Erstgeborene in der 2. Ehe ist der künftige Zar Peter I., später »der Große« genannt. Sofia und Peter I. sollten ursprünglich in der Oper Chowanschtschina auftreten, manche Inszenierungen rekonstruieren das.
1666 spaltet sich die orthodoxe Kirche. Die Altgläubigen, später »Raskolniki« (»Spalter«) genannt, lehnen die Reformen des Patriarchen Nikon ab, dieser wird zwar später entmachtet, aber die Spaltung bleibt, die Altgläubigen werden als Ketzer verfolgt, aber bis heute nicht ausgelöscht. Einer ihrer Anführer war Awwakum Petrow, der 1682 mit seiner Familie in Sibirien auf dem Scheiterhaufen endete. Kurz nach diesem Ereignis stirbt Fjodor III., der mit seinen Reformen das Volk gegen die Zarenherrschaft aufgebracht hatte, kinderlos. Es brechen Unruhen in Moskau aus, an deren Spitze sich die Strelitzen (wörtlich: Schützen) setzen, eine Söldnerarmee, von Ivan IV. 1550 als Palastgarde gegründet und inzwischen etabliert und mit Privilegien ausgestattet, die Fjodor einschränkte. Der Erste Strelitzen-Aufstand mit der zweimaligen Erstürmung des Kreml bricht aus, als sich das Gerücht verbreitet, Naryschkina habe den rechtmäßigen Thronerben Iwan (der jüngere Bruder des verstorbenen Fjodor) ermorden lassen, um ihren Sohn Peter (den Halbbruder Fjodors) auf den Thron zu bekommen. Bei der zweiten Erstürmung des Kreml ermorden die Strelitzen zwei Onkel Peters vor dessen Augen, was einen unversöhnlichen Hass auf die Strelitzen und ihren Anführer Iwan Chowanski zur Folge hat. Der Patriarch Ioakim kann die kämpfenden vorerst beruhigen, als Kompromiss wird Sofia, die ältere Schwester Iwans als Regentin eingesetzt, Peter wird »Mitzar«. Im Herbst versucht Iwan Chowanski, nicht nur Stelitzenführer, sondern auch Anhänger Awwakums, die Herrschaft an sich zu reißen. Wassily Golizyn und Fjodor Schaklowity bereiten dem Aufstand im Namen der geflüchteten Regentin und der beiden Zaren ein Ende. Chowanski wird hingerichtet, Schaklowity ersetzt ihn als Anführer der Strelitzen.
Noch ist Peter nicht alleiniger Zar, obwohl es im 3. Akt ein wenig so ausieht. Das kommt erst 1689, als Golizyn sich gegen den Naryschkin-Clan wendet und die Krönung Sofias zur Zarin fordert. Er wird hingerichtet und Sofia ins Kloster gesteckt. 1698 kommt es zu einem weiteren Aufstand der Strelitzen, der von Peter blutig niedergeschlagen wird.
Anders als bei Boris Godunow gab es für Chowanschtschina keine literarische Vorlage. Mussorgski musste sich den Text selbst schreiben, untersützt wurde er von dem bedeutenden Kunstkritiker und Kenner der Geschichte Wladimir Stassow, einem seiner engsten Freunde, dem er auch mehrere Werke gewidmet hat, darunter die Bilder einer Ausstellung und natürlich auch Chowanschtschina. Der Briefwechsel dazu ist sehr aufschlussreich. Mussorgski hatte viel zu viele Ideen, die er immer wieder einkürzen musste. Am Ende blieb ein Klavierauszug mit ganz wenigen Lücken im Vergleich zur Libretto-Ausgabe. Das Libretto übrigens wurde natürlich zensiert, das Wort »Raskol« (»Spaltung«) durfte z. B. nicht vorkommen. Nach Mussorgskis Tod instrumentierte Nikolai Rimsky-Korsakow die Oper und nahm einige kleine Ergänzungen vor, 1886 wurde die Oper so in einem Privattheater in St. Petersburg uraufgeführt und 1892 auch erstmals in Moskau gezeigt. Bei der Premiere im Solodnikow-Theater in Moskau 1897 sang Fjodor Schaljapin den Dosifei. So auch in St. Petersburg 1911 und 1913 in Paris. Für die Pariser Aufführung mit der Truppe der Ballet-Russes von Serge Diaghilev wurden Igor Strawinsky und Maurice Ravel mit einer neuen Fassung beauftragt. Schaljapin weigerte sich jedoch, eine andere Fassung zu lernen und so blieb sie zumindest teilweise unaufgeführt. Dmitri Schostakowitsch nahm auf Grundlage des von Pawel Lamm herausgegebenen originalen Klavierauszugs Ende der 1950er Jahre eine Neubearbeitung vor, die zuerst in einer Filmproduktion mit dem ukrainischen Bass Mark Reizen als Dosifei verwendet wurde, dann 1960 in einer Bühnenproduktion in der Kirov-Oper in Leningrad (heute Mariinski-Theater, St. Petersburg).
Es gibt ein paar interessante Videos bei YouTube, mit denen man die verschiedenen Fassungen auch vergleichen kann. Die Fassung von Rimsky-Korsakow wurde 1946 von Kräften des Leningrader Kirow-Theaters (darunter auch Mark Reizen) unter der Leitung von Boris Khaikin erstmals für die Schallplatte aufgenommen hier die sehr hörenswerte Aufführung und hier das Konkurrenzprodukt des Bolschoi-Theaters von 1950 unter der Leitung von Wassili Nebolsin ebenfalls mit Mark Reizen als Dosifei. In Moskau hielt man noch lange an Rimsky-Korssakow fest, so auch in diesem Video von 1979. Mark Reizen hatte offensichtlich kein Problem damit, eine andere Fassung zu studieren, hier sehen wir ihn in dem (stark gekürzten) sowjetischen Film von 1959. Interessant wird es ab 1989, da brachte Caludio Abbado die Oper in Wien zusammen mit Alfred Kirchner auf die Bühne. Er entschied sich für die Schostakowitsch-Fassung, aber mit dem von Strawinsky realisierten Finale, was sich inwzischen zum Standard entwickelte. Wie immer bei Abbado gibt es allerdings noch einige Eigenheiten, die von ihm selbst stammen. Hier aber ist (verbotenerweise, denn es gibt das ja auch als DVD) die Aufführung bei YouTube. Empfehlenswert wäre noch die Aufführung aus München 2007, Dirigent Kent Nagano, Regisseur Dmitri Tcherniakov. Die gibt es aber nur als DVD oder BluRay, im Moment aber nicht bei jpc.
Dann bis heute Abend,
Ihr Curt A. Roesler
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