Den Begriff »Musiktheater« prägte Walter Felsenstein. 1947, als die DDR noch nicht existierte, gründete er im Metropoltheater – nicht zu verwechseln mit dem Admiralspalast, der später diesen Namen bekam und ihn bis heute trägt – die Komische Oper und leitete damit auch eine ganz neue Phase in seinem Schaffen als Regisseur ein. Hatte er als Schauspielregisseur vor und während des 2. Weltkriegs in Österreich, Deutschland und der Schweiz auch Opern und Operetten inszeniert, so konzentrierte er sich jetzt auf musikalische Bühnenwerke, beginnend mit Die Fledermaus von Johann Strauß. Er führte dabei Inszenierungsmethoden ein, die bis daher nur im Schauspiel bekannt waren. So begannen seine Proben grundsätzlich mit der Lesung des Textes mit dem gesamten Ensemble, was in der Oper unüblich ist, weil dort jeder Sänger seine Partie bereits auswendig kennt, wenn er zur ersten Probe kommt, und sie nicht da erst ausgehändigt bekommt. Auch setzte er nicht von vornherein ein Premierendatum an, sondern es wurde so lange probiert, bis alles aus seiner Sicht perfekt war – und auch nach der Premiere wurde weiter probiert, wenn er mit irgend etwas unzufrieden war. Vieles von dem, was er als künstlerisches Ideal vor sich hertrug, deckte sich mit Elementen dessen, was in der Sowjetunion unter dem Begriff »sozialistischer Realismus« zur Doktrin für die Künste geworden war. Oper wurde (und wird von vielen auch heute noch) wahrgenommen als Kunst für die Privilegierten, für die Bürger, die im 20. Jahrhundert an die Stelle der Adligen getreten waren. Es musste also ein neuer Begriff her, der möglichst viele Facetten des gesungenen Theaters abdeckt: Musiktheater. Das konnten Operetten sein, oder opéras comiques, von denen der Begriff Komische Oper kommt, später waren es zuweilen auch Musicals, aber auch Opern und jede denkbare experimentelle Form zwischen Oratorium und Oper. Was Felsenstein nun in seinem Theater praktizierte, nannte sich »realistisches Musiktheater«. Ein Widerspruch in sich selbst, denn es ist kaum realistisch, dass ein Operntext im wirkichen Leben gesungen würde. Man kann sich damit behelfen, dass man erläutert, die Opernfiguren seien Menschen, die sich in einer ganz außergewöhnlichen emotionalen Verfasssung befänden, und die Texte, die sie zu singen hätten, können ma gar nicht sprechen, sie müssten in der Gemütsverfassung, in der sich die Personen befänden, auf jeden Fall gesungen werden.
Selbst während des 2. Weltkriegs sind in Deutschland (zumindest bis zur Ausrufung des »totalen Kriegs) Operetten gespielt worden. Wie viel mehr gab es nach der Befreiung 1945 das Bedürfnis nach unterhaltender Kunst. Kurz vor der Komischen Oper in Berlin wurde in Dresden das Apollo-Theater mit Die lustige Witwe eröffnet, Vorgänger-Institution zur Staatsoperette. In anderen Städten mussten die Theater, die eigentlich für das Unterhaltende gebaut waren, für die weit mehr zerstörten Opernhäuser einspringen, in Berlin der Admiralspalast für die Staatsoper und das Theater des Westens für die Städtische Oper, in Leipzig das Haus Dreilinden. Alle sollten später einmal, wenn die Opernensembles wieder in ihre eigenen Häuser zurückgekehrt waren, der Operette und dem Musical Platz machen, heute existiert aber nur noch Staatsoperette.
Es gab also das Bedürfnis nach leichter Unterhaltung, es gab einige wenige Spielstätten und es gab den Begriff »Musiktheater«. Flugs entstand das »Heitere Musiktheater«. Ein Begriff, der fast nur in der DDR verwendet wurde – und heute einen Wikipedia-Eintrag hat. Ein paar Komponisten standen dafür zur Verfügung, Eberhard Schmidt (1908–1996) etwa, Guido Masanetz (1914–2015) oder Conny Odd (1916–1986). Der gerade 20jährige Gerd Natschinski sollte erst noch Meisterschüler bei Hanns Eisler werden.
Mit dem Spielfilm Meine Frau macht Musik (hier auf YouTube) etablierte sich Natschinski 1958 als Filmkomponist, den größten Erfolg als solcher hatte er 1968 mit Heißer Sommer. Schaut man den Vorspann von Meine Frau macht Musik, wundert man sich, wer da alles mitwirkt. Berlin war offensichtlich noch eine offene Stadt. Da wirken SED-Mitglieder mit, wie Günther Simon, aber auch Evelyn Künneke oder Jens Keith, der Chorerograph der Städtischen Oper. Zu Evelyn Künnekes Mitwirkung berichtet Wikipedia eine wilde Geschichte, die ich allerdings nicht vollkommen nachvollziehen kann. Dass keine Musik von Siegfried Wegener enthalten sein durfte, der ja beim RIAS, also beim »Großen imperialistischen Satan«, beschäftigt war, leuchtet ein, aber »Caramba, Señores« (bei 50:28) ist auf jeden Fall von Gerd Natschinski, das sagt auch die GEMA-Datenbank, und dass die Musik auf schon bestehendes Filmmaterial aufkopiert worden sein soll, ist wenig wahrscheinlich. Es kann natürlich sein, dass ursprünglich noch zwei weitere musikalische Nummern von Evelyn Künneke im Film waren, die später ganz herausgenommen wurden.
In Heißer Sommer, einer 60er Jahre Teenie-Komödie, spielte das Schlager-Ehepaar Frank Schöbel und Chris Doerk mit, es war einer der größten DEFA-Erfolge. Den ganzen Film gibt es derzeit nicht suff YouTube, aber »Woher willst Du wissen, wer ich bin«, wo man die beiden hören und seheh kann, gibt es hier.
Die beiden größten Bühnenerfolge von Gerd Natschinski sind die Operette Messeschlager Gisela (1960) und das Musical Mein Freund Bunbury (1964). Mein Freund Bunbury ist – natürlich auch wegen der geschickt gewählten Vorlage von George Bernard Shaw – bis heute ein Erfolgsstück. Es wurde seinerzeit außer in den sozialistischen Ländern auch in der BRD, in Österreich und der Schweiz gespielt. Von beiden sind derzeit keine Videos verfügbar. Messeschlager Gisela wurde 1965 mit Gisela May und Eva-Maria Hagen für den DFF aufgezeichnet, vielleicht gibt es eine Wiederbegegnung in der ARD, die ja die Bänder haben muss. Von beiden Werken erschienen Querschnitte auf 25-cm-Schallplatten, die man auf YouTube finden kann. Mein Freund Bunbury ist das einzige Werk von Gerd Natschinski, das Eingang in die Enzyklöpadie des Musiktheaters gefunden hat. Und es ist auch das einzige »Heitere Musiktheater« in der Enzyklopädie, soweit ich sehen konnte.
1998 brachte die Neuköllner Oper Messeschlager Gisela in einer kammermusikalischen Fassung von Frank Schwemmer und Peter Lund heraus. Es ist ein Stück, das nach Belrin gehört. Der »Messeschlager« darin ist eine kurz vor dem Mauerfall in einem Berliner VEB entworfene (Haute-)Cuture, die auf der Leipziger Messe groß herauskommt, weil das vorgesehene Prachtstück, eine Nachahmung der Pariser Mode, plötzlich verschwunden ist. Allerhand Intrigen und Liebesgeschichten ranken sich um die gemeinsame Fahrt nach Leipzig, woraus sich Anlässe für herrlich unkomplizierte Musik ergeben. Es wird nun höchste Zeit, dass dieses besondere Werk wieder einmal in Berlin gespielt wird.
Mehr wie immer am Mittwoch in der Alten Feuerwache.
Ihr Curt A. Roesler
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