Das Gejammer darüber, dass im Theater und später vor allem in der Oper immer nur Stoffe behandelt werden, die in der Vergangenheit oder in einer fernen Märchenwelt spielen und nichts mit der Realität des Alltags zu tun haben, ist so alt wie das Theater selbst. In der Antike wurde dafür sehr schnell die Komödie erfunden, in der Gegenwärtiges auf die Schippe genommen werden konnte. Deren Meister wurde Aristophanes mit Werken wie Die Wolken oder Lysistrata. In der französischen Klassik war hauptsächlich Molière dafür zuständig, der mit Le bourgeois gentilhomme (Der Bürger als Edelmann) und Monsieur de Pourceaugnac (Übersetzungsversuch: Der Herr vohn Schweinigel) dem Komponisten Anregungen lieferte, mit dem wir uns am Mittwoch wieder einmal befassen wollen. In der Oper schließlich brachte das 18. Jahrhundert die »Opera buffa« hervor, von den einen als Vergnügen für den »Dritten Stand« verachtet, von anderen aber in Form des Intermezzos in die Zwischenakte der ernsten Oper integriert und schließlich Publikumsmagnet. In Frankreich wurde das Prinzip mit der Opéra comique nachgeahmt, in England mit der Ballad Opera und in Deutschland mit dem Singspiel. Meisterwerke des Singspiels und der Opera buffa brachte Mozart hervor: Die Entführung aus dem Serail, Le nozze di Figaro.
Die 1920er Jahre brachten eine neue, allerdings eher kurzlebige, Gattung der Oper hervor, die Zeitoper. Seltsamerweise gibt es darüber nur in der englischen und französischen Wikipedia einen Eintrag, obwohl es eine typische Erscheinung der Weimarer Republik ist. Viele Operetten der sogenannten silbernen Ära, eingeleitet durch Die lustige Witwe (1905) von Franz Lehár, handeln in der Traditionslinie der Opéra comique und der französischen Operette ebenfalls in der Gegenwart, nicht aber die meisten Opern dieser Zeit (Salome, Elektra, Die ersten Menschen). Auch Jenufa, Madama Butterfly und La fanciulla del West spielen genau genommen in der Vergangenheit, allerdings in keiner sehr fernen. Die bekannteste (aber eher selten gespielte) Zeitoper hat Ernst Krenek geschrieben: Jonny spielt auf. Heute nur spielbar mit einem ähnlichen Warnhinweis, wie er für den Roman Uncle Tom's Cabin gilt. Sie wird auch als Jazzoper bezeichnet, weil sie musikalische Elemente des Jazz verwendet, sie kam 1927 heraus, etwas mehr als zwei Jahre nach Intermezzo von Richard Strauss. Dem Werk von Strauss geht als Zeitoper noch ein anderes Werk von Krenek voraus, Der Sprung über den Schatten, ebenfalls als Jazzoper bezeichnet, die fast in der Gegenwart spielt, nämlich in einem kleinen deutschen Fürstentum. Jazz in der klassischen Musik ist aber nicht Kreneks Erfindung, L'histoire du soldat von Igor Strawinsky (1918) enthält schon u. a. einen Ragtime.
Kurt Weill schrieb eine Reihe von Zeitopern. Gern könnte man auch Die Dreigroschenoper (1928) darin einreihen, sie wird jedoch von den Erben Bertolt Brechts hartnäckig als »Schauspiel mit Musik« verteidigt. Royal Palace (1927), Der Zar lässt sich photographieren (1928), Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) und Die Bürgschaft (1932) sind die weiteren Titel; nur zu Mahagonny schrieb Bertolt Brecht noch einmal den Text, die anderen Libretti stammen von Ivan Goll, Georg Kaiser und Caspar Neher. Eine eigene Betrachtung verdiente Der Lindberghflug, ursprünglich keine Oper, sonderrn ein Radio-Experiment mit Text von Bertolt Brecht und Musik von Paul Hindemith und Kurt Weill. Paul Hindemith schuf seinerseits zusammen mit Marcellus Schiffer zwei bedeutende Zeitopern, den kurzen Einakter Hin und zurück (1927) und Neues vom Tage (1929).
Sind die bis jetzt genannten Werke alle zwar typisch 1920er Jahre und modern, aber nicht mit der Avantgarde verknüpft, wie sie vor allem nach 1945 für diese Zeit gesehen wurde, so hat doch auch Arnold Schönberg zwei Zeitopern geschrieben, den Einakter Die glückliche Hand sogar schon vor dem Ersten Weltkrieg, zur Aufführung kam er aber erst 1924, zwei Wochen vor Intermezzo. Die glückliche Hand ist so etwas wie das expressionistische (und atonale) Gegenstück zu Intermezzo. Wie Intermezzo – Strauss hatte von der Existenz dieser Oper vermutlich keine Kenntnis – hat Die glückliche Hand einen autobiografischen Hintergrund und verwendet einen vom Komponisten selbst geschriebenen Text. Von heute auf morgen (1930), die zweite Zeitoper von Arnold Schönberg, ist ebenfalls ein Einakter, dauert aber drei Mal so lang wie Die glückliche Hand. Sie gilt als die erste »Zwölfton-Oper« und bildet eine Art Gegenstück zu Neues vom Tage, mit der sie die Verwendung von Jazz-Zitaten verbindet (was aber 1929/1930 nichts Besonderes mehr ist). Auch die von Alban Berg unvollendet hinterlassene Lulu ist eine Zeitoper, denn auch wenn sie einen Text aus wilheminischer Zeit (die gleichnamige »Monstre-Tragödie« von Frank Wedekind) verwendet, ist sie ein Gegenwartsstück. Zwei Werke verdienen außerdem noch Erwähnung: Maschinist Hopkins (1929) von Max Brand und Transatlantic (1930) von George Antheil.
Alle hier genannten Werke und ihre Komponisten galten in Deutschland ab 1933 als »entartet« und wurden nicht mehr aufgeführt. Die meisten kamen erst lange nach 1945 wieder zur Aufführung. Einige von ihnen wurden in den 1980er Jahren in die Reihe »Entartete Musik« der DECCA aufgenommen und auf Schallplatte bzw. CD veröffentlicht, fast alle wurden in der gleichen Zeit in Bielefeld von John Dew auf die Bühne gebracht, Tonaufnahmen auch davon sind später veröffentlicht worden. Sie können diese Aufnahmen bei der Naxos Music Library oder bei Spotify und ähnlichen Streamingdiensten finden, allerdings nicht alle überall.
Nun aber zu Richard Strauss. Die Idee, eine autobiografische Oper zu schreiben, hatte Strauss schon während der Umarbeitung der Ariadne auf Naxos, die vom musikalischen Supplement zu einer Komödie von Molière zur eigenständigen Oper werden sollte. Hugo von Hofmannsthal lehnte es jedoch ab, ein entsprechendes Libretto zu schreiben, und empfahl Hermann Bahr. Der hatte schon 1909 ein Stück mit ähnlichem Inhalt verfasst, das er Richard Strauss widmete, Das Konzert. Hier ein Mitschnitt der Komödie aus dem Wiener Burgtheater von 2015. Die Entwürfe für ein Libretto überzeugten jedoch weder Strauss noch den Verfasser, deshalb entschied sich Strauss, noch einmal selbst ein Libretto zu schreiben – nicht mehr als Universalgenie in der Nachfolge von Richard Wagner, wie bei Guntram, sondern aus rein praktischen Erwägungen, wie einst Albert Lortzing.
»Eine bürgerliche Komödie mit sinfonischen Zwischenspielen« nannte Strauss sein zweiaktiges Intermezzo, das in Wien und am Grundlsee in der Steiermark spielt. Zwischenspiele sind schon deswegen nötig, weil ein häufiger Szenenwechsel vorgesehen ist, der erste Akt besteht aus acht Bildern, der zweite aus fünf. Insgesamt sind es allerdings nur zehn Schauplätze, da sich einige wiederholen:
1. Akt, 1. Bild: Ankleidezimmer in der Villa des Kapellmeisters Storch am Grundlsee. Storch macht sich bereit zur Abreise nach Wien und gerät in Streitereien mit seiner Frau Christine; 1. Akt, 2. Bild: Rodelbahn. Christine stößt mit dem viele Jahre jüngeren Baron Lummer zusammen; 1. Akt, 3. Bild: Wirtshaus am Grundlsee. Christine geht mit Lummer tanzen; 1. Akt, 4. Bild: Möbliertes Zimmer am Grundlsee. Das Zimmer wird von Christine für Lummer gemietet; 1. Akt, 5. Bild: Esszimmer in Storchs Villa. Christine schreibt an ihren Mann, Lummer kommt zu Besuch; 1. Akt, 6. Bild: Möbliertes Zimmer am Grundlsee. Lummer schreibt einen Bettelbrief an Christine; 1. Akt, 7. Bild: Bild: Esszimmer in Storchs Villa. Lummer ist wieder zu Besuch und Christine lehnt sein Anpumpen empört ab, aber ein Brief an Storch, den sie liest, ändert alles, sie ist von seiner Untreue überzeugt und reicht telegrafisch die Scheidung ein; 1. Akt, 8. Bild: Franzls Schlafzimmer in Storchs Villa. Christine erläutert ihrem Sohn, wieso sie sich von Storch trennt; 2. Akt, 1. Bild: Skatzimmer beim Kommerzienrat in Wien. Storch und seine Freunde sprechen über Christine, nach Eingang des Telegramms verlässt Storch die Runde; 2. Akt, 2. Bild: Beim Notar am Grundlsee. Christine versucht, den Notar zur Übernahme des Scheidungsfalls zu übernehmen; 2. Akt, 3. Bild: Im Prater, Wien. In Gewitter und Sturm läuft Kapellmeister Stroh Storch hinterher und beichtet ihm, dass seine Freundin Mieze versehentlich einen Brief für ihn an Storchs Adresse am Grundlsee geschickt hat, Storch fordert von ihm, nach Grundlsee zu reisen und die Sache bei Christine aufzuklären; 2. Akt, 4. Bild: Toilettenzimmer in Storchs Villa. Christine misstraut dem Telegramm von Storch und bereitet weiter ihren Auszug vor, der Besuch von Stroh wird gemeldet; 2. Akt, 5. Bild: Esszimmer in Storchs Villa. Christine empfängt Storch kühl, verteidigt ihn aber gegenüber Lummer, der kompromittierendes Material aus Wien beibringt, schließlich sprechen sich die Eheleute aus und alles ist gut...
Daraus hätte man auch eine Operette machen können, aber Franz Lehár, der Intimfeind von Richard Strauss in der Tantiemenfrage, hätte diese Operette sicher nicht komponiert – längst war er darüber hinaus, dass das Ende immer »gut« sein soll. Strauss hat ein handwerklich einwandfreies Konversationsstück daraus gemacht und wunderte sich zeitlebens, dass es kein wirklicher Erfolg wurde.
Nach der Uraufführung in Dresden am 4. November 1924 gab es zwar Erstaufführungen in Berlin (unter der musikalischen Leitung von Richard Strauss), Graz, Prag, Zürich, München, Wien, Bern, Burdapest und Barcelona, dann aber wurde es still. Im Tausendjährigen Reich war Intermezzo genauso verpönt wie Neues vom Tage und alle anderen Zeitopern. Nach dem Krieg waren Wien (1954) und München (1960) die ersten Opernhäuser, die das Werk wiederzubeleben versuchten. Die Münchner Produktion wurde 1963 in Wien mit Hermann Prey und Hanny Steffek unter der Musikalischen Leitung von Joseph Keilberth für das Fernsehen aufgezeichnet, das können Sie hier sehen. Auch New York kam dazu (1963) und 1974 Glyndebourne in englischer Sprache. 1983 wurde die Produktion von John Cox unter der Leitung von Gustav Kuhn wiederaufgenommen und davon gibt es hier ein Video. In der Ära Wolfgang Sawallisch gehörte Intermezzo dann wieder in die Reihe der Strauss-Opern an der Bayerischen Staatsoper, allerdings dirigierte er nicht selbst, sondern ebenfalls Gustav Kuhn. Eine Schallplattenaufnahme mit Lucia Popp und Dietrich Fischer Dieskau produzierte Sawallisch in der Zeit mit dem Bayerischen Rundfunk (hier zu hören). Und jetzt kommt das Werk in die Reihe der Strauss-Opern an der Deutschen Oper Berlin, dessen Orchester ebenfalls sehr an Richard Strauss hängt. Mehr darüber am Mittwoch.
Ihr Curt A. Roesler
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