Nachdem Georg Friedrich Händel in mehreren Schüben eine glänzende Karriere als Opernkomponist hatte, verlegte er sich ab Sommer 1738 auf die Form des Oratoriums. Saul ist zwar nicht das erste Oratorium das er schrieb, mit mindestens zwei war er zuvor sehr erfolgreich, mit Deborah und Athalia, beide aus dem Jahr 1733. Es gab viele Gründe dafür, dass Händel, der die Opern ja nicht nur komponierte, sondern als Unternehmer auch produziert hatte, nun mit über fünfzig Jahren etwas Neues suchte. Die für 1739 geplante »Akademie« (eine Art Opernabonnement, das die Besucher im Voraus subskribieren mussten, damit die Sänger mit dem eingegangenen Geld engagiert und die Dekorationen gebaut werden konnten) hatte nicht genügend Interesse gefunden und musste abgesagt werden. Warum dann nicht eine Oper produzieren ohne teure Dekorationen? So nämlich könnte man Oratorium definieren: eine Oper, die ohne Dekorationen und szenische Aktionen aufgeführt wird, wo das Drama ausschließlich im Kopf des Zuhörers entsteht. Nach dem Oratorium Saul brachte Händel nur noch zwei neue Oper auf die Bühne, Imeneo, die Oper, die für 1739 hatte abgesagt werden müssen und im Jahr darauf uraufgefürt wurde, und 1741 Deidamia. Hingegen folgten noch 18 Oratorien mit meist biblischen Stoffen. Charles Jennens, Mäzen und guter Freund Händels, hatte schon 1735 einem Brief den Entwurf zu einem Oratorium beigefügt. Ob es sich dabei um Saul handelte ist nicht klar, aber im Sommer 1738 fing Händel, 2 Tage bevor er die Absage der Akademie erhielt, mit der Komposition dieses Oratoriums an. Im Herbst stockte die Arbeit und Jennens, ein Landadeliger, der von einer Eisenmanufaktur lebte, besuchte ihn in London. In einem Brief lässt er sich über die »Grillen« Händels aus. Der hatte für die Aufführung des Oratoriums extra eine Orgel anfertigen lassen (im Theater, wo es aufgeführt werden sollte, gab es ja keine) und ein Carillon, also ein mit Tasten zu spielendes Glockenspiel. Außerdem sicherte er sich »sackbuts«, Posaunen – die gab es ja auch nicht im Theater, wir sprachen anlässlich Idomeneo davon. Und auch die Pauken waren ihm nicht gut genug, da versicherte er sich welcher aus dem Tower. Vor allem aber wollte er das Halleluja, das Jennens in der Einleitung vorgesehen hatte, an das Ende des Oratoriums setzen. Davon konnte Jennerns ihn abbringen. Und auch von der ursprüngichen Absicht, zumindest Teile des Funeral Anthem für Königin Caroline als Trauermusik für Saul und Jonathan zu verwenden, wich Händel nun ab. Er fand aber gleich in seinem nächsten Oratorien-Projekt, das er Moses' Song nannte, eine Möglichkeit, die Komposition noch einmal unterzubringen. Königin Caroline kannte Händel seit ihrem 11. Lebensjahr als Caroline von Brandenburg-Ansbach, er traf sie als Gattin Georg Ludwigs von Braunschweig-Lüneburg, des künftigen Königs von England, 1711 in Hannover und in London gehörte sie zu seinen wichtigsten Unterstützerinnen, etwa durch die Hilfe bei den Subskriptionen. Ihr Tod ist zwar nicht die Ursache des Opernsterbens in London, aber mit ihr fehlte ab 1737 eben auch eine wichtige Enthusiastin.
Hier das Funeral Anthem in einer Aufnahme mit William Christie. Und das ist der Trauermarsch für Saul und Jonathan in einer Aufführung aus Göttingen 2009, den Händel schließlich für Saul komponierte, Brahms sollgesagt haben, er sei »besser« als »Siegfrieds Tod« in der Götterdämmerung. Und das ist, was aus Moses' Song wurde, das wenige Monate nach Saul aufgeführte Oratorium Israel in Egypt.
Saul wurde ein großer Erfolg, während bei Israel in Egypt eine typisch puritanische Diskussion losging: Darf man Bibelworte in einem dramatischen Kunstwerk zitieren? Händel an der Orgel war jedoch auch da ein Riesenerfolg, vermutlich wurde das Orgelkonzert, das wir heute unter dem Titel »Der Kuckuck und die Nachtigall« kennen, aufgeführt. Saul schien eine nationale Stimmung zu treffen, der biblische König, der an seinem Hochmut und an einem Galubensirrtum scheiterte, wurde gern mit Jakob II. verglichen, dem letzten Katholiken auf dem englischen Thron, der nach nur drei Jahren 1688 vertrieben wurde. 1693 gab Henry Purcell eine dramatische Kantate In guilty night heraus, die die Episode Sauls bei der Hexe von Endor behandelt.
Szenische Aufführungen von Oratorien Händels gab es schon vereinzelt im 19. Jahrhundert. Einen richtigen Boom aber löste die Händel-Renaissance nach dem 1. Weltkrieg aus. Zwei Künstler, die man in dieser Zeit der Avantgrde des Musiktheaters zurechnen muss, die sich aber zehn Jahre später als waschechte Natioalsozialisten entpuppten, wirkten bei der Bewegung, die 1920 von Göttingen ausging, in Deutschland maßgeblich mit. 1923 brachten der ehemalige Regieassistent von Ernst Lert, jetzt Oberspielleiter der Oper in Hannover, Hans-Niedecken-Gebhardt, und der kommende Generalmusikdirektor von Münster, Rudolf Schulz-Dornburg, in einer großen Halle in Hannover Saul in einer szenischen Einrichtung heraus. Seit 1922 war Niedecken-Gebhardt auch in Göttingen aktiv. Der Maler Heinz Porep, der später auch in Donaueschingen bei den Internationalen Musiktagen mitwirkte, entwarf die Dekoration.
2015 inszenierte Barrie Kosky in Glyndebourne Saul, die Aufführung gibt es auf DVD, ebenso die Aufführung aus dem Theater an der Wien, inszeniert von Claus Guth 2021, die es hier aber auch bei YouTube gibt.
Die Oratorien Händels sind ganz verschieden. Es gibt welche, wie Saul, die einen Handlungsstrang haben, der dem einer Oper sehr ähnelt, daneben gibt es welche wie Solomon, am vergangenen Sonntag in der Philharmonie aufgeführt, die eher einzelne Episoden aneinanderfügen, und es gibt welche, deren Texte eher ins Philosophische gehen wie, L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Für dieses Oratorium hat auch Charles Jennens den Text geschrieben, und zwar trotz des italienischen Tites in englischer Sprache, ausgehend von einem ebenfalls italienisch betitelten Gedicht von John Milton.
Saul beginnt mit einem Jubelgesang über den Feldherrn David, der die Philister besiegt hat. Die Ouvertüre enthält bereits ein Orgelkonzert, mit dem der Komponist brillieren konnte. Ein Halleluja setzt den Höhepunkt, bevor David zieht dem Haupt Goliaths in Jerusalem einzieht. Sauls Tochter Michal ist fasziniert von der Jugendlichkeit Davids und Sohn Jonathan bewundert seine Tugend. Wie es sich gehört, bietet Saul dem jungen Offizier seine ältere Tochter Merab zur Ehe an, um ihn an sein Haus zu binden. Die jedoch lehnt die nicht standesgemäße Beziehung rundweg ab. Michal findet, sie verdiene ihn gar nicht. Das Gezänk geht unter in den Jubelfeiern, die musikalisch vom Carillon angeführt werden. Dass dieser Junge jetzt mehr Ruhm erhält als er, der König selber, bring Saul schon einmal ordentlich auf die Palme. Jonathan macht die Frauen verantwortlich dafür, dass Saul in Zorn geriet. Michal sieht eine Lösung darin, dass David den König mit seiner Harfe besänftigen könne. Doch es wirkt nicht, Saul wirft seine Speer nach David, der gerade noch entwischen kann. Saul befiehlt nun Jonathan, David zu töten. Doch der stellt sich ebenso wie Michal gegen ihn. Der den ersten Akt abschließende Chor bittet, angeführt vom Hohepriester, Gott um Schutz für David. Der Eingangschor des zweiten Aktes ist eine Mahnung an Saul: Der Neid ist die Erstgeburt der Hölle. Jonathan kommt mit Michal zu David und versichert ihn seiner Treue. Als Saul kommt, verstecken sie David; unerwartet lenkt Saul ein und versichert, dass er David kein Leid tun wolle. Auch ist er jetzt einverstanden, dass David seine zweite Tochter heiratet. Allerdings soll er erneut gegen die Philister in den Krieg ziehen und dort wird er, so hofft Saul, schon den Tod finden. Michal ud David feiern erst einmal ihre Verbindung und der Chor bittet Gott um Schutz für David. Posaunenklänge lassen erst vermuten, dass in der Schlacht doch etwas schief gegangen ist, doch ein weiteres Orgelkonzert deutet an, dass David siegreich war. Der kommt zurück zu Michal und weiß davon zu berichten, dass Saul, anstatt seinen Sieg zu feiern, erneut seinen Speer nach ihm geworfen hat. Doch da er der Liebe Michals sicher ist, kann er über Verfolgung nur lachen. Sie schickt ihn weg, und als ein Bote im Auftrag Sauls kommt, um ihn zu holen, präsentiert sie ihm eine Puppe. Selbst Merab denkt jetzt ganz anders über David, der inzwischen ihr Schwager ist. Auf dem Neumondfest bekräftigt Saul seine Absicht, David zu töten. Nun wirft er sogar einen Speer nach Jonathan, der sich dagegen stellt. Der den zweiten Teil abschließende Chor sieht voraus, dass Saul nicht aufhören werde mit seinen Schandtaten, bis er sich selbst zerstöre. Der dritte Akt beginnt mit der berühmten Szene Sauls bei der Hexe von En-Dor, der zunächst nur von zwei Fagotten begleitete Schatten Samuels prophezeit, wie wir wissen, den Untergang Saul und seiner Söhne. Die Schacht tobt wiederum im Orchestergraben. Ein Amalekiter (das ist das Volk, das Saul zuerrst verschont hatte, weswegen es zum Bruch mit Samuel gekommen war) berichtet, dass Saul sich in auswegloser Situation in sein eigenes Schwert gestürzt habe und er ihn darauf getötet habe. David lässt ihn als Mörder eines Gesalbten des Herrn töten. Der berühmte Trauermarsch leitet die Totenfeierlichkeiten für Saul und Jonathan mit Chören un mehreren Arien Davids ein. Nun bleibt nur noch, David als neuen Kölnig zu feiern.
Mehr am Mittwoch in der Alten Feuerwache, Ihr Curt A. Roesler
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