Die Geschichte vom König Mark, der von seinem Neffen schuldlos-schuldig betrogen wurde, steht im Zusammenhang mit den Sagen um den bretonischen König Artus. Dieser wurde um 800 zum ersten Mal erwähnt und aus dem 9. Jahrhundert stammt auch das Gwerz de Bran, das Lied vom Raben, das die Liebesgeschichte von Tristan feiert, der Isolde als Braut für Mark werben sollte und sich stattdessen selbst in sie verliebt, weil er fälschlicherweise einen Liebestrank einnimmt. Auch die persische (vorislamische) Tradition kennt eine ähnliche Geschichte, sie wurde von Fakhr-od-Dīn As‘ad Gorgānī im 11. Jahrhundert aufgezeichnet unter dem namen Wīs und Rāmīn. Ziemlich genau 100 Jahre später, nämlich um 1150, wird die anonyme altfranzösische Estoire de Tristan datiert, ein Versroman, der nicht erhalten ist, aber auf den alle bekannten Bearbeitungen des Stoffes zurückzugehen scheinen, insbesondere die Erzählungen, die mit Gottfrieds Fragment Tristan zusammenhängen. Zwei Varianten hatten sich noch im 12. Jahrhundert ausgeprägt, eine des bretonischen Spielmannes Béroul und eine des Anglonormannen Thomas (de Bretagne). Beide sind ebenfalls nur als Fragmente überliefert. Der älteste vollständige Text stammt von Eilhart von Oberg, Tristrant, weitesgehend wohl eine Übersetzung Bérouls. Gottfried von Straßburg (gestorben um 1215), von dem außer dem Tristan-Fragment noch einige Gedichte in der Großen Heidelberger Liederhandschrift erhalten sind, folgte wohl eher Thomas, während die beiden Verfasser der Fortsetzungen, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg sich eher von Béroul inspirieren ließen. Weitere Bearbeitungen des Stoffes sind bei Thomas Malory im 15. Jahrhundert und bei Hans Sachs im 16. Jahrhundert zu finden. Moderne Druckausgaben der Fassung von Gottfried und deren Ergänzungen erschienen zuerst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert kamen die ersten Übersetzungen ins Neuhochdeutsche dazu. Drei Ausgaben hatte sich Richard Wagner in Dresden besorgt: Friedrich Heinrich von der Hagen: Gottfrieds von Straßburg Werke aus den besten Handschriften mit Einleitung und Wörterbuch (1823), Ferdinand Maßmann: Tristan von Gottfried von Straßburg (1843) und Hermann Kurz: Tristan und Isolde. Gedicht von Gottfried von Straßburg. Übertragen und beschlossen (1844). Seine gesamte Bibliothek musste Wagner bei seiner Flucht zurücklassen und er hat sie zu Lebzeiten nie wieder erhalten; jetzt ist sie allerdings in Bayreuth. Heute haben wir eine große Auswahl an Ausgaben, die zuverlässigste ist wohl die von Dieter Kühn (1991), wenn man sich wissenschaftlich oder zumindest populärwissenschaftlich damit befassen möchte. Ich empfehle aber die Nacherzählung von Günter de Bruyn (1975). Er lässt alles weg, was Gottfried und seine Nachfolger nur hineingeschrieben haben, um zu beweisen, dass sie sehr klug sind und ungeheuer viel wissen. Man kann dem Ablauf der Geschehnisse ohne Ermüdung folgen und hat am Ende einen reichen Schatz an Geschichten um die Geschichte von Tristan und Isolde. Die Lektüre eignet sich besonders als Vorbereitung für die Inszenierung von Graham Vick, denn er erzählt viel mehr, als Wagner in seinen Text gepackt hat. Und vieles darin erschließt sich weit besser, wenn man auch etwas über die Vor- und Nebengeschichten weiß.
Den Ring des Nibelungen schrieb Wagner nicht nur ohne Auftrag, sondern zuerst auch ohne jede Aussicht, dass das Werk je aufgeführt werden könne, es sei denn, er finanziert es zunächst selbst. Ein Grund – nicht der künstlerische – dafür, dass er die Arbeit am Ring unterbrach, war also, dass er in relativ kurzer Zeit ein Werk zur Verfügung haben wollte oder sogar musste, mit dem er Geld verdienen konnte. Mit dem Tristan-Stoff dachte er, etwas Populäres zu schaffen, was auch im Einzugsbereich der italienischen Oper erfolgreich sein könnte. Vor allem aber hatte er einen alten Bekannten, ja einen Freund, einen Bruder im Geiste aus Dresden, der inzwischen Intendant geworden war. 1852 war der Schauspieler, Sänger und Librettist Eduard Devrent einem Ruf an das badische Hoftheater Karlsruhe gefolgt und hatte sich nichts weniger als eine Reorganisation des Theaters vorgenommen. Die Aussicht, das Werk dort, an einer idealen Theater, zur Aufführung bringen zu können, war inspirierend für Wagner, aber wie immer folgten auf Tage der Euphorie auch wieder Tage der Depression, wenn er erkannte, dass sein Werk die Zuschauer so in Aufruhr bringen könnte, dass er befürchten musste, dass es am Ende verboten werden würde.
Hätte Wagner sich schon in den 40er Jahren, als er dem Stoff zuerst begegnete, an die Realisierung gemacht, so wäre es zweifellos etwas sehr anderes geworden. Und zwar nicht nur formal, weil vielleicht konventionelle Opernformen noch durchgeschienen hätten, sondern auch inhaltlich, weil er da sich noch nicht mit der Philosophie Artur Schopenhauers befasst hatte. Tristan und Isolde ist das erste Werk Wagners, das komplett erst konzipiert wurde, nachdem er Die Welt als Wille und Vorstellung studiert hatte. Zwar beflügelte ihn die Lektüre auch schon beim Siegfried, und zwar sah er sich in manchen Gestaltungszügen namentich des Wotan und des Wanderes bestätigt, Tristan und Isolde aber ist von Anfang an in der Kenntnis der Schopenhauerschen Philosophie konzipiert worden.
Die dritte Voraussetzung – doch die ist nicht weniger äußerlich als die des Geldverdienens – ist das eigene Erleben einer verräterischen Liebe, das Liebeserlebnis mit Mathilde Wesendonck, das seine Ehe mit Minna ruinierte und ihn selbst nach Venedig ins Exil vom Exil trieb. Das sollte nicht überbewertet werden, auch wenn die Vorstellung, dass ein Künstler ein Geschehen dann besonders eindrucksvoll gestalten könne, wenn er eigene Erfahrungen hineinpacken könne, bestechend sein kann. Gerne führen Opernfreunde dann Verdi an, der mit seinem Schwiegervater die gleichen Probleme hatte, wie Alfredo in La Traviata. Aber Leoš Janáček musste gewiss nicht die eigene Erfahrung eines Gulag haben, um Aus einen Totenhaus so überzeugend und bewegend gestalten zu können, wie er es tat. Selbst, wenn die Beziehung zu Mathilde Wesendonk auch eine musikalische Vorstudie zum Tristan hervorbrachte (die »Wesendonk-Lieder«), ist das Kunstwerk Tristan und Isolde autonom.
Ein Dramenentwurf seines Schülers Karl Ritter brachte Wagner den Stoff, den er seit Dresdner Tagen wohl nicht mehr in Erwägung gezogen hatte, 1854 in Erinnerung. 1857 bis 1859 komponiert er Tristan, eine Aufführung war jedoch noch lange nicht in Sicht, stattdessen gibt es den Auftrag für die Neufassung des Tannhäuser aus Paris und Wagner fängt ein zweites Projekt an, das zuerst für den Druck fertig gemacht wird, noch bevor ein Aufführungsdatum feststeht: Die Meistersinger von Nürnberg. Rettung naht von Ludwig II., bayerischer König seit 11. März 1864. Weniger als einen Monat nach seiner Thronbesrteigung empfängt der Neunzehnjährige Richard Wagner. Und dann geht es ziemlich schnell: 13 Monate nach der ersten Begegnung mit dem König kommt Tristan und Isolde an der Münchner Hofoper zur Uraufführung, drei Jahre danach Die Meistersinger von Nürnberg. Hans von Bülow, noch Ehemann von Cosima Liszt, mit der Wagner mittlerweile zusammen ist, dirigiert, Ludwig und Malvina Schnorr von Carolsfeld, denen Wagner schon Jahre vorher Passagen aus der Oper vorgespielt hatte, sangen die Titelpartien.
Die Oper machte Eindruck, aber sie verbreitete sich nicht so schnell wie erhofft. 11 Jahre dauerte es, bis sie an die Beroiner Hofoper kam. Hier sang Franz Betz den Marke; er sollte wenige Monate danach den Wotan und den Wanderer in Bayreuth kreieren. Nach Wien kam die Oper 1883, 20 Jahre nachdem es einen ersten Versuch gegeben hatte, nach angeblich 77 Proben abgebrochen, und ein Dreiviertel Jahr nach Wagners Tod. In Bayreuth ließ Wagners Witwe Cosima das Werk 1886 erstmals spielen. Im gleichen Jahr kam Tristan und Isolde an die Metropolitan Opera in New York, Lilli Lehmann, die bei der Uraufführung des Rheingold noch die kleine Partie einer Rheintochter gesungen hatte, war hier nun Isolde. Weitere Erstaufführungen waren an Covent Garden, London, wo Gustav Mahler dirigierte, 1892 und am Teatro alla Scala in Mailand 1900; bei dieser italienischsprachigen Aufführung war Arturo Toscanini der Dirigent.
Die Musiksprache Wagners war für seine Zeit ganz neu. Überspitzt wird gelegentlich gesagt: »Mit dem 2. Takt von Tristan und Isolde beginnt die Geschichte der Neuen Musik.« Da ist sicher etwas dran, aber zu berücksichtigen ist auch, dass Wagner nicht alles neu erfunden hat, sondern sich auf Traditionen stützen konnte. So ist etwa der rätselhaft scheinende Akkord im 2. Takt, der »Tristanakkord« in der Geschichte Musik durchaus schon gelegentlich vorgekommen. Ausgerechnet Antonio Salieri, ein Komponist, der von vielen mit Verachtung gestraft wurde, schien ihn besonders gemocht zu haben. Selbstverständich kommt er auch bei Bach vor, da allerdings immer nur kurz und beinahe zufällig. Aber man findet ihn auch bei Beethoven, bei Schubert und anderen. Allerdings hat ihn Wagner mit einer so ungeheuren Bedeutung aufgeladen, dass er nach ihm nur noch als Zitat verwendet wurde. Z. B. von Debussy im letzten Satz seiner Children's Suite, wo er Wagner parodiert, indem er ihm einen Cakwalk gegenüberstellt.
Das und vieles mehr besprechen wir morgen bei den Zehlendorfer Operngesprächen,
Ihr Curt A. Roesler
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