Mittwoch, 2. November 2022

Mitridate

Ende 1769 waren die Mozarts zu einer langen Italienreise aufgebrochen. Im Januar 1770 wurde Wolfgang 14 Jahre alt und am Übergang vom klavierspielenden und komponierenden Wunderkind zum jungen Komponisten, dem man auch die komplexe Kunstform der »opera seria« zutrauen konnte. Ein deutsches geistliches Singspiel, Die Schuldigkeit des ersten Gebots und ein lateinisches Intermedium, Apollo et Hyacinthus, hatte er 1767 komponiert. 1768 kamen das deutsche Singspiel Bastien und Bastienne und eine italienische Oper dazu, La finta semplice. Diese hätte in Wien aufgeführt werden sollen, Intrigen und Geldmangel des Impresarios verhinderten dies aber; vermutlich kam sie Anfang 1769 in Salzburg zur Uraufführung. Einzelarien und Sinfonien (Opernouvertüren, die auch im Konzert gespielt werden konnten) als Varianten für bestehende Opern von anderen Komponisten entstanden seit 1765. Im April 1770 wurden bei einer Soiree im Mailänder Hause des Grafen Karl Joseph Gotthard (Carlo Gottardo) aus dem einflussreichen Tiroler Adelsgeschlecht Firmian drei solcher Arien aufgeführt. Die Wissenschaft ist sich uneins, welche dies waren, aber sicher ist, dass diese Arien die Mailänder so überzeugt haben, dass sie dem jungen Mozart die »scrittura« für Eröffnung der nächsten Karnevals-Saison (Premiere immer am 26. Dezember, dem für Mailand wichigen Stephanstag) gaben. Firmian war bevollmächtigter Minister Maria Theresias in der Lombardei und verstand sich als aufgeklärter Adliger, der in Kunst und Wissenschaft investiert. So unterstütze er nicht nur die Mozarts, sondern auch Antikenforscher Johann Joachim Winckelmann und die schweizerisch-vorarlbergische Malerin Angelika Kauffmann.

Das Libretto sollte erst später bestimmt werden und die Mozarts setzten ihre Reise durch Italien bis nach Neapel fort. In Bologna trafen sie den berühmtesten aller Kompositionslehrer, Padre Martini und einen der berühmtesten Kastraten, Farinelli. In Rom schrieb Mozart aus dem Gedächtnis das zu kopieren verbotene »Miserere« von Gregorio Allegri auf. (Danach soll der Bann der Legende nach aufgehoben worden sein.) In Neapel trafen sie die modernsten Opernkomponisten, Giovanni Paisiello und Francesco di Maio. Auf dem Rückweg wird der 14jährige Mozart vom Papst in den Orden vom Goldenen Sporn aufgenommen und in Bologna wird er jüngstes Mitgied der von Padre Martini geleiteten »Accademia filarmonica«. In Bologna erhält er das Libretto Mitridate, Re di Ponto von Vittorio Amedeo Cigna-Santi, das 1767 schon von Quirino Gasparini vertont und in Turin aufgeführt worden war. Die Vorlage Cigna-Santis stammte von Jean Racine, dessen Mithridate von 1673 perfekt in das Konzept der »opera seria« passte. Der Norditaliener Quirino Gasparini ist nicht verwandt mit heute bekannteren Francesco Gasparini, der mehrere Generationen früher in der Toskana geboren wurde und hauptsächich in Rom wirkte. Zu seiner Zeit war Quirino Gasparini jedoch ein berühmter Komponist, vor allem von Kirchenmusik. Ein Adoramus te, das lange Zeit als Werk Mozarts galt und im Köchelverzeichnius die Nummer 327 erhielt, ist in Wirklichkeit die eigenhändige Abschrift Mozarts eines Werks von Quirino Gasparini, den er 1771 in Turin persönlich traf. Den Sängern war Mitridate von Gasparini bekannt und es gab Versuche, Arien aus diesem Werk in die Oper Mozarts heineinzuschmuggeln, aber Mozart konnte schließlich alle überzeugen, nachdem er vertragsgemäß im November in Mailand eingetroffen war.

Das dreiaktige Libretto Cigna-Santis folgt der in seiner Dramaturgie der fünfaktigen Tragédie Racines ziemlich getreu. Allerdings verlangte die »opera seria« eine komplizierte Liebeshandlung mit offenen und geheimen Verhältnissen der Hauptfiguren und zu diesem Zweck fügte Cigna-Santi eine zusätzliche weibliche Hauptfigur ein. Aspasia (Monime bei Racine), die mit Mitridate verlobt ist, aber Sifare liebt und von Farnace begehrt wird, kommt die fremde Prinzessin Ismene, die keinen anderen als Farnace liebt. Und eine weitere Figur kommt so in der Tragédie nicht vor, der römische Tribun Marzio, der den Verrat Farnaces greifbarer macht.

21 Arien, eine Cavata, eine Cavatina, ein Duett und ein Coro (von fünf Solisten zu singen, nicht von einem Chor!) umfasst die Komposition Mozarts. Das Orchester des Teatro Regio Ducale in Mailand (Vorgänger des Teatro alla Scala) war eines der größten Opernorchester in Europa. Nicht weniger als 14 Erste und 14 Zweite Violinen waren dabei (selbst heute spielt man Mozart in der Regel mit einer »12er-« oder auch nur »10er-Besetzung«, was bedeutet, dass 12 Erste und 10 Zweite bzw. 10 Erste und 8 Zweite Violinen eingesetzt werden), je zwei Flöten, Oboen, Fagotte und Trompeten, sowie vier Hörner und natürlich die weiteren Streichinstrumente und das volle Basso continuo mit Cembalo, Violoncello und Kontrabass. Mozart macht reichlich und geschickt Gebrauch davon. Besonders sticht eine Arie mit einem Solohorn, zwei Oboen und zwei weiteren Hörnern heraus. Anfangs- und Schlusstonart ist das königliche D-Dur, das auch dazwischen (wie später in Idomeneo) häufig vorkommt.

1. Akt

Das Königreich am Pontus Euxinus (heute das Schwarze Meer) macht sich unter Mithridates VI. auf, in der Auseinanderetzung zwischen Griechen und Römern ein aktive Rolle einzunehmen. Mithridates hat allerdings gerade eine empfindliche Niederlage gegen die Römer erlitten und lässt das Gerücht verbreiten, er sei gefallen. Damit will er seine zerstrittenen beiden Söhne Sifare (Freund der Griechen) und Farnace (Freund der Römer) prüfen. Als Erste trifft das Aspasia, die mit Mithridate verlobt ist und auch schon als künftige Königin angesehen wird, jedoch heimlich Sifare liebt, aber auch von Farnace begehrt wird. Sie fürchtet, dass dieser ihr Gewalt antun könnte (Arie »Al destin che la minaccia«). Sifare versucht sie zu beruhigen (Arie »Soffre il mio cor con pace«). Arbate bringt die Nachricht, dass Mitridate lebt (Arie »L'odio nel cor frenate«). Aspasia bittet Sifare, zu fliehen und stellt sich Farnace allein (Arie » Nel sen mi palpita«). Sifare verabschiedet sich (Arie »Parto: nel gran cimento«). Mit Marzio schmiedet Farnace ein Komplott gegen den Vater (Arie: »Venga pur, minacci e frema«). Mit einem Marsch wird Mitridate im Hafen von Ninfea empfangen. Er ahnt, dass es eine Verschwörung gibt und führt sich vorsichtig ein (Arie »Se di lauri il crine adorno«). Er hat Farnaces Braut mitgebracht, Ismene. Sie freut sich auf die Ehe, ist aber auch nicht ganz ahnungslos (Arie»In faccai al oggetto«). Mithilfe der Informationen, die er von Arbate bekommt, überzeugt sich Mitridate, dass Farnace den Verrat plant (Arie »Quel ribelle e quell'ingrato«). 

2. Akt

Farnace macht Ismene klar, dass er sich nicht mehr an die einstige Verlobung gebunden fühlt (Arie »Va, l'error mi palesa«). Mitridate gedenkt nun, sich an den Sohn zu halten, den für treu hält (Arie »Tu, che fedel mi sei«). Seine geplante Heirat mit Aspasia will er bald vollziehen. Aspasia wird sich wohl einfügen müssen. Sifare verabschiedet sich von ihr (Arie »Lungi da te, mio bene«). Sie steht zwischen Liebe und Pflicht (Arie »Nel grave tormento«). Im Heerlager Mitridates wird die Lage besprochen, es gibt ein Friedensagebot der Römer, das Farnace anzunehmen rät. Damit offenbart er seine Illoyalität. Ismene zeigt Sympathie für den Vater, der sich verraten fühlt (Arie »So quanto a te dispiace«). Farnace bekennt seine Schuld (Arie: »Son reo, l'error confesso«). Er verrät nun aber seinen Bruder und macht dessen Verbindung mit Sifare bekannt. Mitridate fühlt sich nun von allen verraten und schwört Rache (Arie: »Gia di pietà mi spoglio«). Aspasia und Sifare sind bereit, gemeinsam zu sterben (Duett »Se viver non degg'io«).

3. Akt

Ismene setzt sich bei Mitridate für Aspasia ein (Arie »Tu sai per chi m'accese«). Aspasia erhält die Möglichkeit, Sifare zu retten, wenn sie Mitridate unverzüglich heiratet, was sie ablehnt. Aber nun gibt es Wichtigeres: die Römer haben angegriffen und Mitridate stürzt ins Feld (Arie »Vado incontro al fato estremo«). Vorher hat er aber noch den Befehl gegeben, dass Aspasia ein Giftbecher gereicht werden soll. Sie ist entschlossen, ihn hinunterzustürzen (Rezitativ und Arie »Palli d'ombre che sorgete«). Doch Sifare ist wegen des Römerangriffs nun wieder frei und kann ihr mit seinen Soldaten den Giftbecher entreißen. Er eilt, seinen Vater gegen die Römer zu iunterstützen (Arie »Se il rigor d'ingrata sorte«). Farnace wurde von den Römern befreit. Marzio macht ihm das Angebot, unter römischer Herrschaft den Thron zu besteigen (Arie »Se di regnar sei vago«). Er macht jetzt jedoch einen Rückzieher, besinnt sich auf Vaterland und Familienrecht (Arie »Gia dagli occhi il velo e tolto«) und stürzt sich in den Kampf. Doch Mitridate hat sich in sein Schwert gestürzt, um nicht in die Hand der Römer zu fallen. Sterbend verzeiht er Aspasia und gibt ihr und Sifare seinen Segen. Auch Farnace vergibt er, als er erfährt, dass er die Römer zurückgeschlagen hat, und man sieht, dass die römischen Schiffe brennen. Im Schlusschor feiert man den Widerstand gegen die römische Tyrannei.

Am Mittwoch Abend mehr in der Alten Feuerwache.

Ihr Curt A. Roesler

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