Unsere nächste Sitzung befasst sich mit Meyerbeer und Wagner – was für eine Kombination! Von beiden behandeln wir ein Werk, das nicht unbedingt typisch ist. Ein Feldlager in Schlesien von Giacomo Meyerbeer ist eine absolute Rarität. Bald vierzig Jahre ist es her, dass Fritz Weiße (wer erinnert sich noch an ihn) mit dem »Symphonischen Orchester Berlin«, das es heute nur noch als Verein gibt, und seinem Berliner Konzert-Chor eine konzertante Aufführung wagte. Es soll die einzige Aufführung im 20. Jahrhundert gewesen sein. Die Solisten kamen zum Teil aus der Deutschen Oper Berlin, Volker Horn etwa sang den Conrad und Ruthild Engert die Therese. Vielka war Norma Sharp vom Opernhaus in Hannover, die zu der Zeit aber auch häufig an der Deutschen Oper Berlin gastiete, etwa als Frau Fluth in Die lustigen Weiber von Windsor und Salfeld war Jörn W. Wilsing aus Stuttgart, der auch gelegentlich an der Komischen Oper aufgetreten ist. Die Tonaufnahme kann man auch hier bei YouTube hören, die Stereo-Balance ist schwankend. Einen Bericht aus Bonn werde ich nicht beisteuern können, gerade – im Zug sitzend – erreicht mich die Nachricht, dass die Premiere wegen zahlreicher Erkrankungen um eine Woche verschoben werden muss. Also bleibt mehr Zeit für Die Meistersinger von Nürnberg, die einzige als heiter oder wenigstens nicht tragisch zu bezeichnende Oper von Richard Wagner.
Ein Feldlager in Schlesien ist ein Singspiel und nach einem Jugendwerk das einzige in deutscher Sprache komponierte Bühnenwerk Meyerbeers. Es wurde am 7. Dezember 1844 zur Wiedereröffnung des Opernhauses Unter den Linden zum ersten Mal gespielt. Auch wenn der Autor einer der berühmtesten Opernlibrettisten des 19. Jahrhunderts ist, handelt es sich um eine nach heutigen Begriffen eher untypische Oper. Man darf aber nicht vergessen, dass wir heute von einer Oper eine Art Filmdramaturgie erwarten, mit einer fortlaufend erzählten Handlung und dramatischen Höhepunkten, die von den handelnden Personen durchlebt und vom Publikum mit erlitten werden. Das ist auch in einer Barockoper ganz anders, doch lässt sich das meist durch die Inszenierung so hinbiegen, dass es passt. Beim Feldlager in Schlesien wird das schon schwieriger, selbst wenn man auf die abschließenden sechs »Lebenden Bilder« verzichtet, de mit der Handlung gar nichts zu tun haben, sondern einfach preußische Geschichte verherrlichen. Die besondere Herausforderung für jeden Versuch einer Interpretation liegt darin, dass zwei Personen die im Zentrum der Handlung stehen, nicht auftreten. Und diese Vorgabe stammt von Meyerbeer selbst, zumindest, was die Figur des Preußenkönigs Friedrich II. betrifft. Friedrich II. ist aber immerhin mit seiner Flöte präsent, man hört ihn in einem Nebenzimmer spielen. Aber Leopold, ein Sohn des Preußenhauptmanns a. D. Salfeld, dessen Begnadigung als eine Art von Prinz von Homburg am Ende entscheidend ist, kommt musikalisch gar nicht vor.
Am 7. Juni 1840 starb Friedrich Wihelm III., der 1820 Gaspare Spontini zum Generalmusikdirektor gemacht hatte, ansonsten aber mehr an der Militärmacht Preußens interessiert war. Friedrich Wilhelm IV. lockerte erst die Zensur und ließ politische Gefangene frei; 1848 allerdings schlug er den März-Aufstand brutal nieder. 1841 »dispensierte« er Spontini von seinen Verpflichtungen und lockte Meyerbeer in seine Heimatstadt Berlin zurück. In der Nacht vom 18. auf den 19. August 1843 brannte das gerade 100 Jahre alte Opernhaus, das Friedrich II. von seinem Architekten Wenzeslaus Knobelsdorff hate erbauen lassen, nieder. Am 18. August war darin keine Oper gegeben worden; zuerst fand das Gastspiel eines Schauspielers statt, für den das Schauspielhaus zu klein gewesen wäre. Danach gab es noch das einaktige »militärische Ballett« Der Schweizersoldat oder der Soldat aus Liebe von Hermann Schmidt, Choreograophie von François Michel Hoguet. Darin wurde reichlich Pulver verschossen und offensichtlich waren nicht alle Beteiligten sehr aufmerksam. Schon am nächsten Morgen befahl der König den Wiederaufbau des Opernhauses, für den der Baumeister Carl Ferdinand Langhans verantwortlich war, der Sohn von Carl Gotthard Langhans, der einst unter Friedrich Wilhelm II. den Zuschauerraum des Opernhauses neu gestaltet hatte. Beides hat bis auf die äußere Hülle nicht viel mit dem zu tun, was heute Unter den Linden steht. Von der äußeren Hülle war am 19. August 1843 noch der berühmte Schriftzug stehen geblieben, um den sich die DDR-Oberen später zankten und wegen dessen Entfernung Erich Kleiber 1955 nicht mehr als Generalmusikdirektor zur Verfügung stand. Friedricus rex Apollini et Musis.
Selbstverständlich sollte das Opernhaus, sobald es rekonstruiert war, feierlich wiedereröffnet werden. Und zwar mit einem neuen Werk des neuen Generalmusikdirektors. Der sah darin die Möglichkeit, durch die Wahl eines patriotischen Stoffes seine vaterländische Gesinnung, die nicht nur von Antisemiten angezweifelt wurde, unter Beweis zu stellen. Alexander von Humboldt hat vermutlich die Idee beigesteuert, den »Alten Fritz« ins Zentrum zu setzen und zwar nicht nur als Kriegsherr, sondern auch als Flötenspieler. In Paris bat Meyerbeer seinen bevorzugten Librettisten Eugène Scribe um den Entwurf eines Librettos, das eine historische Episode aufnehmen sollte in der Art wie die großen Opern seit Auber und Rossini, aber er erwähnte ausdrücklich auch die Idee einer Opéra-féerie, also eines Bühnenmärchens mit Elementen des Wunderbaren. Und er regte bereits an, dass Friedrich II. nicht als Person auftreten sollte. Die Übersetzung und Versifizierung des Prosa-Librettos bot Meyerbeer seinem schärfsten Berliner Kritiker, Ludwig Rellstab, an. Scribe dagegen verpflichtete er mit einem großzügigen Honorar zu strengstem Stillschweigen, sodass Rellstab als der Autor gelten konnte. Die Hauptpartie der Vielka schrieb Meyerbeer für Jenny Lind, die er in Dresden hörte, aber er musste die Premiere der lokalen Sopranistin Leopoldine Tuczek überlassen u. a., weil Jenny Lind vom schwedischen König nach Stockholm zurückbeordert worden war, und es nicht sicher war, dass sie rechtzeitig zu den Proben zurück sein würde. Später sang Jenny Lind die Partie aber regelmäßig mit großem Erfolg und Meyerbeer schrieb sogar für Wien eigene eigene Fassung für sie unter dem Titel Vielka.
Im Siebenjährigen Krieg entkam Friedrich II. einst nur knapp einer Gefangennahme durch ungarische Husaren. Er rettete sich in ein Bauernhaus, das aber umstellt war. Davon erfährt der Hauptmann a. D. Salfeld, in dessen Haus wir uns am Anfang befinden. Unter seinem Dach leben auch als Ziehtochter die ungarische Zigeunerin Vielka und deren Verehrer Conrad, ein Flötenspieler, der sich darauf vorbereitet, seine Fähigkeiten in Berlin zu vervollkommnen. Ebenfalls bei ihm ist Therese, die Verlobte seines Sohnes Leopold, der wegen eines Dienstvergehens zum Tode verurteilt wurde und dessen Schicksal unbekannt ist. Salfeld hat die rettende Idee: Friedrich II. soll sich als Conrad verkleiden und umgekehrt. Mit einem Lied aus der Heimat lenkt Vielka die Husaren ab. Sie bringt Friedrich II. die Kleider und die Flöte Conrads. Wir hören dann, dass alles geklappt hat, Friedrich II. spielt so gut Flöte, dass er als Conrad durchgeht. – Lustiges Treiben in einem preußischen Heerlager in Schlesien. Soldaten und Bauern feiern den Preußenkönig. Als Saldorf ankommt, um sich zu erkundigen, ob Friedrich II. die Flucht gelungen ist, wird er gleich als ungarischer Spion verhaftet. Als Vielka und Therese ihn als Retter Friedrichs II. verteidigen, gerät er hingegen in den Verdacht, diesen verraten zu haben. Ein Kanonenschuss, der die Ankunft des Königs ankündigt, bewahrt ihn gerade noch davor, standrechtlich erschossen zu werden. – Der siebenjährige Krieg ist gewonnen und Saldorf, Conrad, Vielka und Therese treffen alle in Sanssouci ein. Man hört den König Flöte spielen und Conrad stimmt in ein Duett mit ihm ein. Er wird vorgelassen und bekommt dafür, dass er den König gerettet hat, einen Wunsch frei. Vielka rät ihm, von Saldorf instruiert, die Begnadigung von Leopold zu erbitten. Der König stimmt zu und Leopold kann Therese heiraten, sobald sein Dienst in der preußischen Armee beendet ist. Vielka und Conrad beschließen ebenfalls, zu heiraten. Von einem Diener werden nun alle aus dem Schloss komplimentiert, damit der König endlich schlafen kann. Vielka kann die Träume des Königs sehen. In Form von »Tabkeaux vivants« werden sie im Finale dargestellt: 1. Friedrich auf einem weißen Pferd in der Schlacht, 2. Der Frieden, 3. Friedrich und Carl Heinrich Graun im Opernhaus, 4. Zukunftsvision: die Preußen sammeln sich in Breslau für die schlacht 1813, 5. 1793: Die Quadriga wird auf dem Brandenburger Tor angebracht; 6. 1842: Das wiederaufgebaute Opernhaus wird von Apoll und den Musen beehrt.
Für ein Gastspiel der Jenny Lind in Wien schrieb Meyerbeer wie schon erwähnt zusammen mit der Schriftstellerin Charlotte Birch-Pfeiffer eine neue Fassung, in der das Preußische zurückgedrängt wird; statt Friedrich II. gibt es hier einen ebenfalls flötespielenden unspezifischen Herzog, der auch wirklich auftritt, und der Schluss ist tragisch: Vielka rettet den Herzog, auf den geschossen wird, indem sie sich dazwischenwirft; nachdem sie diesem eine glorreiche Zukunft vorausgesagt hat, stirbt sie in Saldorfs Armen. Von dieser Fassung, Vielka, gibt es gar keine Aufnahme, dafür gibt es eine Gesamtaufnahme von L'Étoile du Nord, einer nochmaligen, diesmal aber sehr viel gründlicheren Überarbeitung des Feldlagers aus dem Jahr 1854. In dieser Opéra comique, die noch im gleichen Jahr in einer durchkomponierten Form in London herauskam, haben wir wieder eine bedeutende Persönlichkeit aus der Geschichte im Zentrum, die diesmal nicht nur tatsächlich auftritt sondern auch Bass singt: Zar Peter I. Der erste Akt ist so etwas wie Zar und Zimmermann, aber nicht in Holland, sondern in Finnland. Aus Vielka wird hier Catherine, eine weitere historische Persönlichkeit, nämlich die spätere Ehefrau von Peter I. Bis sie das aber werden kann, muss sie wie bei Bellini erst den Verstand verlieren und ihn dann wieder gewinnen.
Zu den Meistersingern von Nürnberg kommt demnächst etwas.
Ihr Curt A. Roesler
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