Montag, 21. Februar 2022

Die sizilianische Vesper

Seit 1847 hielt sich Verdi erstmals länger in Paris auf. Damals kam er auf der Rückreise von London, wohin er sich für die Uraufführung I masnadieri begeben hatte, in der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (wie Walter Benjamin sagte) vorbei, um seine alte Liebe Giuseppina Strepponi zu treffen, die mittlerweile dort Gesang unterrichtete. Sie blieben von da an zusammen bis an ihr Lebensende und kamen oft zurück nach Paris, nachdem sie 1848 mehr oder weniger gezwungen waren, nach Italien zu verschwinden. In der Folge der Revolution hatte Strepponi viele ihrer Schülerinnen und Schüler verloren. Außerde hatte Verdi 1844 das Landgut Sant'Agata gekauft und jemand musste sich darum kümmern. 

1845 war Verdi erstmals in Paris zur Erstaufführung des Nabucco im Théâtre-Italien. Ein Besucher war besonders begeistert von der Musik, der Verleger Léon Escudier. Er stellte einen ersten Kontakt zum Direktor der Opéra her (das war der nicht ganz einfache Léon Pillet), aber Verdi konnte sich nicht entschließen, ein Libretto in einer fremden Sprache zu vertonen. Und eine schnelle Übersetzung seines bereits zum größten Teil fertigen Attila konnte er sich auch nicht vorstellen. 1847 aber, als er dann länger in Paris war, erarbeitete er mit den Librettisten Alphonse Royer und Gustave Vaëz eine neue Version der Oper, mit der er in Italien seinen ersten Erfolg Nabucco gefestigt hatte, I Lombardi alla prima crociata, unter dem Titel Jérusalem; die Uraufführung war am 26. November. Zu den Theatererlebnissen der Verdis in diesem Winter gehörte auch Le roi s'amuse von Victor Hugo, aus dem später Rigoletto werden sollte. Den Winter 1851/52 verbrachte das Paar erneut in Paris, da sahen sie das Schauspiel La dame aux Camélias von Alexandre Dumas; daraus wurde La traviata. Dumas war ganz entzückt, dass Verdi seine Theaterfassung des Romans vertonen wollte, im Gegensatz zu Hugo, der ihn wegen Ernani und Rigoletto mit Urheberrechtsklagen überzog.

Das Verhältnis Verdis zu Paris und speziell zur Opéra war immer gespalten. Als er geboren wurde, ächzte die Lombardei unter Napoleon; Verdis Geburtsurkunde ist in französischer Sprache. Später waren die Habsburger aber noch schlimmer. Und so recht konnte er nicht anerkennen, dass Napoléon III. mit seinem Sieg gegen die Österreicher den Grund für die italienische Einigung gelegt hatte. Er nahm ihm übel, dass er nach dem Sieg in der Schlacht von Solferino im Frieden von Zürich mit den Österreichern paktierte. Die Opéra kritisierte er immer wieder als »Grande boutique«, aber von der Krönungsszene in Le prophète von Meyerbeer war er absolut fasziniert. Das äußerte er auch gegenüber dem Librettiste Eugène Scribe, von dem er sich ähnliche Szenen erhoffte.

1854 ging Verdi einen Kontrakt für seine erste original für Paris komponierte Oper ein. Dass ihm Scribe ein Libretto – mit Umarbeitungen – anbot, das Donizetti einst nicht zuende komponiert hatte, wusste er nachweislich von Anfang an, obwohl er später behauptete, dass er es erst kurz vor der Vollendung erfahren habe. Die Oper Le duc d'Albe hatte Donizetti eben wegen jenes Léon Pilet nicht vollendet. Der nämlich war mit einer Sängerin liiert, die in Konkurrenz stand mit der Sängerin, für die bis dahin die Partie der Hélène konzipiert war. Donizetti hätte also die Partie umkomponieren müssen vom Typ Julie Dorus-Gras (Marguerite de Valois in Les huguenots, Pauline in Les martyrs) auf den Typ Rosine Stoltz (Valentine in Les huguenots, Léonor in La favorite). Rosine Stoltz und ihre Beziehung zu Léon Pilet waren auch der Grund für das lange Warten auf die Premiere Le prophète. Meyerbeer hatte die Partie der Fidès für Pauline Viardot komponiert, die durfte diese aber erst singen nachdem Pilet sich 1847 von der Opéra zurückgezogen hatte.

Le duc d'Albe ist eine typische »Grand Opéra« mit historischem Hintergrund, der Herzog von Alba ist genau der, den wir auch aus Schillers Don Karlos kennen. Es geht um seine Zeit in den spanischen Niederlanden, wo er den Aufstand brutal unterdrückte und u. a. Lamoral von Egmond hinrichten ließ; den kennen wir von Goethes Egmont. Das Libretto erfindet eine Tochter von Egmond und einen wiederaufgetauchten Sohn von Alba, die sich lieben und in die entsprechenden Konflikte geraten – genau so, wie wir sie aus Verdis Les vêpres siciliennes kennen. Damit aus Le duc d'Albe ein Libretto für Verdi werden konnte, musste das Ganze nicht nur in ein anderes Jahrhundert versetzt und mit einem anderen konkreten geschichtlichen Ereignis verknüpft werden, sondern es mussten ein ganzer Akt und eine zusätzliche Hauptpartie hinzuerfunden werden. Le duc d'Albe hat nur vier Akte, was ungewöhnlich ist für eine Opéra der Zeit, aber gelegentlich vorkommt – auch eine der ersten Opern dieses Genres hat nur vier und nicht fünf Akte, Guillaume Tell von Gioachino Rossini. Le duc d'Albe endet nicht mit einer Revolution, sondern mit einer persönlichen Tragödie: Hélène will den Herzog erdolchen, Henri stellt sich schützend vor seinen Vater und wird von seiner Geliebten getötet. Bis zum Schluss des vierten Aktes konnte alles mehr oder weniger so bleiben, wie es für Donizetti konzipiert war, nur die Tötung Henris musste ausfallen. Die neue Figur – der historisch belegte Giovanni da Procida – bekommt eine große Arie von Hélène am Anfang des zweiten Aktes. Und im 5. Akt geht es nur noch um die mögliche oder unmögiche Hochzeit Henris und Hélènes, in die dann der von Procida initiierte Aufstand der Sizilianer gegen die Franzosenherrschaft bricht, die »Sizilianische Vesper« vom 30. März 1282.

Les vêpres siciliennes gehört zu den weniger bekannten Opern von Verdi. Nachdem sie von der Uraufführung 1855 bis etwa 1870 die Runde um die ganze Welt gemacht hatte, wurde es still um sie. In Hamburg gab es 1901 noch eine Neueinstudierung und an der Mailänder Scala 1909. Im Zuge der »Verdi-Renaissance« 20 Jahre später kam das Werk vor allem im deutschen Sprachraum wieder auf die Spielpläne: 1929 Stuttgart, 1930 Zürich, 1932 Basel und Berlin. Hier hatte Julius Kapp eine Neubearbeitung herausgebracht, die noch lange verwendet wurde. Helge Rosvaenge und Heinrich Schlusnus sangen Arrigo und Monfort. Das große Duett – es gehört zu den großen Generationen-Auseinandersetzungen Verdis – wurde gleich auf Schallplatte gebannt. Selbstverständlich auch die große Arie »In Glanz und Pracht« des Monfort und die Tenorarie »O Tag des Grames«. 19 Jahre später kam der Hessische Rundfunk darauf zurück und produzierte eine Gesamtaufnahme mit Rosvaenge und Schlusnus, hinzu kamen als Ensemblemitglieder aus Frankfurt Maud Cunitz und Otto von Rohr. Das ist auch die älteste Gesamtaufnahme der Oper, die wir überhaupt besitzen, leider ist der Umschnitt von den Heliodor-Schallplatten auf Youtube akustisch eine Katastrophe. Das gelegentich genannte Aufnahmejahr 1941 ist falsch, da gab es noch keinen Hessischen Rundfunk, sondern einen Reichssender Frankfurt. Aktuell gibt es sie nicht als CD, daher ist sie auch auf Spotify & Co. nicht zu finden. Auch die andere Aufnahme aus dem Verdijahr 1951 (50. Todestag) ist keine technische Meisterleistung. Es ist eine Live-Aufnahme aus Florenz mit  Maria Callas unter der Musikalischen Leitung von Erich Kleiber. Hier gibt es allerdings bei Spotify & Co. Alternativen, die ganz unterschiedlich klingen (Mal etwas dumpfer, Mal etwas halliger etc.), Sie können es also da probieren. In der 1951 begonnenen Reihe der Verdi-Opern bei der RAI war I vespri siciliani 1955 dran, es dirigierte Mario Rossi und es sangen u. a. Anita Cerquetti, Carlo Tagliabue und Boris Christoff. Sie schaffte es damals aber nicht in die Schallplattenreihe der Cetra, aber jetzt gibt es sie als CD – und bei Spotify & Co. Auf YouTube kann man einzelne Takes finden, so etwa das Finale des 3. Aktes. Die erste richtige Schallplattenaufnahme entstand 1973 in London, James Levine dirigierte eine illustres Ensemble aus Martina Arroyo, Placido Domingo, Sherrill Milnes und Ruggero Raimondi.

Die erste Aufnahme in französischer Sprache sendete BBC 1969, aber noch lange blieb I vespri siciliani, wenn sie denn auf den großen Opernbühnen überhaupt gespielt wurde, eine italienische Oper. Die BBC-Aufnahme kann man hier hören, ergänzt um eine Pariser Aufnahme von Ausschnitten von 1964. Auch als Riccardo Muti, großer Verfechter von Originalen, die Oper 1989 an der Scala dirigierte, wurde italienisch gesungen – wie es übrigens auch damals mit »Pariser Fassungen« von Don Carlos gehandhabt wurde. Mit spanischen Untertiteln kann man den Fernsehmitschnitt hier sehen. Cheryl Studer singt die Elena, Chris Merritt den Arrigo, Giorgio Zancanaro den Monforte, Ferruccio Furlanetto den Procida. Eine ganz aktuelle Inszenierung aus Palermo ist bei Arte zu sehen – und natürlich auch auf YouTube. Emma Dante stellt in ihrer Inszenierung lokale Bezüge her, integriert sizilianische Puppenspieler und macht Anspielungen auf die Versuche der Insel, sich von der Mafia zu befreien. Von den Inszenierungen von Stefan Herheim (Covent Garden, London) und Christof Loy (Amsterdam und Genêve) können Sie einzelne Ausschnitte bei YouTube finden.

In Berlin kam die Oper zuletzt 1977 an der Deutschen Oper Berlin (italienisch) und 1989 an der Staatsoper (deutsch) heraus. Tonausschnitte von der Deutschen Oper finden Sie, wenn Sie nach »Vespri siciliani Lopez Cobos« suchen, einen kompletten Kassettenrekorder-Mitschnitt aus der Staatsoper mit vielen Hustern finden Sie mit »Sizilianische Vesper Staatsoper Berlin«. Wir freuen uns jetzt auf eine Neuinszenierung von Olivier Py in der Deutschen Oper Berlin, zum ersten Mal in Berlin in französischer Sprache. Darüber sprechen wir am Mittwoch.

Herzlich grüßt
Curt A. Roesler

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