Girolamo Savonarola, der florentinische Präreformator und Oligarchenschreck im 15. Jahrhundert, war überzeugt davon, dass der Borgia-Papst Alexander VI. der Antichrist sei. Attila oder Napoleon wurden von anderen so tituliert. Wer oder was aber ist der »Antichrist«? Es gibt den Begriff schon in der Bibel, obwohl im Neuen Testament selbstverständlich häufiger von »Christus, dem Gesalbten des Herrn« die Rede ist. Im 1. Brief des Johannes, 2. Kapitel, Vers 18 heißt es: »Meine Kinder, es ist die letzte Stunde. Ihr habt gehört, dass der Antichrist kommt, und jetzt sind viele Antichriste gekommen. Daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist.« Die Vorstellung eines die Menschheit bedrohenden Gottesleugners, der erst im Endkampf des Guten gegen das Böse überwunden wird, ist aber keine ausschließlich christliche Vorstellung. Auch in der jüdischen Tradition gibt es einen Anti-Messias, Armilos, der einst vernichtet werden muss, ehe das Zeitalter des Heils eintritt. Und in der islamischen Vorstellung gibt es den Daddschāl, einen Betrüger, der vor dem Tag der Auferstehung erscheinen soll. Allerdings gibt es keine Erwähnung dieser Figur im Koran, ebensowenig wie im Alten Testament vom Armilos die Rede ist. Die Figuren kommen nur in den nicht-kanonischen Schriften de Judentums und des Islams vor, die sich mit der Endzeit befassen. Seltsamerweise wird der Antichrist in der Offenbarung des Johannes nicht namentich erwähnt; dafür gibt es dort einen Drachen, der überwunden werden muss.
Der dänische Komponist Rued Langgard (1893–1952) wurde erst lange nach seinem Tod wirklich entdeckt. Seine frühen Erfolge, darunter die Urauführung der 1. Sinfonie und der Tondichtung Sphinx durch die Berliner Philharmoniker 1913 und die Sphärenmusik 1921 in Karlsruhe wurden in Dänemark von den Erfolgen Carl Nielsens mit seinen Sinfonien und seinem Einfluss als Vertreter eines »Mainstreams« überschattet. Nachdem seine Oper Antikrist mehrmals von der Königlich Dänischen Hofoper abgelehnt worden war, zog sich Langgard immer mehr zurück und wurde schließlich Domorganist in Ribe, wo er bis zu seinem Tod blieb.
Langgaard schrieb 16 Sinfonien, jede von ihnen ein eigener Kosmos, wenn auch eine gemeinsame Musiksprache erkennbar ist, die sich allerdings auch veröndert und weiterentwickelt. Manche Sinfonien sind kürzer als eine Viertelstunde, andere dauern mehr als eine Stunde; manche verwenden Chor und Vokalsolisten, wie man es von Mahler kennt. Alle haben – wie man es auch von Mahler kennt – ein »Programm«, folgen also einer außermusikalischen Idee. Die 10. Sinfonie war die letzte, die zu seinen Lebzeiten aufgeführt wurde, und selbst die 16., mit der er wenige Wochen vor seinem Tod glaubte, er habe jetzt seinen Frieden mit der dänischen Musikwelt und dem dänischen Rundfunkorchester gemacht, brauchte dann noch 14 Jahre, bis sie erstmals erklang. Aber schon mit der 8. war es schwierig, sie ist im 20. Jahrhundert überhaupt nie aufgeführt worden, liegt jetzt aber natürlich in mehreren CD-Aufnahmen vor.
Antikrist wurde 1980 endlich im dänischen Rundfunk komplett aufgeführt – mit gemischtem Erfolg. Die Fachwelt war sich uneins, ob es sich um ein hoffnungslos veraltetes oder um ein verkanntes genialisches Werk handele. Erst die szenische Uraufführung 1999 in Innsbruck brachte eine Wende. 2002 gab es dann endlich auch eine szenische Aufführung in Kopenhagen (in der Reitschule im Schloss Christiansborg), die man hier sehen kann. 2015 gab es Aufführungen in Ribe ( hier ein Ausschnitt, Sie können noch weitere finden, wenn Sie bei YouTube eingeben »antikrist langgaard ribe 2015«); 2018 in Mainz.
Antikrist wird gern als »Kirchenoper« bezeichnet, was immer das sein soll. Klar ist, dass es sich nicht um eine klassische Oper handelt, aber auch nicht um ein Oratorium, denn es gibt keine Handlungsentwicklung im klassischen Sinn. Vielmehr handelt es sich um eine Aneinanderreihung von Bildern, die insgesamt eine Auseinandersetzung mit den »letzten Dingen« repräsentieren. Wie viele seiner Zeitgenossen war auch Langgaard in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts überzeugt, dass er in einer Endzeit lebt. Das Chaos von Krieg und Weltwirtschaftskrise (dazwischen gab es übrigens auch eine Pandemie) schien darauf hinzudeuten, dass der Untergang nahe ist.
Der Prolog und die je drei Bilder des ersten und zweiten Aktes beschreiben verschiedene Ausprägungen der Endzeit im Licht der biblischen Prophezeiungen. Es gibt außer dem Chor, der die Menschheit, Dämonen und auch einen »Chor im Licht« repräsentiert, zehn Gesangssolisten und einen Sprecher. Der Antichrist hat in der endgültigen Fassung keine Stimme, obwohl er im Prolog von Lucifer erschaffen und von Gott (dargestellt von einen Schauspieler) in die Welt gesandt wird. Im ersten Bild (»Das Irrlicht« bzw. »Das Licht der Ausweglosigkeit«) wird die Stimmung der Dekadenz durch einen Tenor (als »Rätselstimmung«) und einen Sopran (»Das Echo der Rätselstimmung«) beschrieben. Beide Figuren kommen später nicht mehr vor. Ein Bild von Émile Renard von 1893 passt gut dazu, Mittelalterliches Städtchen bei abendlicher Beleuchtung an einem Wintertag. Da dieses Bild vor nicht allzulanger Zeit in einer Auktion verkuft wurde, kann man hier eine Reproduktion finden. – Das zweite Bild (»Hoffart« bzw. »Größe«) wird beherrscht vom »Mund, der große Worte spricht«, ebenfalls ein Tenor. Die Rede des eindeutig falschen Propheten, der vom Fortschritt faselt endet im Größenwahn. Auch hier ist ein Bild zum Verständnis hilfreich: Das zwischen 1499 und 1502 von Luca Signorelli gemalte Fresko Predica e fatti der Anticristo im Dom von Orvieto. Der dort auftretende falsche Messias hat einen Einflüsterer mit einem großen Mund. – Für das dritte Bild (»Hoffnungslosigkeit«) verweist Langgaard selbst auf Melencolia I von Albrecht Dürer (hier der Eintrag dazu bei Wikipedia). Die Solostimme ist hier ein Mezzosopran, der »Missmut« genannt wird, und den Pessimismus in der Zeit des Antichristen beschreibt. Zum Schluss wird »Missmut« symbolisch an ein Schattenkreut genagelt.
Auch im zweiten Akt, der mit dem 4. Bild beginnt, basiert die dramatische Entwicklung weniger auf einer traditionellen Handlung als vielmehr auf dem Aufeinandertreffen von gegensätzlichen Stimmungen. – Im 4. Bild (»Die Begierde«) wird die apokalyptische Figur der »großen Hure« (Sopran) vorgestellt. Sie reitet das »Tier in Scharlach« (Tenor); als dieses erklärt, das bestialische Ich des Menschen sei göttlich, antwortet »die Menschheit« (Chor) ironisch mit »Amen«. – Die große Hure kommt auch noch einmal im 5. Bild (»Streit aller gegen alle«) vor und ist damit neben der Stimme Gottes die einzige Figur, die nicht nur in einem Bild auftritt. Die große Hure muss sich gegen »die Lüge« (Tenor) und »den Hass« (Bass) behaupten. Nun ist endgültig die Anarchie ausgebrochen. Als Lucifer die Glocken läuten lässt, hält die Hure diese für Hochzeitsglocken. Im 6. und letzten Bild (»Verdammnis«) erklärt eine Stimme (Bariton) Gott für tot, verflucht aber gleichzeitig den Antichrist. Gott ist aber nicht tot, sondern schleudert seinen Blitz aus und streckt ihn nieder. Entgegen dem Titel »Verdammnis« endet das ganze keineswegs pessimistisch, sondern mit einem vom »Chor im Licht« gesungenen »Hymnus des Friedens«.
Bis morgen,
Ihr Curt A. Roesler
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.