Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns mit dem mythischen Sänger der Antike befassen, und auch Gluck stand schon mehrfach auf dem Programm der »Zehlendorfer Operngespräche«. Aber es lohnt sich immer wieder und man entdeckt meistens etwas Neues. So hatte ich bisher die zeitliche Parallele zwischen der Opernreform Glucks (und anderer) und dem Erscheinen David Garricks am Schauspielerhimmel des 18. Jahrhunderts nicht so sehr im Blick. Wir haben uns deshalb am letzten Mittwoch schon ein wenig mit ihm befasst. Aber wir haben auch den Weg Glucks bis zur Reform betrachtet. Zwischen 1741 und 1756 hat er 15 Libretti von Pietro Metastasio vertont; keines davon hat Metastasio für ihn geschrieben, erst 1765 kam es zu eiunee Zusammenarbeit der beiden in Wien. La clemenza di Tito etwa, 1752 von Gluck für Neapel komponiert, war 1734 für den Wiener Hofkoponisten Antonio Caldara verfasst worden – und wir kennen den Stoff heute vor allem, weil Wolfgang Amadeus Mozart 1791 dieses Libretto zur Vorlage für seinen Titus genommen hat. Wir haben die Auftrittsarie des Titus in diesen beiden Vertonungen verglichen. Es gibt die beiden Arien bei YouTube vom gleichen Sänger zu hören, Reiner Trost, hier Gluck und hier Mozart. Die dichterische Form ist die einer »Da-capo-Arie«. (Der Arientext ist weiter unter zu finden). Diese umfasst zwei Strophen und die Konvention besteht darin, dass die erste Strophe nach der zweiten noch einmal wiederholt wird und zwar ohne, dass der Komponist das ausschreibt, er setzt einfach die Worte »Fine« ans Ende der ersten Strophe und »Da capo (al fine)« ans Ende der zweiten Strophe. Die Sänger haben das zum Anlass genommen, die erste Strophe bei der zweiten Ausführung mit eigenen Koloraturen auszuzieren, um auf ihre eigene Musikalität (mehr als auf die Figur, die sie darzustellen hatten) aufmerksam zu machen. Das ist seit Anfang des 18. Jahrhunderts vielfach kritisiert worden und verschiedene Komponisten haben einen Ausweg aus dem Dilemma gesucht. Gluck hat in seinen Reformopern damit weitgehend aufgeräumt. Nicht mit den Wiederholungen hat er aufgeräumt, wie man exemplarisch an seiner berühmtesten Arie »Che farò senza Euridice« hören kann, in der die erste Strophe drei Mal identisch vorgetragen wird, sondern mit den Koloraturen und der Freiheit der Gestaltung für die Interpreten.
Mozart, der sechs Jahre alt war, als Gluck Orfeo ed Euridice schrieb, hat schon in seinen frühen für Mailand geschriebenen Opern Da-capo-Arien sparsam eingesetzt (wir sprachen anlässlich Mitridate re di Ponto darüber) und sein Idomeneo steht auf der Grundlage einer neuen Musikdramatik, die wie Gluck französische und italienische Elemente verbindet. In der Arie des Titus in La clemenza di Tito in seiner Vertonung kann man also durchaus so etwas wie eine alternative Vertonung durch Gluck nach seiner Reform. Hier noch der Text, zum Nachhören:
Del più sublime soglio
L’unico frutto è questo:
Tutto è tormento il resto,
E tutto è servitù.
Che avrei, se ancor perdessi
Le sole ore felici
Che ho nel giovar gli oppressi,
Nel sollevar gli amici,
Nel dispensar tesori
Al merto e alla virtù?
Dass die zweite Strophe zwei Zeilen mehr hat als die erste Strophe, ist ungewöhnlich. Die erste Strophe hat in der Vertonung Glucks dennoch mehr Gewicht, denn sie wird gemäß der Tradition nicht weniger als vier Mal vorgetragen, denn zur Konvention einer »Da-capo-Arie« gehört, dass der Text der ersten Stophe zwei Mal komponirt wird. Der »erste Durchgang« und der »zweite Durchgang« wird jeweils von einem Ritornell des Orchesters eingeleitet und beendet. Auch diese Ritornelle kritisierte Gluck in seinen Schriften zur Reform scharf. In La clemenza di Tito folgte er der Konvention aber noch bedingungslos, wie man gut hören kann. Mozart hat in Idomeneo bereits ältere und neuere Arienformen nebeneinander eingesetzt. Wenn er aber die »Da-capo-Form« wählte, schrieb er immer die Wiederholung aus, manchmal auch mit erheblichen Veränderungen gegenüber der Exposition. »Del più sublime soglio« in La clemenza di Tito ist ganz schlicht gehalten, ganz im Sinne Glucks. Es gibt keine Ritornelle und auch keine zwei »Durchgänge«, aber die erste Strophe wird nach der zweiten noch einmal wiederholt. Auf die Wiederholung hatte Mozart im Idomeneo manchmal auch schon ganz verzichtet. Wir haben Gluck und Mozart verglichen. Man kann bei YouTube aber die Arie auch so hören, wie sie Antonio Caldara 1734 vertont hat. Damals wurde Tito noch von einem Kastraten gesungen (in der Aufnahme von einer Sopranistin), bei Gluck und Mozart ist es ein Tenor.
Orfeo ed Euridice, 1762 in Wien uraufgeführt, erfuhr durch Gluck in Paris zwölf Jahre später eine Umarbeitung, wobei die Partie des Orpheus von von einem »Haute-Contre«, also einem hohen Tenor übernommen wurde. Dabei wurden die Teile, die nicht komplett neu komponiert wurden, um eine Quint tiefer gesetzt (und nicht um eine Oktave, wie wir es aus den 50er Jahren kennen, wo Orpheus oft von Baritonen wie Dietrich Fischer-Dieskau oder Hermann Prey gesungen wurde): »Che faró senza Euridice« steht in C-Dur, »J'ai perdu mon Euridice« in F-Dur. Fast 100 Jahre später fertigte Hector Berlioz eine französische Fassung für Pauline Viardot an. John Eliot Gardiner dirigierte diese Fassung 2000 im Théâtre dû Châtelet mit Magdalena Kožená, sie ist auf YouTube hier zu finden. Die Bühnenbilder und die Insztenierung stammen von Robert Wilson, die Kostüme von Frida Parmeggiani. Die ursprüngiche französische Fassung von Gluck ist ebenfalls zu finden, mit Roberto Alagna als Orphée, aus Bologna 2008, hier. Wer nur die berühmte Arie von einem Tenor hören möchte, der dem Ideal des Haute-Contre sehr nahe kommt, hat hier die Möglichkeit, Juan Diego Florez zu hören und zu sehen. Die ganze ebenfalls von Gardiner dirigierte Aufführung als Tonmitschnitt von 2015 gibt es hier. Das ist ein Rundfunkmitschnitt und somit durch das »Recht auf eine Privatkopie« in Deutschland legal, was aber nicht von allen so gesehen wird. An der Komischen Oper Berlin wird selbstverständlich die »Wiener Fassung« vorbereitet, in italienischer Sprache und mit einem Coutertenor. Diese Fassung (leicht gekürzt und als »historische Aufführung« in einem Barocktheater abgefilmt) gibt es bei YouTube hier in einer tschechischen Fernsehproduktion mit Bejun Mehta. An der Komischen Oper Berlin sang eint Jochen Kowalski den Orpheus in deutscher Sprache. Es war ein Riesenerfolg und Capriccio brachte eine italienische Fassung davon heraus. Bei Spotify und anderen Streamingdiensten kann man sie hören. Lassen Sie sich aber nicht einfallen nach »Orfeo ed Euridice Kowalski« zu suchen, da finden Sie nur Einzelnummern, die beiden Alben mit der Komplettufnahme und dem Querschnitt finden Sie mit »Orfeo ed Euridice Haenchen«.
Als wir uns vor einem Jahr mit der Geschichte des Charlottenburger Opernhauses befasst haben, hatte ich zwei bald 100 Jahre alte Tonaufnahmen mit der berühmten Arie des Orpheus vorgestellt: einmal wurde sie gesungen von Sigrid Onegin, die 1927 auch unter der Leitung von Bruno Walter die Premiere gesungen hatte, und dann von Maria Olszewska, die später in der Partie aufgetreten ist. Die verschiedenen Fassungen von Glucks Orfeo gehören zu den am häufigsten bei YouTube hochgeladenen Opern. Wir können also hier noch munter weiter Interpretationsvergleiche anstellen und uns vor allem mit der Interpretationsgeschichte dieser Oper (und weiterer Opern von Gluck) befassen.
Als im 20. Jahrhundert der vergessene Operkomponist Gluck wieder zu Aufführungen kam, wurde er als »deutscher Komponist italienischer Opern« wahrgenommen. Vor allem Orfeo ed Euridice und Alceste wurden in der Wiener Fassung aber im deutschen Sprachraum ausschließlich in deutscher Sprache wiederaufgeführt. Seltener kam es auch zu Iphigenie in Aulis (auch, wie wir gesehen hatten, an der Städtischen Oper Berlin unter Bruno Walter), dann aber in der Bearbeitung von Richard Wagner, der ihr das Französische möglichst ausgetrieben hat. Auch als sich die Schallplattengesellschaft »eurodisc« 1972 entschloss, eine Gesamtaufnahme dieser Oper ins Programm aufzunehmen entschied sie sich für eine ausgesprochen deutsche Besetzung und die Fassung von Wagner. Kurt Eichhorn (der von Rafael Frühbeck de Burgos zeitlebens verehrte Lehrer) dirigierte, es sangen ausschließlich Sänger, die hauptsächlich in Deutschland tätig waren: Anna Moffo, Arleen Augér und Thomas Stewart (alle drei geboren in den USA), Ludovic Spiess (geboren in Rumänien), Trudeliese Schmidt, Dietrich Fischer-Dieskau, Bernd Weikl. Man kann diese Aufnahme hier bei YouTube hören. Der Unterschied wird schon nach wenigen Takten, spätestens nach dem ersten Gesangseinsatz deutlich, wenn man die Aufnahme unter Marc Minkowski dagegenhält, die hier zu sehen und zu hören ist.
Es gibt viel zu entdecken bei Gluck und wir machen uns morgen 18.15 wieder auf die Reise.
Herzich, Ihr Curt A. Roesler
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