Leoš Janáček ist vier Jahre vor Giacomo Puccini geboren und überlebte ihn um ebenfalls vier Jahre. Die beiden sind also das, was man Zeitgenossen nennen würde. Dennoch rechnet man Puccini eher dem 19. Jahrhundert zu und Janáček eher dem 20. Unter anderem ist das schon deswegen plausibel, weil Puccini einige seiner Welterfolge noch vor 1900 geschaffen hat, während sich Janáček erst mit Ihre Ziehtochter (1904, im deutschen Sprachraum meist Jenůfa genannt) größere Aufmerksamkeit erwarb. Internationale sogar erst nach dem 1. Weltkrieg, nachdem sich Jenůfa von Wien aus über die ganze Welt verbreitete. Auch einige Komponisten aus dem slawischen Umkreis, die ganz zum 19. Jahrhundert zu gehören scheinen, sind nur wenige Jahre älter als Janáček: Antonín Dvořák, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband, ist 1841 geboren, Nikolai Rimski-Korsakow 1844.
Leoš Janáček war von Anfang an unangepasst. Bei der Aufnahmeprüfung an der Prager Orgelschule 1874 sollte er die korrekte Auflösung eines Dominantseptakkordes darlegen. Er schwieg, weil ihm eine ganz andere Auflösung als die akademische durch den Kopf ging. Trotzdem erhielt er nach nur einem Jahr einen Abschluss mit Auszeichnung. Als er es später, nach einem kurzen Studium in Leipzig 1879, am Wiener Konservatorium noch einnal wissen wollte, kam es zum Eklat um das Adagio einer Violinsonate. Sie wurde nicht zum Wettbewerb angenommen, weil sie zu viele Volksliedanspielungen hatte und sich zu viele harmonische Freiheiten erlaubte. Diese Sonate ist nicht erhalten, ebensowenig wie die zweite, die Janáček schrieb. Aber die dritte, die er 1914 begann und 1921 vollendete, können wir hören. Hier ist der 4. Satz, ein Adagio, das dieses Unangepasste, jegliche Erwartungen Konterkarierende, deutlich werden lässt.
Der erste Opernversuch Janáčeks endete vorerst in der Schublade. Als glühender Verehrer der jungen tschechischen Nation verschlang er die 1887 veröffentlichte Dramatisierung Šarka des epischen Gedichts Ctirad von Julius Zeyer und fing sofort mit der Vertonung an. Er glaubte, das Einverständnis des Autors einzuholen sei nur eine Formsache. Doch da täuschte er sich. Zeyer wollte sein Drama um den mythischen »Böhmischen Mägdekrieg« höchstens von dem da schon viel berühmteren Dvořák vertonen lassen – der jedoch kein Interesse daran hatte. So kam Janáčeks Šarka erst 1925 zur Aufführung. Bis heute wird die Oper nur selten aufgeführt und sie scheint auch trotz vieler typischer Merkmale in der Musik nicht so ganz in das Werk Janáčeks zu passen. Aber die Musik ist hier in einer Aufnahme von 2000 unter der Leitung des Janáček-Spezialisten Charles Mackerras aus dem Prager Rudolfinum zu hören. Die 1897 uraufgeführte Oper Šarka von Zdeněk Fibich hat übrigens ebensowenig etwas mit Zeyers Drama zu tun wie die dritte der unter dem Titel Má vlast (Meine Heimat) zusammengefassten 6 Tondichtungen von Bedřich Smetana gleichen Titels. Der »Mägdekrieg« hat in der Literatur, Malerei und Musik vielfältigen Niederschlag gefunden.
Das erste Bühnenwerk von Janáček, das zur Aufführung kam, war 1891 das Ballett mit Gesang Rákos Rákoczy. Wenn Sie sich die Tonaufnahme anhören, wird Ihnen gleich der Anfang bekannt vorkommen. Sechs Instrumentalstücke aus diesem »Bild aus der mährischen Slowakei« hat Janáček später zu einem Orchesterwerk (das auch als Ballettmusik verwendet wurde) Lachische Tänze zusammengefasst. Gleich die Einleitung von Rákos Rákoczy kommt in den Nummern 3 und 6 der Lachischen Tänze wieder vor. Hier eine Freiluftaufführung mit Tanzdarbietung beim Janáček-Festival 2014 in seinem Geburtsort Hukvaldy. Der Titelgebende Graf übrigens entstammt nicht dem berühmten ungarischen Adelgeschlecht, dem Rákóczi Ferenc angehört, der Namensgeber des berühmten Marsches, der in La damnation de Faust von Hector Berlioz und in der 15. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt zu hören ist. Er ist nicht einmal ein Graf, sondern einfach ein Schwindler.
Für das Auftragswerk Rákos Rákoczy unterbrach Janáček die Arbeit an der ersten von zwei Opern nach einer Vorlage Gabriela Preissova. Počátek romanu (Der Anfang einer Romanze, oft auch als Der Anfang eines Romans übersetzt) ist die Kurzgeschichte, aus der Jaroslav Tichý für Janáček ein einaktiges Libretto formte. 1894 wurde die Oper in Brünn aufgeführt und die nächsten neun Jahre galten der Arbeit an Její pastorkyňa (Ihre Ziehtochter). Mit dem Einverständns der Autorin richtete er das Drama als Opernlibretto ein. 1904 wurde die Oper wiederum in Brünn, wo Janáček seit 1880 seinen Lebensmittelpunkt hatte, uraufgeführt. Zusammen mit Pelléas et Mélisande von Claude Debussy (1902) und Salome von Richard Strauss (1905) läutete das Werk eine neue Ära der »Literaturoper« ein. Wurde bis dahin – und das gilt such noch für Otello (1887) und Falstaff (1893) von Giuseppe Verdi – für Opern, die den Stoff eines Werks der Weltliteratur verarbeiteten, jeweils ein komplett neues Libretto in Versen geschrieben, das auch wesentliche Abweichungen in der Dramaturgie aufweisen konnte, haben diese drei Komponisten erstmals den (Prosa)text eines Dramatikers gekürzt, aber ansonsten unverändert übernommen. Hier die berühmte Inszenierung von Nikolaus Lehnhoff aus Glyndebourne 1989, die als Gastspiel auch an die Deutsche Oper Berlin kam. Kaum war die Arbeit an Její pastorkyňa beendet, wandte sich Janáček einem neuen Opernprojekt zu. Er entwarf selbst das Szenario für eine Oper, die man 20 Jahre später eine »Zeitoper« genannt hätte. Das Modell dafür ist allerdings eher bei den italienischen Veristen zu suchen, als in der zeitgenössischen Literatur. Seiner Verehrung für Mascagni hatte er als Musikkritiker in einer begeisterten Besprechung der Cavalleria rusticana Ausdruck verliehen. Er hatte im Kurort Luhačovice eine junge Frau kennengelernt, die ihm ihre Lebensgeschichte erzählte, Kamila Urválková. Sie hatte eine Liebesbeziehung zu einem Komponisten, wurde von ihren Eltern aber gezwungen, einen Forstbeamten zu heiraten. Der Komponist, Vítězslav Celanský, verarbeitet das Liebeserlebnis in einem Operneinakter, Kamila, der 1897 in Prag zur Aufführung kam. Janáček formte daraus eine Tragödie mit offenem Ausgang, die sich mit der Frage der autobiografischen Elemente in Kunstwerken auseinandersetzt. Meinhard Saremba, der 2001 bei Bärenreiter eine umfangreiche Janáček-Biografie herausbrachte, sieht in Osud (Das Schicksal), wie das Werk schließlich heißen sollte, ein Parallelwerk zu Její pastorkyňa, das statt auf dem Land im städtisch-bürgerlichen Milieu spielt. Er weist auf verschiedene Parallelen im formalen Ablauf hin, die man leicht auch auf Kát'a Kabanová (1921) ausdehnen kann. Alle drei Werke sind dreiaktig und man kann leicht die dramaturgische Abfolge von Exposition – Peripetie – Katastrophe erkennen. Die Exposition umfasst in allen drei Werken nicht nur die Vorstellung der handelnden Personen, auch ein Symbol, das im Verlauf noch wichtig werden wird (in Její pastorkyňa das Mühlrad – in Osud die Sonne – in Kat'a Kabanova die Wolga), es gibt neben den Hauptpersonen auch eine Gruppe, die zwei Mal vom Chor dargestellt werden (Dorfbewohner – Kurgäste) und einmal von Solisten (Familie Kabanow und Freunde) und der erste Akt schließt jeweils mit einer geschlossenen musikalischen Form (Chor der Rekruten – Chor der Studenten – Abschiedszeremonie). Der zweite Akt gipfelt im Mord am neugeborenen Kind, bzw. dem Selbstmord der Mutter Milas, die ihre Tochter in den Tod mitreißt, bzw. Katjas Ausbruch aus ihrer Ehe. Im dritten Akt wird jeweils ein Naturereignis handlungsbestimmend: das Tauwetter, das die Kinderleiche sichtbar macht, bzw. in den beiden anderen Werken ein Gewitter.
Hier eine kurze Zusammenfassung der Handlung von Osud: Unter den Kurgästen ragt Mila durch ihre Schönheit heraus, die viele Verehrer anzieht. Die Ankunft des Komponisten Živný unterbricht das Treiben, Mila hat nun nur noch Augen und Ohren für ihn, ihren früheren Geliebten, von dem sie auch einen Sohn hat. Die Mutter Milas hatte das Paar mit einer Intrige auseinandergetrieben. Als sie jetzt gewahr wird, dass die beiden wieder zusammen kommen, bricht sie in Verzweiflung und Wahnsinn aus. Im zweiten Akt, der vier Jahre später spielt, erläutert Živný Mila die Oper, in der er ihre Beziehung verarbeitet hat. Mila macht sich Vorwürfe, dass sie Živný verlassen hat und er verwirft sein Werk, als er erkennt, dass er sie zu Unrcht beschuldigt hatte. Die Frage des genmeinsamen Sohnes Doubek »Was ist Liebe?« lässt in Mila Zweifel an ihren Gefühlen für Živný aufkommen. Milas Mutter erscheint und beschuldigt Živný, dass er es nur auf Milas Geld abgesehen habe. In ihrem Wahn stürzt sie sich vom Balkon und reißt Mila, die sie zurückhalten wollte, zurück. Im dritten Akt, der noch einmal elf Jahre später spielt, wird die Uraufführung der Oper, die Živný nun offenbar doch vollendet hat, durch seine Studenten, zu denen auch Doubek gehört, vorbereitet. Der unaufgelöste Schluss wirft Fragen auf und Živný muss bekennen, das er selbst der Komponist Lensky, die Hauptfigur der Oper, ist. Er steigert sich in Erinnrungen und glaubt Milas Stimme zu hören, da bricht ein Gewitter aus und der Blitz trifft ihn. Er ist aber nur ohnmächtig geworden und nachdem alle gegangen sind, führt ihn Doubek hinaus.
Nachdem es 1904 durch verschiedene widrige Umstände nicht zur Uraufführung gekommen war, arbeitete Janáček Osud mehrere Male um, zuletzt 1918. Aber auch jetzt (an dieser Umarbeitung war auch Max Brod beteiligt) kam es zu keiner Aufführung. Konzertant wurden Ausschnitte 1934 im Rundfunk gespielt und die szenische Uraufführung fand erst 1958 in Brünn statt. Einen Tag danach spielte die Württembergische Staatsoper Stuttgart eine Bearbeitung von Kurt Honolka. Der dritte Akt wurde darin aufgeteilt und dessen erster Teil am Anfang gespielt, so dass daraus eine Rahmenhandlung wurde. Die Aufführung wurde vom Rundfunk aufgezeichnet und hier kann man sie hören. Eine Aufnahme der originalen Version in Englisch erschien 1999 bei Chandos und man kann sie bei Spotify und anderen Streamingdiensten hören. Am 27. November wird die Oper aus Brno im Original übertragen. Hier können wir eine Einführung des Regisseurs Robert Carsen (in Englisch) hören. Ein paar 2012 aufgezeichnete Ausschnitte kann man hier sehen.
In der Zeit nach Osud schrieb Janáček hauptsächlich Kammermusik und Orchesterwerke sowie sein theoretisches Hauptwerk Harmonielehre. Bevor er ab 1919, beflügelt durch die Beziehung zu Kamila Stösslova, der er vier Jahre zuvor erstmals begegnet war, noch einmal ein einen wahren Schaffensrausch kam, nur eine einzige Oper, Výlety páně Broučkovy (Die Ausflüge des Herrn Brouček).
Schon 1902 hatte Janáček das Schauspiel Гроза (deutsch meist Das Gewitter, richtiger wäre aber wohl Der Sturm, nur gäbe es dann eine Verwechslungsgefahr mit dem deutschen Titel für Shakepeares The Tempest) von Alexander Ostrowski in St. Petersburg im Original kennengelernt. 1918 erschien eine neue tschechische Übersetzung, die 1919 auch in Brünn gespielt wurde. Noch im gleichen Jahr machte sich Janáček an die Arbeit, die sich über zwei Jahre erstreckte. Kát'a Kabanová kam Ende 1921 in Brünn heraus und weckte internationale Aufmerksamkeit. In Berlin war es 1926 die Städtische Oper, die das Werk herausbringen konnte, nachdem der Janáček-Boom 1924 an der Staatsoper mit Jenůfa begonnen hatte. Fritz Zweig dirigierte, der auch 1931 an der Krolloper Aus einem Totenhaus dirigierte, wenige Wochen bevor das Haus unter Triumphgeheul der Nazis geschlossen wurde.
Jeder der drei Akte umfasst zwei Bilder; die sechs Bilder Janáčeks folgen der Dramaturgie von Ostrowskis fünfaktigem Drama. In der Oper konzentriert sich die Handlung mehr auf die Titelfigur. Hinzuerfunden ist die Abschiedszeremonie am Ende des ersten Aktes, die bei Ostrowski nur im Rückblick erwähnt wird. Hier (zur Erinnerung für die, die schon damit vertraut sind) die Handlung in Kürze: 1. Akt, 1. Bild: In einem Park des Kalinow genannten kleinen Wolga-Städtchens lernen wir die Hauptpersonen kennen. Den Lehrer und Chemiker Kudrjáš und Glascha eine der Bediensteten im Kaufmannshaus Kabanow. Den übel gelaunten Kaufmann Dikoj, der – wie sich später herausstellt – der Kaufmannswitwe Kabanicha nachstellt, und seinen Neffen Boris, der ihm zu Diensten sein muss, wenn er nicht auf sein Erbe verzichten will. Und schließlich die aus der Kirche zurückkehrende Sippe Kabanow: Kabanicha, ihr Sohn Tichon, ihre Tochter Warwara und die unglückich mit tichon verheiratete Katja. * 1. Akt, 2. Bild: In einem Zimmer auf dem Gut Kabanow erzählt Katja ihrer Schwägerin Warwara von ihren Sehnsüchten und Träumen, die ihr selbst Angst machen; Ehebruch ist ja eine Sünde. Als Tichon eintritt und Abschied nehmen will, weil er eine Reise antreten muss, fällt sie ihm um den Hals und fleht ihn an, sie mitzunehmen. Da das nicht geht, gibt sie ihm von sich aus ein Treueversprechen. Die hinzutretende Kabanicha verlangt von ihrem Sohn, genau das noch einmal feierlich einzufordern. * 2. Akt, 1. Bild: In einem anderen Zimmer auf dem Gut Kabanow sind Katja und Warwara abends mit Stickereien beschäftigt. Als die Kabanicha kurz weggeht, steckt Warwara Katja den Schlüssel zum Garten zu, wo sie Boris treffen kann. Später empfängt die Kabanicha in dem Zimmer Dokoj, der auch über die Nacht bleiben darf. * 2. Akt 2. Bild: Die Paare Kudrjáš und Warwara, Boris und Katja finden sich an der Gartenpforte. Das erste unbeschwert und voller Zukunftspläne, das zweite ganz unterschiedlich, Katja voller Angst und Boris am Ende alleingelassen. * 3. Akt, 1. Bild: In einem verfallenen Gebäude an der Wolga suchen Menschen Schutz vor dem nahenden Gewitter. Dikoj beschimpft Kudriáš, der Blitze als elektrische Entladung und nicht als Zeichen der Macht Gottes ansieht. Warwara erzählt von Katja, die seit Tichons Rückkehr immer mehr dem Wahnsinn verfällt. Sie erscheint schließlich selbst und gesteht auf dem Höhepunkt des Gewitters ihren Ehebruch. * 3. Akt, 2. Bild: Am Ufer der Wolga erscheinen Kudrjáš und Warwara, die sich zur Flucht in die Großstadt Moskau entschlossen haben. Katja findet nicht die Kraft, das gleiche von Boris zu fordern, der voin seinem Onkel nach Sibirien beordert wird. Sie stürzt sich in die Wolga. Dikoj zieht die Leiche aus dem Wasser und Tichon klagt seine Mutter an: »Du hast sie getötet«.
Dies und viel mehr besprechen wir am Mittwoch. Bis dann, ichn freue mich,
Ihr Curt A. Roesler
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