Wir bleiben in Frankreich und wir bleiben bei einem antiken Mythos. Es geht um Orpheus, den legendären Sänger aus Thrakien, einer Gegend, die Griechenland heute mit der Türkei (dem europäischen Teil) und Bulgarien teilen muss. Orte, mit denen sein Wirken in Verbindung gebracht wird, gruppieren sich rund um die Ägäis. Seine Mutter war die Muse Kalliope (u. a. für epische Dichtung und für Saitenspiel zuständig), sein Vater entweder Apollon oder ein Flussgott namens Oiagros. Wie auch immer stand er Apollon nah und war damit bei Dionysos nicht sehr hoch angesehen. Nach Teilen der Überlieferung wurde er am Ende von Mänaden (Anhängerinnen des Dionysoskults) zerrissen und sein Kopf wurde zusammen mit der Leier an der Insel Lesbos angespült. Vierlleicht erinnert sich jemand an die Inszenierung des Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Gluck an der Deutschen Oper Berlin (1982). Da hatte Achim Freyer den Einfall, zum Schluss im Hintergrund einen Orpheuskopf über die Bühne »schwimmen« zu lassen. Die Geschichte seiner Ehefrau ist in der antiken Sage wie in den meisten modernen Bühnenfassungen, die Geschichte eines Opfers. Die Nymphe Eurydike starb nach einem Vergewaltigungsversuch durch Aristaios, Sohn Apollos und der Nymphe Kyrene, als sie fliehen wollte, durch einen Schlangenbiss. Orpheus stieg in die Unterwelt, um seine Ehefrau zurückzuholen und schaffte es tatsächlich den Höllenhund Kerberos zu besänftigen und Hades zu überreden, ihm Eurydike zurückzugeben. Persephone stellte zusammen mit Hades jedoch die Bedingung, dass er sich auf dem Weg nicht nach der hinter ihm gehenden Eurydike umsehen dürfe. Als Orpheus ihre Schritte nicht mehr hören konnte, sah er sich dennoch um und Eurydike musste endgültig im Hades verschwinden. Die meisten Opern halten sich aber nicht daran, dass Orpheus allein zurückbleibt, sondern lassen ihn noch einmal singen und die Götter endgültig bezwingen, so dass sich ein »lieto fine« ein »heiteres Ende« ergibt. Auch bei Gluck ist es so, er war aber selbst damit nicht so ganz zufrieden und sah das Werk mit der großen Arie »Che faró senza Euridice?« für eigentlich abgeschlossen an. Offenbach stellt das Ganze mit seinen Librettisten auf den Kopf und holt die Handlung in seine Gegenwart. Obwohl Eurydike bei ihm nicht einmal im Titel vorkommt, ist sie es, um die sich alles dreht. Sie ist gelangweilt in der Ehe mit dem in sich selbst und seine Attraktivität verliebten Musiklehrer und beginnt eine Affäre mit dem Nachbarn Aristeus. Ob Orpheus die Schlange ausgelegt hat, um seine Gattin loszuwerden oder Aristeus, der in Wahrheit der verkleidete Pluto ist und der Eurydike mit in die Unterwelt nehmen will, ist Gegenstand von Spekulationen. Jedenfalls tut der Tod »gar nicht weh«, und Eurydike ist schnell mit ihrem Aristeus vereint. Die Freude des Orpheus über die Befreiung von der Gattin währt nicht lange, denn die Öffentliche Meinung, eingeführt als Chor der antiken Tragödie, besteht darauf, dass Orpheus alles daran setzt, seine Gattin zurückzubekommen. Das soll er vom Göttervater Jupiter verlangen, den wir im zweiten Akt inmitten aller seiner Götter im verlotterten Olymp erleben dürfen. Als Orpheus im Schlepptau der Öffentlichen Meinung – vor deren Schlagzeilen auch Jupiter zittern muss – auftaucht und Klage gegen Pluto erhebt, den sie der Entführung seiner Gattin bezichtigen, beschließt der Göttervater einen gemeinsamen Ausflug in die Hölle. Dort wird Eurydike von John Styx bewacht, der allerdings nicht rechtzeitig bemerkt, dass Jupiter in Gestalt einer Fliege in das Gefängnis eingedrungen ist. Eurydike verliebt sich in die Fliege wie alle anderen vor ihr, Leda in den Schwan, Europa in den Stier etc. Sie verabreden sich zum großen Fest, bei dem Jupiter sie dann in den Olymp entführen will. Auf diesem Fest tauchen dann wieder Orpheus und die Öffentliche Meinung auf, Orpheus spielt die berühmte Melodie aus der Oper von Gluck und Pluto muss ihm Eurydike zurückgeben. Jupiter sorgt dafür, dass Orpheus sich auf dem Weg zurück auf die Erde umsieht. Der ist glücklich, seine Frau nun endgültig losgeworden zu sein. Pluto und Jupiter verwandeln Eurydike in eine Bacchantin. Die Göttergesellschaft feiert ausgelassen mit den Höllenbewohnern. Happy End.
Offenbach war schon 39 Jahre alt, als er diesen Welterfolg landete (die Mär, dass die Premiere ein Misserfolg gewesen sei und sich der massenweise Besuch erst drei Monate später, nach Erscheinen einer vernichtenden Kritik von Jules Janin, eingestellt habe, ist nicht zu belegen). Was war davor? 1819 in Köln geboren, zog er mit 14 Jahren zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder nach Paris, um dort am Conservatoire sein Cellospiel zu perfektionieren. eigentlich war er zu jung und hatte auch noch eine fremde Nationalität (Köln war seit 1815 wieder preußisch, davor gehörte es zu den linksrheinischen französischen Provinzen). Während zehn Jahre vorher Franz Liszt mit diesen Begründungen noch abgelehnt wurde, wurden Offenbach und sein Bruder nun aufgenommen. Zwei Jahre später schon wurde er Cellist im Orchester der Opéra-Comique. Aus dieser Zeit gibt es zahlreiche Kompositionen für Violoncello, die er für den eigenen Gebrauch verfasste. Eine große Tournee führte ihn 1844 durch England, danach heiratete er und konvertierte dafür als Jude zum Katholizismus. Vor der Revolution 1848 floh er nach Köln, wo er seine erste Operette L'alcôve in einer deutschen Version aufführte (Uraufführung im Vorjahr inder Salle Moreau-Sainti in Paris). Schon 1849 kehrte er wieder an die Opéra-Comique zurück; nach wie vor »nur« als Cellist, einen Kompositionsauftrag erhielt er nicht. Die ersten Bühnenmusiken von ihm erschienen dann an der Comédie-Française 1850, u. a. Schauspielmusiken zu Le barbier de Séville und La folle journée von Beaumarchais. Nachdem 1853 der Einakter Pépito am Théâtre des Variétés herausgekommen war, schlug Offenbachs Stunde 1855 im Zuge der Weltausstellung. Er erhielt eine Lizenz zur Gründung eines eigenen Theaters, in dem er ein ganz eng gezogenes Rerpertoire von musikalischen Unterhaltungen aufführen durfte mit nie mehr als fünf Darstellern auf der Bühne, bei komischen Szenen mit Sängern sogar nur drei. Er eröffnete die Bouffes-Parisiens am 7. Juli nahe dem Eingang zum »Palais industriel« mit einem Prolog und einigen komischen Szenen sowie der einaktigen »bouffonnerie musicale« Les deux aveugles. Zu den ersten Besuchern gehörten selbstverständlich die internationalen Gäste der Weltausstellung, aber auch nachdem diese ihre Pforten geschlossen hatte, produzierte Offenbach eine um die andere dieser typischen »Pariser Operetten«, die aber in den seltensten Fällen so genannt wurden, sondern »bouffonnerie musicale«, wie gehabt, oder »comédie à ariettes«, »pièce d'occasion«, »opéra bouffe«. Zwei Mal griff er sogar auf eine ursprünglich spanische Bezeichnung zurück, »saynète«. Eine der wunderbarsten, Rossinis absurdes Musiktheater noch potenzierenden Operetten, erschien noch im selben Jahr, Ba-ta-clan, eine »chinoiserie musicale«. Nach und nach wurden die Bedingungen gelockert und 1858 konnte Offenbach zum ersten Mal ein abendfüllendes Stück aufführen: Orphée aux enfers, »opéra bouffon«. Die satirischen Operetten Offenbachs wurden zu einem kulturellen Mittelpunkt im »Zweiten Kaiserreich« Napoleon III. 1860 erhielt Offenbach zum ersten Mal die Gelegenheit, für die ersten Opernhäuser der Stadt zu komponieren, das Ballett Le Papillon, choreographiert von Marie Taglioni, kam auf 42 Aufführungen in der Opéra, die »opéra bouffe« Barkouf kam in der Opéra-Comique hingegen nur auf 8 Aufführungen.
La belle Hélène (1864), Barbe-Bleue (1866), La Grande-duchesse de Gérolstein (1867), alle drei im Théâtre des Variétés uraufgeführt, gehen ebenso kritisch mit der Gesellschaft und ihren Herrschenden um wie Orphée aux enfers. 1864 komponierte er auch seine erste große Oper, Die Rheinnixen, deren Uraufführung in Wien allerdings einem Desaster gleichkam. Den 1870/71-Krieg überdauerte Offenbach mit seiner Familie in San Sebastián. Die Rückkehr nach Paris war nicht einfach, wurde er doch einesteils als der Komponist des Second Empire gesehen (obwohl er ja, wie gesehen, mit Napoleon III. immer sehr kritisch umgegangen war) und andernteils war er immer noch Deutscher. Dafür wurde er nun in England zunehmend populär, wo zuerst im Gaiety Theatre mehrere Werke zur Aufführung kamen, ab 1875 dann auch in Richard D'Oyly Cartes Royalty Theatre (der Basis der Gilbert & Sullivan Operetten), beginnend mit La Périchole. Ende 1871 war Offenbach aber schon aus dem freiwilligen Exil zurückgekehrt und bereitete die Aufführung einer schon vor dem Krieg begonnenen »opéra bouffe féerie«, Le roi Carotte mit einem Libretto von Victorien Sardou, im Théâtre de la Gaîeté vor. 1873 stieg er sogar in die Leitung dieses Theaters ein (1862 schon hatte er die Leitung der Bouffes-Parisiens abgegeben) und brachte dort im nächsten Jahr die großformatige Neufassung von Orphée aux enfers, jetzt »opéra féerie«, heraus. Der Erfolg kam dem der ersten Fassung nahe. Die weiteren Operetten, die er dort produzierte, waren leider weit weniger erfolgreich und den Ruin brachte eine viel zu teure Produktion des Schauspiels La haine von Victorien Sardou mit Musik von Offenbach.
1876 wurde Offenbach zur Centennial Exhibition nach Philadelphia eingeladen, wo er ein Sonntagskonzert im Gilmore Garden für 8000 Zuschauer dirigierte. Weil am Sonntag nur geistliche Musik aufgeführt werden durfte, wurden seine Operettennummern kurzerhand für »Litanies«, »Hymnes« oder »Prières« erklärt. Ab 1877 arbeitete er an der Oper Les contes d'Hoffmann, die erst vier Monate nach seinem Tod am 5. Oktober 1880 in der Opéra-Comique zur Uraufführung kam, in einer Fassung, die sicher sehr stark von Offenbachs Vorstellungen abwich.
Wir sehen uns am Mittwoch in der Alten Feuerwache und im Netz (ich habe einen neuen Trick gefunden für die Kameraverbindung)
Herzlich, Ihr Curt A. Roesler
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