Jean-Baptiste Lully, der Schöpfer der »tragédie lyrique«, starb 1687; da war Jean-Philippe Rameau, der nächste berühmte Vertreter dieser Gattung vier Jahre alt. Es muss also etwas dazwischen geben. Die Komponisten, die Opern, geistliche Musik und Kammermusik in den späten Jahren des »Sonnenkönigs« Ludwig XIV. verfassten, nennen die französischen Musikwissenschaftler »Préramistes«, also Vorbereiter des berühmten Rameau. Einer von ihnen, Marc-Antoine Charpentier, ist seit 1954 regelmäßig durch die Fernsehlautsprecher zu hören. Der Beginn seines Tedeum ist nämlich die »Eurovisionsmelodie«. Auch er hat Opern geschrieben (z. B. Médée, die wir hier auch schon gestreift haben im Zusammenhang mit neueren Opern zu diesem Thema von Cherubini und Reimann). Heute aber befassen wir uns mit André Campra, 1660 in Aix-en-Provence geboren, seit 1694 in Paris und seit 1697 an der »Académie royale de musique«, dem königlichen Opernhaus, tätig. Er entwickelte die kurz vorher erstmals (mit zusammengestellter Musik von Lully) ausprobierrte Form des »opéra-ballet« weiter und seine »tragédies lyriques« (darunter Idoménée) haben schon viel von Rameau. Dieser komponierte seine erste Oper mit fast 50 Jahren, 1733, zwei Jahre bevor Campra sein letztes Werk vorlegte. Campra starb 1744 im Alter von 83 Jahren, Rameau wurde 80 Jahre alt.
1699, im Jahr des zweiten großen Bühnenwerks von Campra, veröfffentlichte François Fénélon (1651–1715) Les Aventures de Télémaque (Die Abenteuer des Telemach), seine moderne Nacherzählung des Trojanischen Krieges, der Odyssee. Für mehr als ein Jahrhundert wurde dies die Grundlage der Antikenbetrachtung. Im deutschsprachigen Raum wurde seine Darstellung erst 1838 von Gustav Schabs Die schönsten Sagen des klassischen Altertums abeglöst, die ihrerseits bis über die Mitte des 20. Jahrhnderts hinaus Referenzstatus behielten. In Fénélons Werk spielt Idomeneus, König von Kreta, Sohn des Deukalios und Enkel des Minos, eine große Rolle. Aus der Odyssee wissen wir nicht viel mehr, als dass er mit 80 Schiffen am Trojanischen Krieg teilnahm und nur mit einem einzigen zurückkam. Ein Sturm hatte seine Flotte vernichtet und er konnte sich nur durch den Schwur retten, den ersten Menschen, dem er in seiner Heimat begegnen würde, zu opfern. Das war sein Sohn. Eine äußerst dramatische Geschichte und es ist kein Wunder, dass sie nur sechs Jahre Prosper Jolyot Crébillon (1674–1762) in seinem ersten Bühnenwerk verarbeitete, das am 29. Dezember 1705 in der Comédie-Française zur Aufführung kam und sogleich einen großen Erfolg hatte. (Nur um Missverständnisse zu vermeiden: ein »comédien« ist ein Schauspieler und entsprechend ist die Comédie-Française keineswegs nur dem heteren Genre vorbehalten.) Crébillons »tragédie« – in fünf Akten wie alle Werke dieses Genres seit Corneille und Racine – ist die unmittelbare Vorlage für André Campras »tragédie-lyrique« mit demselben Titel; auch sie umfasst wie die »tragédies-lyriques« seit Lully fünf Akte nebst einem Prolog. Am 12. Januar 1712 kam sie in der Académie Royale de Musique zum ersten Mal zur Aufführung und wurde 1731 in bearbeiteter (erweiterter) Form wiederaufgeführt.
Antoine Danchet (1671–1748), ausgebildet u. a. am Jesuitenkolleg »Louis-le-Grand« in Paris, arbeitete 1700 zum ersten Mal mit Campra zusammen. Die »tragédie lyrique« Hésione war dann der Grund, dass er auf seine Lehrtätigkeit am Jesuitenkolleg verzichten musste, die geistlichen Herren befanden nämlich, dass Tätigkeit am Theater nicht vereinbar damit sei, Jungen zu unterrichten. Als Librettist erlangte er schnell großen Ruhm, er wurde mit Philippe Quinault verglichen, der zusammen mit Lully die »tragédie lyrique« entwickelt hatte. Seine Arbeiten für die Sprechbühne waren demgegenüber weit weniger erfolgreich. 1712, nach dem großen Erfolg mit Idoménée, erhielt er einen Sitz in der Académie Française, den er bis zu seinem Tod innehielt.
Anders als in der »tragédie lyrique« bei Lully und Quinault, wo im Prolog Götter auftreten, die den festlichen Anlass preisen und sich in Anspielungen auf den Auftraggeber (Ludwig XIV.) ergehen ohne direkten Bezug auf die Handlung der Oper selbst, sind in Idoménée Prolog und Oper eng verknüpft. Auch die Divertissements (in jedem Akt gibt es eines, die Nachwirkung kennen wir noch in den opéras des 19. Jahrhunderts, wo der zweite Akt immer eine Balletteinlage haben musste) sind plausibel in den Handungsverlauf eingebunden.
Prolog: Äolus, der Gott der Winde, wird von Venus dazu aufgefordert, die zuerst noch an den Felsen gebundenen Winde loszulassen, damit sie einen Sturm entfachen, um Idomeneo zu vernichten, an dem sie sich für seine Teilnahme am Krieg gegen Troja rächen will. So begegnen wir schon im Prolog einem veritablen Orchestersturm, der dann auch den zweiten Akt einleitet.
1. Akt: Ilione, die Tochter des trojanischen Königs Königs Priamos, wurde schon während des Krieges von Idomeneo umworben. Nach der Niederlage wurde sie zusammen mit weiteren Gefangenen nach Kreta gebracht. Hier verliebte sie sich in Idomeneos Sohn Idamante und traut sich nicht, ihre Liebe einzugestehen. Das Divertissement umfasst nun die Vorführung der gefangenen Trojaner, deren Freilassung durch Idamante und das gemeinsame Fest mit den Kretern. Elektra bezichtigt Idamante der Beleidigung aller Griechen, weil er die Trojaner freiließ. In Wahrheit will sie ihm näherkommen, denn auch sie ist in ihn veroiebt. Arbas berichtet, Idomeneo sei tot, seine Flotte im Sturm untergegangen. Elektras Zorn richtet sich gegen die Liebe Idamantes zu Ilione.
2. Akt: Der Sturm, der sich gegen Idomeneos Flotte richtete, nähert sich der Küste. Neptun gebietet den Winden, sich zurückzuziehen und Idomeneo kann mit seinem Schiff und seinen Kriegern anlanden. Idomeneo jedoch hat, wie er seinem Begleiter Arcas gesteht, ein schreckliches Gelübde getan: er wird den ersten Menschen, dem er in seiner Heimat begegnet, opfern. Der kommt, es ist Idamante; beide erkennen sich nicht; als endlich klar ist, wer wer ist, wundert sich Idamante über die kühlen Erwiderungen seines Vaters. Elektra erhält die Unterstützung von Venus, denn sie fühlt sich von der Liebe zwischen Idamante und Ilione ebenfalls beleidigt. Das den Akt abschließende Divertissement feiert die Göttin, die auch noch die personifizierte Eifersucht auf den Plan ruft.
3. Akt: Idomeneo, der immer noch Ilione heiraten will, fasst den Plan, Idamante mit Elektra nach Griechenland zu schicken. Damit sucht er zwei Probleme gleichzeitig zu lösen. Wenn Idamante fern von Kreta ist, kann er ihm weder die Braut stehlen, noch muss er geopfert werden. Die Auseinandersetzung mit Ilione ist allerdings nicht angenehm, sie sagt ihm auf den Kopf zu, dass er schließlich seinen Sohn opfern wird. Das Divertissement umfasst vor allem die Tänze der Matrosen, die sich auf die Reise nach Griechenland vorbereiten. Die Abreise wird jedoch von Proteus unterbrochen, der ein Meerungeheuer heraufbeschwört und die Abreise verhindert. Idomeneo bietet sich selbst als Opfer an.
4. Akt: Ilione und Idamantes gestehen sich endlich gegenseitig ihre Liebe und sie versichern sich, dass jeder für den anderen sterben würde. Angesichts der sich schon vereinigenden Opferpriester Neptuns schickt Idomeneo Idamante weg. Er versucht im Gebet Neptun von der Forderung nach dem Opfer abzubringen. In der Zwischenzeit besiegt Idamante das Meerungeheuer und kehrt im Triumph zurück. Am Ende des diesen Sieg feiernden Divertissements verkündet Idomeneo seinen neuen Plan: er gibt Ilione und Idamante seinen Segen und verzichtet zu Gunsten seines Sohnes auf den Thron.
5. Akt: Elektra stellt Idamante und macht ihm Vorwürfe, die bis zu Racheschwüren führen. Nun wird aber die Hochzeit vorbereitet und auf Idomeneos Thronverzichtserklärung folgt das obligatorische Divertissement, das von jäh aus der Hölle auffahrenden Rachegöttin Nemesis (von einem Bass gesungen) unterbrochen wird. Idomeneo verliert allmählich den Verstand und tötet seinen Sohn tatsächlich. Er wird daran gehindert, sich selbst auch umzubringen. Ilione verfügt, das seine Strafe sein soll, weiterleben zu müssen, während sie sich auf den Selbstmord vorbereitet.
Wir sehen uns am Mittwoch,
Ihr Curt A. Roesler
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