In nur fünfzig Lebensjahren, also etwa 35 Schaffensjahren hat Kurt Weill (1900–1950) eine große Palette an unterschiedlichsten Musiktheaterwerken herausgebracht. Er hat sich dabei immer direkt an das Publikum gewendet, sah in Schönberg, dessen Kunst er sehr hoch schätzte, in dieser Hinsicht – der Hinsicht der Kompromisslosigkeit gegenüber dem Publikum – einen Fanatiker. Er fing 16-jährig mit einer Oper Zriny an, die aber nicht erhalten ist. Das Drama von Theodor Körner erschien 1812 und war schon im 19. Jahrhundert mehrfach vertont worden, u. a. von einem der wenigen kroatischen Komponisten dieser Epoche, Ivan Zajc. Auch die zweite Oper, Ninon von Lenclos nach dem Drama von Ernst Hardt ist nicht erhalten. Eine Wiener Operette aus dem »goldenen Zeitalter« (Nanon von Richard Genee, 1877) und die französische Operette Ninon von Charles Lecocq (1896) um diese Salondame aus der Zeit Ludwig XIV. werden heute kaum noch gespielt, auch das Weill zugrundeliegende Drama von Ernst Hardt wird höchstens noch als Rarität gehandelt.
Das erste erhaltene Bühnenstück von Kurt Weill ist das Ballett (mit Gesang) Zaubernacht, das am 18. November 1922 im Theater am Kurfürstendamm zur Uraufführung kam. Franz Ludwig Hörth, der als Direktor der Staatsoper Unter den Linden 1925 Wozzeck von Alban Berg und 1927 Weills Royal Palace zur Uraufführung brachte, führte Regie. Weills eigentliches Operndebüt aber ist Der Protagonist, den er 1926 mit Georg Kaiser – seinem bis 1933 wichtigsten Librettisten neben Brecht – auf Grundlage dessen gleichnamigen Stücks von 1920 herausbrachte. Es ist ein Einakter, der in der Handlungsstruktur I pagliacci von Leoncavallo ähnelt, aber in der Zeit Shakespeares angesiedelt ist.
Kurz nach der Uraufführung von Royal Palace nahm Weill Kontakt zu Bertolt Brecht auf, dessen Hörspielfassung von Mann ist Mann ihn tief beeindruckt hatte. Sie schmiedeten sofort Opernpläne und der Mahagonny-Stoff stand von Anfang an im Vordergrund. Als Weill vom Baden-Badener Festival den Auftrag für eine Kammeroper bekam, überredete er Brecht, auf Grundlage seiner Mahagonny-Gesänge in der Hauspostille kurzfristig ein Libretto zu erstellen. So kam es zum Songspiel Mahagonny, das später noch erweitert wurde und auch noch 1963 (also nach dem Tod beider Autoren) Grundlage der Produktion Das kleine Mahagonny am BE war. Das kleine Mahagonny (und damit die einzige authentische Möglichkeit, das Stück mit Schauspielern aufzuführen) darf derzeit, d. h. noch bis zum 1. Januar 2027 nicht szenisch aufgeführt werden. Wenn die Urheberrechte ausgelaufen sind, wird es sicher diese Möglichkeit wieder geben. Eine Schallplatte wurde damals gemacht, und die ist hier bei YouTube zu hören. Zusammen mit Die Prinzessin auf der Erbse von Ernst Toch, L'Enlèvement d'Europe von Darius Milhaud und Hin und zurück von Paul Hindemith am 17. Juli 1927 in der Stadthalle Baden-Baden uraufgeführt, wurde das Songspiel zu einem Riesenerfolg für Brecht und Weill, der allerdings die Gegner von der nationalistischen Front auf den Plan rief, die Weill und Brecht nicht mehr loswurden. Lotte Lenya sang die Partie der hier noch Jessie genannten ersten Prostituierten. Schon im nächsten Jahr nahm sie den »Alabama-Song« auf Schallplatte auf (hier die Originalaufnahme) und führte damit Brecht und Weill in der Unterhaltungsindustrie ein. Lotte Lenya hat den Song noch viele weitere Male aufgenommen und man kann demzufolge viele weitere Aufnahmen im Internet finden.
Die Dreigroschenoper entstand ebenfalls in sehr kurzer Zeit für die Eröffnung des Theaters am Schiffbauerdamm, das der Theaterunternehmer Ernst Josef Aufricht 1928 übernommen hatte. Vorlage war die seit 1920 in London populäre Beggar's Opera, eine Händel-Parodie aus dem 18. Jahrhundert von John Gay und Christopher Pepusch. Die Bearbeitung und Modenrisierung hatte Frederic Austin vorgenommen, Sir Malcolm Sargent spielte sie 1956 für die Schallplatte mit dem Ensemble, mit dem er auch ein ganze Reihe Operetten von Gilbert and Sullivan aufnahm, ein (1. Akt, 2. Akt, 3. Akt). 1948 erstellte Benjamin Britten für den BBC eine eigene Fassung, die 1963 an Covent Garden aufgeführt wurde (1. Akt, 2. Akt, 3. Akt). Zurück in die 20er Jahre: 1925 versuchte der Schott-Verlag Paul Hindemith zu einer Neufassung zu animieren; 1927 begann Elisabeth Hauptmann 1927 mit einer Übersetzung der englischen Neufassung für Brecht. Das Terrain war also gut bereitet für den sich anbahnenden Welterfolg. Wobei es zuerst ein europäischer Erfolg blieb – die Erstaufführung in New York 1933 war nicht sehr erfolgreich.
Für das zweite Jahr bestellte Aufricht noch einmal ein »Schauspiel mit Musik« bei Elisabeth Hauptmann, Bertolt Brecht und Kurt Weill: Happy End, hier wird die Heilsarmee als Armee, die im Grunde auch nichts anderes will als die anderen Armeen, bloßgestellt. In jeder von anderen Aufträgen freien Minute arbeiteten Brecht und Weill jedoch an ihrer Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Nach Happy End gab es noch eine größere Unterbrechung. Im November und Dezember 1929 schrieben Brecht und Weill das Berliner Requiem. »Können einem toten Mann nicht helfen« sollte ursprünglich an dessen Ende stehen. Brecht und Weill entschieden sich dann jedoch, dieses Stück in das Finale ihrer neuen Oper zu setzen.
Für Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny gab es keinen Auftrag. Die Autoren machten sich längere Zeit Hoffnungen, sie könnten die Oper an der berühmten Krolloper in Berlin zur Uraufführung bringen. Otto Klemperer schien auch interessiert, ihm gefiel die Musik. Aber schließlich war ihm die Sache offenbar doch zu heiß. Leipzig war ebenso wie Berlin ein Zentrum für Neue Musik, bis es von den Nazis zerstört wurde. Seit 1924 war dort der sehr progressiv eingestellte Gustav Brecher Generalmusikdirektor, vor Mahagonny brachte er u. a. zwei Opern von Ernst Krenek zur Uraufführung: Jonny spielt auf (1927) und Leben des Orest (1930). Er war ein Mitstreiter Mahlers in Wien gewesen und trieb ganz in dessen Sinn der Leipziger Oper in den 20er Jahren den Schlendrian aus. Sein letztes Dirigat in Leipzig war die von den Nazis schwer gestörte Uraufführung des Silbersee von Georg Kaiser und Kurt Weill. 1940 nahm er sich zusammen mit seiner Frau in Ostende vor den anrückenden Deutschen das Leben.
Die Tumulte bei der Uraufführung ließ einige Theater einknicken und sie sagten die geplante Erstaufführung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wieder ab. Auch Max Reinhardt, der das Werk eigentlich in Berlin bringen wollte, rückte wieder davon ab. So war es noch einmal Ernst Josef Aufricht, der eine Aufführungsserie mit Schauspielern im Theater am Schiffbauerdamm ermöglichte. Für Lotte Lenya, die hier selbstverständlich die Jenny sang wie einst in Baden-Baden komponierte Weill den Havanna-Song nach. Auch sonst ist einiges verändert worden, insbesondere wurde das Orchester stark reduziert.
Eine endgültige Fassung, die Brecht und Weill geplant hatten, kam nicht mehr zustande und auch das Aufführungsmaterial für Mahagonny kam abhanden. Es musste mühsam rekonstruiert werden. Inzwischen gibt es aber eine Fassung, die als authentisch gelten kann und die den meisten Aufführungen zugrundeliegt, auch den beiden von der Komischen Oper, die derzeit auf YouTube zu finden sind, der Inszenierung von Joachim Herz von 1977 und der aktuellen Inszenierung von Barrie Kosky.
Bis Mittwoch, ich freue mich auf Sie,
Curt A. Roesler
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