Wie angekündigt, geht es heute los mit George Enescu (in Frankreich auch Georges Enesco genannt, so wie Christof Prick in den USA Christof Perick genannt wird). Sein bekanntestes Werk ist die Rumänische Rhapsodie Nr. 1, op 11/1. Er hat zwei unter dieser Opuszahl geschrieben, die zweite halten manche für bedeutender, aber sie wird vergleichsweise selten aufgeführt. Sie kennen die Rhapsodie mit Sicherheit; wenn Sie nur schon die ersten Takte hören, werden Sie sich daran erinnern. So klang sie 1994 in der Waldbühne unter der Leitung von Mariss Jansons. Enescu war es nicht angenehm, auf diese Art von Kompositionen eingeengt zu werden, und es ist in der Tat nur eine Seite von Enescu, Œdipe bietet da wesentlich mehr, aber auch die Orchestersuiten, die Sinfonien und die Kammermusik. Seine Reserviertheit diesem eigenen Werk zum Trotz hat er es in seinen letzten Lebensjahren noch dirigiert, wie man hier hören kann. In fast 70 Schaffensjahren (er begann mit fünf Jahren zu komponieren) hat Enescu nur 33 mit Opuszahlen versehene Werke veröffentlicht. Das liegt daran, dass er beileibe nicht nur als Komponist tätig war, sondern ebenso als Geiger, Pianist, Dirigent, Lehrer und Förderer des Musiklebens in seiner Heimat Rumänien.
Enescu wurde 1881 im Nordosten Rumäniens geboren, nahe der Grenze zur heutigen Republik Moldau und der Ukraine, damals zum russischen Zarenreich bzw. zum Habsburgerreich gehörend. Mit vier Jahren begann er Violine zu spielen, noch ohne Noten lesen zu können, was er aber bald lernte. Er war ein Wunderkind, das jedoch nicht ausgenutzt wurde. Das erste öffentliche Konzert, ein Wohltätigkeitskonzert, gab er in Slănic-Moldova (Moldenmarkt), einem rumänischen Kurort zwischen Iași (Jassy) und Brașov (Kronstadt), gab er mit acht Jahren, mit neun kam er an das Wiener Konservatorium, wo er in Violine, Klavier, Kammermusik, Harmonielehre und Komposition unterrichtet wurde. Zu den illustren Lehrern gehörten Joseph Hellmesberger sen. und jun., sowie Robert Fuchs, bei dem auch Korngold, Mahler, Schreker und viele andere berühmte Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts lernten. Mit 13 Jahren zieht Enescu weiter nach Paris, wo er u. a. von Jules Massenet und Ambroise Thomas unterrichtet wird. Auch bei Louis Diémer besucht er Vorlesungen, der bei der Weltausstellung 1889 die Wiederentdeckung der Barockmusik und des Cembalos vorangetrieben hatte – und 1896 zusammen mit Camille Saint-Saëns dessen spaßigen (und historische Musik einbeziehenden) Le Carnaval des animaux zur Uraufführung brachte. Zu dieser Zeit sind Enescus Studienkollegen u. a. Maurice Ravel, Florent Schmitt, Charles Koechlin. Zwei Jahre später hat der sechzehnjährige Komponist zwei bedeutende Uraufführungen, op. 1 und op. 2, ein Poème roumain für Orchester, aufgeführt von Edouard Colonne, und die 1. Violinsonate, Joseph Hellmesberger gewidmet und vom Komponisten zusammen mit Alfred Cortot zur Aufführung gebracht.
1903 entsteht die Suite pour Orchestre No. 1, op. 9, ein ganz außergewöhnliches Werk, dessen ertser Satz von siebeneinhalb Minuten einstimmig von den Violinen ausgeführt wird, hier eine Aufnahme unter der Leitung von Ion Marin. Enescu gründet mehrere Kammerensembles, darunter ein »Quatuor Enesco«. 1908 schreibt er Sept chansons sur des vers de Clément Marot, op 15, eine Aufnahme mit Valentina Nafornita beim Enescu Festival finden Sie hier. Uraufgeführt werden sie bei einem »Enesco Festival« in Paris. Im nächsten Jahr sieht er eine Vorstellung des Œdipe roi von Sophokles im Théâtre-Français mit dem berühmten Jean Mounet-Sully in der Titelpartie. Das Werk ist seit 1881 mit ihm im Repertoire und wurde 1888 auch im antiken Theater in Orange aufgeführt. Am 1. Januar notiert Enescu erste Gedanken zu einer Oper nach diesem Sujet, ohne noch ein Libretto zu haben. Das liefert ihm 1913 Edmond Fleg, der schon für Ernest Bloch einen Macbeth geschrieben hatte.
1912 treibt er Spenden ein für einen rumänischen Nationalpreis für Komposition, der 1913 erstmals ausgetragen wird. Auch sonst setzt er sich immer wieder für das Musikleben in seiner Heimat ein, so dirigiert er 1921 Lohengrin zur Eröffnung einer rumänischen Opernspielzeit in Bukarest.
1921 beginnt die intensivere Arbeit an Œdipe. Er kommt mit Fleg überein, die Geschichte des Helden von seiner Geburt bis zu seinem Tod einzubeziehen. Schon 1922 spielt er das ganze Werk im Salon der Prinzessin Maria Cantacuzino in Bukarest vor. Die Witwe des rumänischen Politikers aus altem Adel, der mehrfach Ministerpräsident war, war die große Liebe Enescus. Er heiratete sie jedoch erst nach der Uraufführung der Oper. Der 1909 gebaute Palast der Cantacuzinos beherbergt heute eines der wichtigsten Enescu-Museen in Rumänien. 1924 und 1925 werden im Konzert instrumentale Ausschnitte aus der Oper gespielt, endgültig abgeschlossen ist die Komposition jedoch erst mit der Korrektur der Druckabzüge 1933. Am 13. März 1936 kommt es zur Uraufführung an der Pariser Opéra. Schaljapin, den sich Enescu für die Titelpartie gewünscht hatte, hatte die Partie wohl abgelehnt, es sang André Pernet, der seinerseits 1931 in einer Schaljapin-Rolle an der Opéra-Comique Triumphe gefeierte hatte, als Don Quichotte.
Die Uraufführung war ein einhelliger Erfolg bei Publikum und Fachpresse und dennoch verschwand das Werk vom Repertoire der Opéra 1937 und erklang erst 1963 wieder – bei einem Gastspiel der Nationaloper von Bukarest, die das Werk seit 1958 im Repertoire hatte und in mehreren europäischen Musikzentren zur Aufführung brachte. Eine Schallplattenaufnahme davon wurde von Electrocord veröffenticht und war lange Zeit die einzige Aufnahme des Werkes. Hier ist sie zu finden mit Klavierauszug (der Klavierauszug ist in Französisch und mit Anmerkungen, die Aufnahme ist in Rumänisch). Es ist nicht wirklich zu verstehen, weshalb das Werk bis heute nur selten zur Aufführung kommt (fast dreißig Jahre sind seit der letzten Berliner Permiere vergangen).
Kurz nach dem Tod Enescus 1955 veranstaltete der Französische Rundfunk eine konzertante Aufführung mit Xavier Depraz als Œdipe (mit dem Enescu auch selbst an der Partie gearbeitet hatte) und unter der Leitung von Charles Brück, die in regelmäßigen Abständen gesendet wurde. Ich habe sie etwa 1970 auf meinem Revox-Tonbandgerät mitgeschnitten und war sofort fasziniert von dem Werk. Heute kann man auch diese Aufnahme bei YouTube hören, allerdings muss man sich die Tracks zusammensuchen. Da es auch eine CD davon gibt, findet man die Aufnahme selbstverständlich auch bei Spotify & Co.
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