Am letzten Mittwoch kam die Frage auf, ob es von Beethoven auch Orgelmusik gebe. Meine Antwort war nicht falsch, aber nicht sehr ausführlich. Das sei hier nachgeholt: richtig erinnerte ich mich an die Stücke für eine Flötenuhr. Für die mechanische Orgel in einer Uhr im Wachsfigurenkabinett des Grafen Deym in Wien haben auch Mozart und Haydn geschrieben. Diese Stücke kann man auf jeder Pfeifenorgel spielen und erzielt damit einen ähnlichen Effekt wie im Wachsfigurenkabinett. Zwei Hände reichen allerdings nicht aus, wie deutlich zu sehen ist bei dieser Aufnahme aus dem Freiburger Münster. Kirchenmusik ist das aber nicht. Nachdem Deyms Sammlung 1819 aufgelöst worden war, gerieten die Stücke für die Flötenuhr in Vergessenheit. Erst ab 1902 wurden sie ediert und zwar in verschiedenen Berbeitungen, etwa für Cello und Klavier oder für Flöte und Klavier (auch die Flötisten haben nicht viel von Beethoven, was sie spielen können). Ebenfalls für ein mechanisches Musikinstrument komponiert ist Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria, darüber und über den Automatenbauer Mälzel haben wir im Beethovenkurs geredet. Warum eigentlich ist noch niemand auf die Idee gekommen, diese Komposition auf der Mighty Wurlitzer zu spielen? Oder habe ich es nur nicht mitbekommen? Auf diesem Radiosender kann man 24 Stunden am Tag Kinoorgeln hören, vielleicht kommt das Stück einmal vor, aber Vorsicht, das ist nicht Musik, mit der wir uns normalerweie befassen! Dass es auch irgend etwas gebe, das von Beethoven original für Orgel komponiert wurde, vermutete ich, aber Genaues wusste ich eben spontan nicht. Es ist tatsächlich nur eine einzige Komposition, nämlich die zweite, die von ihm überhaupt überliefert ist. Und Bach ist das klare Vorbild dieser zweistimmigen Fuge, womit wir endlich zum Thema kommen.
Am 22. Mai 1723 (am Samstag sind das genau 298 Jahre) kam Bach mit seiner Familie und vier Wagen Hausrat aus Köthen in Leipzig an. Am Sonntag in der Woche darauf wurde er in sein Amt als Thomaskantor eingeführt, nicht in der Thomaskirche, sondern in der Nikolaikirche, für die der Thomaskantor auch zuständig war und die abwechselnd mit Kantaten bedient wurde. Nach Kirchenzählung war das der erste Sonnatg nach Trinitatis und Bach wartete mit einer vollständig neuen Komposition auf. Die Kantate BWV 75 Die Elenden sollen essen ist ein Muster für den ersten Kantatenjahrgang Bachs. Der Text aus Bibelwort, Dichtung eines unbekannten Autors und Choral zusammengestellt. Er bereitet die vorgegebenen Lesungen aus Epistel und Evangelium zu einem musikalischen Drama auf, das keine Szene braucht und dennoch das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus (den Evangelientext) plastisch vor Augen führt. Die außergewöhnliche Trompetenpartie (melodisch, nicht schmetternd) im zweiten Teil ist für den Senior Stadtmusicus Gottfried Reiche komponiert. Die Choralfantasie Was Gott tut das ist wohlgetan, die den ersten wie den zweiten Teil beschließt, wird er später in einer Choralkantate wiederverwenden. Die zwei Teile wurden von und nach der Predigt vorgetragen, deswegen leitet eine Sinfonia den zweiten Teil ein, es sollte nicht auf das Wort des Pastors gleich wieder gesungener Text folgen.
Eine Woche später dann die erste Komposition des Jahrgangs für die Thomaskirche, BWV 76 Die Himmel erzählen die Ehre Gottes. Am zweiten Sonntag nach Trinitatis kündet die Evangelienlesung vom Gleichnis vom großen Abendmahl – die Einladung Gottes, sich zu ihm zu bekennen. Auch hier zeigt sich in der Textauswahl aus Psalmtexten und anonymen Dichtungen die theologische Versiertheit Bachs (er musste ja auch eine theologische Prüfung bestehen, ehe er das Amt antreten konnte). Formal ist die Kantate wie ein Zwilling der ersten, die gleiche Anzahl von musikalischen Nummern in der gleichen Abfolge. Ein kleiner Unterschied besteht darin, dass die Trompete hier vorwiegend im ersten Teil eingesetzt wird und dass der abschließende Choral (hier Es wolle Gott uns gnädig sein) zwei verschiedene Strophen verwendet.
Am dritten Dienst-Sonntag in Leipzig, jetzt wieder in dern Nikolaikirche, brachte Bach eine schon bewährte Kantate zur Aufführung, BWV 21 Ich hatte viel Bekümmernis. Geschireben hatte er sie gewiss schon in Weimar und möglicherweise hatte er sie auch nach Hamburg mitgenommen, als er sich dort um das Organistenamt an St. Jacobi bewarb. Warum sonst sollte Mattheson sie gekannt haben, der sie kritisierte – sie war ja nicht gedruckt worden. Die Kritik betraf Wortwiederholungen, die angeblich der Rhetorik widersprachen, und das von einem Opernkomponisten wie Mattheson, wo doch Opern in jener Zeit nur aus Wortwiederholungen bestanden. Die Wortwiederholung am Anfang auf jeden Fall macht den besonderen Reiz des Werkes aus und ersetzt auch wieder viele Worte einer Predigt: Indem er ein dreifaches »Ich« vor »Ich hatte viel Bekümmernis« setzt, weist er auf die menschliche Egozentrik hin, die selbst dann dazwischenfunkt, wenn eigentlich Demut angesagt ist. Zufälligerweise ist auch diese Kantate zweiteilig, sie konnte also die Predigt umrahmen, allerdings hat hier der erste Teil eine Sinfonia (ein ergreifendes langsames Oboenkonzert) und der zweite beginnt gleich mit einem Rezitativ, einem Dialog zwischen Jesus und der Seele.
Am 11. Juni 1724 leitete Bach seinen zweiten Kantatenjahrgang ein, den man als Jahrgang der Choralkantaten bezeichnet. Textgrundlage sind jeweils mehrere Strophen mehr oder weniger bekannter Choräle, die nicht immer wörtlich übernommen, sondern paraphrasiert werden, wer diese Umdichtungen vorgenommen hat, ist wiederum unbekannt. Das Kirchenlied O Ewigkeit Du Donnerwort nimmt nur in heute kaum noch geläufigen Strophen (es waren in den Gesangbüchern damals deren 16 gedruckt) auf das Gleichnis von Lazarus bezug, es passt auch zum 24. Sonntag nach Trinitatis und war schon im ersten Kantatenjahrgang titelgebend verarbeitet worden. Es gibt also zwei Kantaten mit diesem Titel, hier ist die Rede von der Choralkantate BWV 20, die frühere trägt die Nummer BWV 60. Der Erste Satz von BWV 20 hat die Form einer Französischen Ouvertüre mit langsamer Einleitung und fugiertem Hauptteil (Sie alle kennen eine typische Französische Ouvertüre, nämlich die zur Zauberflöte von Mozart). Die Textausdeutung in dieser Kantate ist bemerkenswert, für »Ewigkeit« stehen lange Notenwerte, für »Donnerwort« kommen plötzlich kurze Notenwerte dazu, »Traurigkeit« wird von chromatisch absteigenden Linien begleitet usw.
Während die ersten beiden Kantatenjahrgänge einigermaßen klar auf 1723/24 und 1724/25 zu datieren sind, ist der dritte Jahrgang aus Carl Philipp Emanuels Nachlass nicht mehr eine Folge von innerhalb eines einzigen Jahres komponierten Kantaten, die Entstehung zieht sich über zwei Jahre, innerhalb derer es (in der Fastenzeit 1726) auch eine Phase gab, wo Bach keine eigenen, sondern Kantaten seines Vetters Johann Ludwig Bach aufführte. Über BWV 15 haben wir schon am ersten Abend gesprochen. Charakteristisch für den musikalischen Aufbau im dritten Jahrgang ist die Verwendung von Instrumentalkonzerten, sowohl als Sinfonien, also instrumentale Einleitungsstücke, als auch als Umarbeitungen zu Chorsätzen. Ob BWV 146 Wir müssen durch viel Trübsal schon am Sonntag Jubilate 1726 oder erst in einem der beiden folgenden Jahre zur Uraufführung kam, ist nicht genau bekannt. Wenn Sie sie anspielen (Link in der VHS-Cloud) kommt Ihnen die Musik sofort sehr bekannt vor. Sie erkennen den ersten Satz des »Klavierkonzerts d-Moll« und wenn Sie ganz genau hinhören auch noch den zweiten. Das Orgelkonzert der Sinfonia von BWV 146 und das Cembalokonzert BWV 1052 haben eine gemeinsame verlorene Vorlage, ein Violinkonzert in d-Moll.
Der vierte Jahrgang ist nur unvollständig erhalten. Seine Gemeinsamkeit sind die Texte von Picander (Christian Friedrich Henrici, 1700–1764), einem Leipziger Gelehrten und Beamten, mit dem Bach seit 1723 zusammenarbeitete. Das Veröffentlichungsdatum der Texte von Picander fällt mit dem Beginn des sechsten Arbeitsjahres Bachs in Leipzig (1. Sonntag nach Trinitatis 1728) zusammen, jedoch ist keine Kantate auf diesen Sonntag mit Text von Picander erhalten. Dafür gibt es schon im ersten Jahrgang eine Kantate, die eine Frühform eines Textes von Picander verwendet, BWV 148 Bringet dem Herrn Ehre seines Namens für den 17. Sonnatg nach Trinitatis.
Im fünften Jahrgang finden wir vor allem Werke, die nachkomponiert wurden. Wenn Feiertage wie Johannisfest, Michaelisfest etc. auf Sonntage fielen, dann gibt es im entsprechenden Jahrgang natürlich nur eine Kantate für den Feiertag und so muss für spätere Aufführungszyklen etwas nachkomponiert werden. Einen 27. Sonntag nach Trinitatis gibt es nur in Jahren, in denen Ostern vor dem 27. März liegt. Das war zu Bachs Lebzeiten nur fünf Mal der Fall. Das erste Mal in seiner Leipziger Zeit 1731. Und für diesen Tag, den 25. November 1731, hat Bach eine besonders schöne Choralkantate geschrieben, BWV 140 Wachet auf ruft uns die Stimme. Den vierten Satz davon hat er später für Orgel bearbeitet, als ersten der 6 Choräle verschiedener Art, die von Schübler veröffenticht wurden.
Ein besonderes Kapitel sind die Passionen. In der Linkliste in der VHS-Cloud ist dazu einiges zu finden. Bach musste seine erste Passion wohl oder übel für die Nikolaikirche schreiben; er hat die Obrigkeit ordentich genervt mit Eingaben dazu. 1724 also kam die 1. Fassung der Johannespassion zur Uraufführung, die gleiche Passion wurde im Folgejahr in der Thomaskirche aufgeführt, seltsamerweise mit ausgetauschtem Eingangschor. Statt der kraftvollen Gottesanrufung »Herr unser Herrscher, dessen Ruhm / in allen Landen herrlich ist. / Zeig uns durch deine Passion, / dass du, der wahre Gottessohn, / zu aller Zeit, / auch in der größten Niedrigkeit, / verherrlicht worden bist.« beginnt sie nun mit der lyrischen Choralbearbeitung »O Mensch bewein dein Sünde groß.« Bach hat jedoch lange an seinen Passionen gefeilt, der Anfangschor kam später wieder zurück und die Choralbearbeitung fand ihren Platz in der Mattäuspassion als Abschluss des ersten Teils. Ob am Karfreitag 1727 in der Thomaskirche eine Frühfassung der Matthäuspassion erklang, ist nach wie vor nicht gesichert. Auf jeden Fall ist sie (die in ihrer Doppelchörigkeit nur sinnvoll in der Thomaskirche aufzuführen war) 1729 aufgeführt worden. – Laut 1754 veröffentlichtem Nekrolog hat Bach fünf Passionen geschrieben. Damit müssen natürlich nicht nur in Leipzig geschriebene Werke gemeint sein; für Leipzig gibt es nur Hinweise auf vier Passionen außer den beiden heute noch bekannten, eine Markuspassion von 1731, die verschollen ist bis auf die Sätze, die Bach früheren Kantaten entlehnte, und eine 1730 aufgeführte Lukaspassion, die jedoch hauptsächlich aus musikalischen Sätzen anderer Komponisten stammt. Die fünfte Passion könnte eine Reinhard Keiser zugeschriebene Markuspassion von 1705 sein, die Bach 1712 in Weimr aufgeführt hat.
Das Collegium Musicum war ein 1702 von Georg Philipp Telemann gegründetes Leipziger Studentrenorchester. 1729 übernahm Bach dessen Leitung. Das Orchester begleitete auch Kantatengottesdienste, aber hauptsächlich trat es seit 1723 im Zimmermannschen Kaffeehaus auf. Für eine Aufführung dort schrieb Bach 1734 die »Kaffee-Kantate« BWV 211 Schweigt stille, plaudert nicht. Nur ein Jahr nachdem La serva padrona von Pergolesi in Neapel zur Uraufführung gekommen war, schreibt Bach hier ein deutsches Intermezzo. Von Pergolesis Werk hatte Bach vermutlich keine Kenntnis, es wurde erst 1740 in Dresden aufgeführt, wo Bach gelegentlich die Oper besuchte. Instrumentalwerke von Pergolesi kannte er möglicherweise und auf jeden Fall das Stabat mater, das er 1747 bearbeitete. Hauptsächlich schrieb Bach aber für das Collegium Musicum Instrumentalwerke, etwa die Cembalokonzerte, die vorwiegend Umarbeitungen älterer Konzerte für Violine oder andere Soloinstrumente sind. Viele von diesen Konzerten fanden auch Eingang in Kantaten wie oben erläutert.
In der Leipziger Zeit sind die einzigen Drucke von Werken Bachs zu seinen Lebzeiten erschienen, wenn man von den am Zweiten Abend erwähnten Ratswahlkantaten aus Mühlhausen absieht. Und zwar sind das
- Vier Teile der Clavier-Übung, deren ersten beiden Teile (Sechs Partiten bzw. Italienisches Konzert und Französische Ouvertüre) für das Cembalo geschrieben wurden, selbstverständlich aber auch auf einem Clavichord oder einem Orgelpositiv gespielt werden können. Der dritte Teil ist ein Orgelwerk (21 Choralvorspiele mit Präludium und Fuge sowie Vier Duette – diese auch für das Cembalo geeignet) und der vierte Teil ist für zweimanualiges Cembalo geschrieben (die Goldberg-Variationen)
- Sechs Choräle von verschiedener Art, die »Schübler-Choräle«, Bearbeitungen von Kantatensätzen
- Musicalisches Opfer Sr. Königlichen Majestät in Preußen &c. alleruntertänigst gewidmet von Johann Sebastian Bach; über das von Friedrich II. vorgegebene Thema hatte Bach bereits in Potsdam improvisiert
Posthum erst erschien Bachs »Opus summum«, Die Kunst der Fuge
Damit endet der dritte Abend mit Bach und leitet über zum vierten, der sich mit Bachs Nachwelt beschäftigt.
Nun freue ich mich auf Mittwoch; die Linkiste auf der VHS-Cloud ist im Moment noch nicht fertig, das wird aber noch.
Bleiben Sie gesund,
Ihr Curt A. Roesler
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