Montag, 31. Mai 2021

Bach in der Gegenwart

Nachdem wir am letzten Mittwoch unter anderem über die Bach-Renaissance im 19. Jahrhndert – speziell die Wiederaufführungen der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 und 1841 – gesprochen haben, fahren wir jetzt mit der Verwendung von Bachs Musik im zwanzigsten Jahrhundert fort.

Natürlich ist Johann Sebastian Bach nicht der einzige, der Fugen und Kanons geschrieben hat, und seine Kunst der Fuge ist auch nicht das einzige praktische Lehrbuch des Kontrapunkts, also der Lehre von einer Vielstimmigkeit, in der jede Stimme gleich viel zählt. Johann Joseph Fux (1660–1741) wäre da in erster Linie zu nennen, der 1725 ein förmliches Lehrbuch des Kontrapunkts veröffentlicht hat unter dem Titel Gradus ad Parnassum, also etwa »Der Weg in den Himmel der Musen«. Aber auch Giovanni Pierluigi Palestrina (1525–1594), der in einer Phase der Musikgeschichte, wo die Polyphonie, deren komplizierteste Ausprägung Kanons und Fugen sind, von verschiedenen Seiten unter Druck war, für die Kirchenmusik »gerettet« hat. Nicht erst bei Bachs Tod, sondern schon gegen Ende des 16. Jahrhuderts galt die Polyphonie nämlich als altmodisch und sie stand in der Vokalmusik wegen des unablässigen Durcheinanders der Stimmen der Textverständlichkeit entgegen. Aus diesem Grund wollte sie der Papst auf dem Tridentinischen Konzil verbieten. Palestrina schrieb – so die Legende – eine Messe für den Papst, die Missa Papae Marcelli, die das Unheil noch einmal abwenden konnte. Davon handelt eine ganze Oper, Palestrina von Hans Pfitzner. (Nur zur Klarstellung: Marcellus II. spielte übnerhaupt keine Rolle auf dem Tridentinischen Konzil, denn er war 1555 überhaupt nur drei Wochen im Amt. Das ist auch den Verbreitern der Legende bewusst, deswegen schreiben sie die »Rettung der Kirchenmusik« dem Mailänder Erzbischof und Kardinal Carlo Borromeo zu. Das Konzil von Trient, das von 1545 bis 1563 tagte, hat überhaupt nichts zu Kirchenmusik beschlossen, das einzige, was damit in Zusammenhang zu bringen ist, ist eine Neufassung des Missale romanum 1570, also im Nachgang des Konzils.) Dennoch ist Palestina zwar bis heute Lehrstoff in jedem Kontrapunkt-Unterricht, aber wann immer man eine Fuge hört, bei Mozart, bei Beethoven, bei Brahms, bei Schumann, bei Wagner oder bei Verdi, denkt man zuerst an Bach. Und gerade Verdi, der bei seinen musikpädagogischen Überlegungen im Sinne der zu schaffenden italienischen Einheit immer den italienischen Beitrag zur Polyphonie durch Palestrina betont, steht mit seiner Schlussfuge im Falstaff Bach genauso nah wie Wagner in seiner Prügelfuge in Die Meistersinger von Nürnberg.

Bach ist allgegenwärtig auch in der Musik des 20. Jahrhunderts. Alban Berg verwendet einen Choral von Bach in seinem Violinkonzert, Bernd Alois Zimmermann zitiert in vielen seiner Werke Bach, auch in der Oper Die Soldaten, Mauricio Kagel gar schreibt zum dreihundertsten Geburtstag eine Sankt-Bach-Passion. Wir picken uns stellvertretend drei Verwendungen von Bachs Musik aus den 20er und 50er Jahren heraus. Paul Hindemith, Igor Strawinsky und Jacques Loussier haben sich auf  ganz unterschiedliche Weise mit Bach auseinandergesetzt. 

Der Ludus Tonalis von Paul Hindemith (1895–1963) ist ein Klavierwerk, das ganz unverhohlen das Wohltemperierte Klavier nachahmt, aber in vielen anderen Werken zeigt er seine Verbundenheit mit dem großen Kontrapunktiker Bach. Selbst in einem Werk der wilden 20er Jahre, das zu seinen Experimenten mit Formen der Populärmusik gehört und lange in den Archiven schummerte: Ragtime (wohltemperiert). Die Fassung für Klavier zu vier Händen wurde zweifellos schon bald nach der Komposition 1921 aufgeführt, aber die Orchesterfassung musste bis 1987 warten. »Wohltemperiert« ist der Ragtime – eine Vorform des amerikanischen Jazz –, weil sich Hindemith dafür das musikaische Thema aus der c-Moll-Fuge des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers herausgesucht hat. 

Auch Igor Strawinsky (1882–1971) hat sich schon in den 20er Jahren mit Barockmusik befasst. Besonders berühmt ist seine Verwendung von Musik von Giovanni Battisa Pergolesi (1710–1736) im Ballett Pulcinella, von dem es auch eine Orchestersuite und kammermusikalische Fassungern gibt. Auf die Choralvariationen Bachs aus der Mizlerschen Zeitschrift (wir sprachen bereits mehrfach darüber) stieß er in den 50er Jahren in New York. Er setzte sie für Chor und ein gan spezielles Orchester ohne Violinen als J. S. Bach: Choral-Variationen über das Weihnachtslied »Vom Himmel hoch da komm' ich her«. Dem Chor übertrug er dabei den »cantus firmus« und dem Ganzen setzte er einen Choralsatz im Stil Bachs für Blechbläser voraus (in der Partitur steht, dass er aus dem Weinachtsoratorium sei, da kann ich ihn aber nicht finden).

Jacques Loussier (1934–2019) gründete sein Trio Play Bach 1959, löste es 1978 auf, als er sich anderen musikalischen Aufgaben (und dem Weinbau) widmete, und gründete es 1985 erneut. Regelhaftigkeit und Improvisation spielen im Jazz eine genauso große Rolle wie beim Komponieren Bachs, was durch die Bearbeitungen Loussiers besonders anschaulich wird. Zu Beginn standen seine Interpretationen aber der aktuellen Auseinandersetzung mit Bach noch diametral entgegen, erst nach und nach verstanden auch die klassischen Interpreten, dass man davon lernen kann.

Im zweiten Teil des Abends widmen wir uns dann ausführlich mit Klangbeispielen den heutigen Aufführungspraktiken, dazu schaffe ich vielleicht morgen noch einen kurzen Post, was ich aber nicht versprechen kann.

Dann also bis spätestens Mittwoch,

Ihr Curt A. Roesler

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