Montag, 22. März 2021

Der »Kammerton A«

Vor dem Konzert bzw. vor der Opernvorstellung müssen die Musiker ihre Instrumente aufeinander abstimmen. Wenn die Streicher einen in der Partitur vorgeschriebenen Ton spielen, muss der exakt die gleiche Tonhöhe haben, wie wenn er von den Bläsern gespielt wird, sonst droht Katzenmusik. Es wird daher am Anfang »gestimmt« und, weil die Instrumente sich durch die Benutzung wieder verstimmen können (Streichinstrumente tendenziell nach unten, Blasinstrumente tendenziell nach oben, wobei die Streicher das leichter mit ihrer linken Hand ausgleichen können), wird das Prozedere an geeigneten Stellen des Konzerts bzw. der Vorstellung wiederholt. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich ein Verfahren herausgebildet, bei dem zunächst die Oboe ein A spielt, das der Konzertmeister auf sein Instrument übernimmt; danach sorgt er dafür, dass alle Instrumentengruppen das gleiche A haben. Dass es die Oboe ist, könnte damit zusammenhängen, dass das Instrument mancherorts ohne Vibrato gespielt wird, der Ton also ganz »gerade« herauskommt. Interessanterweise wird seit 1983 gerade in Wien, wo der vibratolose Oboenton so eine entscheidende Rolle spielt, wie wir das letzte Mal gesehen haben, zur Absicherung der Frequenz auch noch ein elektronisches Instrument eingesetzt.

Leonhard Euler verdanken wir nicht nur die Schulmathematik, sondern auch ein Berechnungsverfahren, um die Tonhöhe in Schwingungen darzustellen. Er kam für den »Cammer-Ton a« auf den Betrag von 392 von dem, was wir seit 1930 Hertz nennen. Das ist deutlich weniger als die 440 Hertz, auf die sich eine internationale Konferenz 1939 in London geeinigt hat und auf die seither die Stimmgabeln norniert sind. In früheren Jahrhunderten unterschied man auch zwischen Kirchen- oder Orgelton und Kammerton; und es gab auch noch den Cornett-Ton und den Opernton. Alle unterschieden sich und wurden auch regional verschieden angewendet. In Frankreich versuchte man zuerst, eine allgemein gültige Tonhöhe festzulegen, 1788 einigte man sich auf eine »Pariser Stimmung« bei 409 Schwingungen, 1858 fand man das offenbar schon viel zu tief und setzte 435 in ein Gesetz, was später verschiedene Staaten mit übernahmen und was sogar in den Versailler Vertrag kam.

Der Orgelton wie auch der Kornett-Ton waren höher als der Kammerton, aber auch das konnte von Region zu Region unterschiedlich sein. Im Falle von Bach aber ist klar, dass die Orgel in der Regel um einen ganzen Ton höher gestimmt war als die Instrumente, die man zuhause spielte. Das kann man etwa daran sehen, dass er, wenn er ein Kammermusikwerk in der Kirche wiederverwenden wollte, er es um einen Ganzton nach unten setzte, damit es wieder so klang, wie er es sich vorgestellt hatte. Nehmen wir den ersten Satz der Partita für Violine solo in E-Dur, die er als Einleitung der Ratswahl-Kantate BWV 29 bearbeitete: hier ist sie in D-Dur notiert. (Das ist ein kleiner Spoiler zum Bach-Kurs im Mai.)

Tendenziell ist über die Jahrhunderte ein Ansteigen des Kammertons festzustellen, wenn es auch zunächst überhaupt einer Einigung bedurfte, weil in jeder Region anders gestimmt wurde. Die Stimmung hat auf jeden Fall auch einen großen Einfluss darauf, wie ein Orchester klingt. Wien wurde den Ruf nie ganz los, die Stimmung besonders in die Höhe zu treiben; Sänger beklagten sich, dass es deswegen besonders anstrengend sei, in der Wiener Staatsoper aufzutreten. Vergleiche von Aufnahmen zeigen allerdings, dass alles halb so wild ist. Es handelt sich nur um Bruchteile von einem Ganzton, um die das »hohe C« in Wien allenfalls höher liegt, als in New York oder in Berlin. Aus Guillaume Tell mit den vielen C's wird also nicht La fille du régiment mit den vielen D's, nur weil man den Nachtzug von Paris nach Wien genommen hat. Etwas mehr Brillanz erreicht man vielleicht durch eine höhere Stimmung, wie man vielleicht einen etwas runderen Ton erreicht durch Nachlassen. Aber wie auch immer, die verwendete Stimmung ist nur ein Faktor unter vielen, aus denen sich der Orchesterklang zusammensetzt.

Am Mittwoch  hören wir uns zusammen Musik von Scarlatti, Schubert, Bach, Strauß und Gounod an, gespielt von Sängern und Instrumentalisten aus Lugano, München, Berlin, Wien, Köln etc. Bleiuben Sie gesund! Bisa dann,

Ihr Curt A. Roesler

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