Ebenfalls zum hundertjährigen Jubiläum brachte Arthaus-Musik 2012 eine zweite DVD-Box heraus mit Aufnahmen von 1974 bis 1987. Darunter sind zwei Uraufführungen (Die Gespenstersonate von Aribert Reimann und Oedipus von Wolfgang Rihm), eine Neuinszenierung einer älteren Uraufführung (Preußisches Märchen von Boris Blacher) und zwei Wiederentdeckungen (Montezuma von Carl heinrich Graun und Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold). Sie bilden den programmatischen Kern des Charlottenburger Opernhauses ab, der sich über dieses ganze Jahrhundert unabhängig von den sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen erhalten hat: Immer auf der Suchen nach Neuem. Gerade die ersten 20 Jahre, also bis 1933, waren stark von Ur- und Erstaufführungen bestimmt. Unter den Aufsichtsratsmitgliedern der das Geschäft betreibenden Aktiengesellschaft befanden sich Komponisten wie Engelbert Humperdinck, Philipp Scharwenka und Viktor von Woikowsky-Biedau. Heute würde wahrscheinlich irgendeine »Bühnen-Watch« genau darauf achten, dass dann nicht etwa Werke von diesen Herren gespielt werden, denn das wäre ja Korruption. Damals aber wurde gegenüber den Aktionären gerade betont, dass man stolz sei, unter den Aufsichtsratmitgiedern Komponisten zu haben, denn man könne dann deren Werke spielen, ohne Tantiemen bezahlen zu müssen. Ob das wirklich geklappt hat (von Humperdinck wurden Die Marketenderin und später, als er nicht mehr im Aufsichtsrat war, Die Königskinder gespielt, von Woikowsky-Biedau Das Nothemd), müsste noch untersucht werden.
Fast jedes Jahr kam in der ersten Phase, bis 1925, eine Oper, einmal auch ein Ballett zur Uraufführung. Die meisten Komponisten sind heute unbekannt oder, wie Ignatz Waghalter und Felix Weingartner, allenfalls als Dirigenten etwa durch Schallplatenaufnahmen noch präsent. Der enzige, von dem gelegentlich wenigstens noch eine Ouvertüre gespielt wird, ist Emil Nikolaus von Reznicek. Man kennt also den Titel Donna Diana, und assoziiert einen Komponisten für das heitere Musiktheater mit Stoffen aus dem 18. Jahrhundert. Doch am Deutschen Opernhaus kam 1923 Holofernes, eine musikalische Tragödie nach Hebbel, zur Uraufführung. 20 Aufführungen gab es noch bis Ende 1926, dann gab es 1990 eine »Oper am Klavier« im Orchester-Probensaal mit ausgedehnten Ausschnitten (ohne Chor) und eine szenische Aufführung erst wieder 2016 in Bonn. Der dortige Operndirektor, Andreas K. W. Meyer war 2004–2012 Chefdramaturg an der Deutschen Oper Berlin und sich hier sehr um die Wiederentdeckung von Vergessenem verdient machte.
Besonders viele Novitäten jedoch wurden ab 1925 gespielt, als sich das Deutsche Opernhaus mit Bruno Walter an der Spitze in direkter Konkurrenz mit der »Krolloper« von Otto Klemperer befand. Carl Ebert knüpfte in seiner kurzen ersten Intendanz daran an und brachte etwa Kurt Weills Bürgschaft zur Uraufführung und plante für seine zweite Spielzeit Oberst Chabert von Hermann von Waltershausen, was die Nazis, die ihn aus dem Amt warfen schlicht vergaßen, abzusetzen, weswegen es zu immerhin fünf Aufführungen im März und April 1933 kam. Die Deutsche Oper Berlin brachte das Werk 2010 konzertant zur Aufführung und 2018 kam es in Bonn auch szenisch heraus. Eine Novität war es allerdings schon 1933 nicht, sondern eine Wiederentdeckung (ohne Folgen), denn die Uraufführung war 1912 in Frankfurt. Das französische Sujet und die mit der Marseillaise vielfach spielende Musik waren mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs schlagartig von den deutschen Bühnen verschwunden. Und auch jetzt war eine nachhaltige Wirkung ausgeschlossen.
Ignatz Waghalter, der einflussreiche musikalische Leiter der ersten Jahre, konnte drei seiner Opern zur Uraufführung bringen, Mandragola, eine Komödie nach Macchiavelli noch kurz vor dem 1. Weltkrieg im Januar 1914, Jugend, ein naturalistisches Drama nach Max Halbe mitten im Krieg 1917 und 1923, als sich die Aktiengesellschaft schon in schwerer Krise befand, Sataniel, ein polnisches Märchen mit komischen und Grusel-Elementen.
Dame Kobold von Felix Weingartner nach Calderons Lustspiel hatte 1914 mit 8 Aufführungen ebensowenig ein langes Leben wie die anderen Uraufführungen: Wieland der Schmied von Kurt Hösel (1913, 5 Aufführungen), Die Hügelmühle von Friedrich E. Koch (1918, 9 Aufführungen), Der Herbststurm von Franz Neumann (1919, 11 Aufführungen), Magdalena von Fritz Koenneke (1919, 5 Aufführungen) und Das Hofkonzert von Paul Scheinpflug (1922, eine Operette im Sommerspielplan, 14 Aufführungen).
Ein großes Echo hatten zwei Uraufführungen 1932, Die Bürgschaft von Kurt Weill und Der Schmied von Gent von Franz Schreker. Beide wurden von den Nazis sofort aus dem Spieplan genommen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Wilhelm Rode, der zwei Jahre später von Hitler auf den Intendantenstuhl gehoben werden sollte in beiden Opern in den jeweiligen Bariton-Hauptpartien gefeiert wurde.
Das alles ist jetzt eher ein Ausblick auf kommende Abende, morgen werden wir uns erst einmal mit Don Carlos und Otello befassen, dazuist in den älterern Blogbeiträgen etwas zu finden.
Bleiben Sie gesund! Bis dann,
Curt A. Roesler
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