Was ist Dichtung, was ist Wahrheit? Im ganzen 19. Jahrhundert hat man Goethes Dichtung und Wahrheit für eine wirklichkeitsnahe Autobiografie des verehrten Dichters genommen und nicht für ein Märchen – wie Goethe seine Berichte aus dem eignenen Leben selbst bezeichnete. Heute ist man etwas skeptischer, was vor allem den französischen Philosophen Michel Foucault und Roland Barthes zu verdanken ist, die eine genauere Trennung von Werken und ihren Autoren anmahnten. Im gestrigen Literarischen Quartett – hier der Link zur entsprechenden Seite in der ZDF-Mediathek – wurden zwei Werke von Autorinnen vorgestellt, die sich mit dem Erfinden von Erzählungen befassen. Ganz heutig ist dabei sogar von »Lüge« die Rede, wir befinden uns schließich in der Zeit, wo »alternative Fakten« verbreitet werden.
Fast alles, was wir über Francesca da Rimini wissen, stammt von ihrem Zeitgenossen Dante, der ihr im fünften Gesang seiner Hölle, dem ersten Teil der Göttlichen Komödie ein Denkmal gesetzt hat. Geboren ist die Tochter des Guido da Polenta, der 1275 die Herrschaft über Ravenna erlangte 1259 oder 1260. Er brauchte die Unterstützung des Herrschers von Rimini, Malatesta da Verucchio. Um die »Freundschaft« der beiden Häuser zu besiegeln, gab er Malatestas Sohn Giovanni, genannt Gianciotto, seine 15jährige Tochter zur Ehe. Ganz normal in jenen Zeiten, Zwangsheirat würde man das heute nennen. Der Ehemann war doppelt so alt wie die Braut und von Liebe brauchte niemand zu reden. Gianciotto war – aber auch das wissen wir nur von Dante – hässlich im Gegensatz zu seinem Bruder Paolo, »il bello« (»der Schöne«) genannt. Paolo begegnete Dante vermutlich in Florenz, als der dort in diplomatischen Diensten des Papstes stand. 1282 kehrte Paolo nach Rimini zurück und spätestens 1284 wurde er von seinem Bruder zusammen mit seiner Schwägerin im Bett liegend erwischt und ermordet. Auch ziemlich normal in jenen Zeiten. Weibliche Untreue musste dringend mit dem Tod bestraft werden und den Mann gleich mit dazu umzubringen galt als heldenhaft. Jemanden im Schlaf zu töten war zwar nicht gerade die feine Art, ein Duell wäre schon ehrenhafter, aber wenn er es verdient hat? An der moralischen Empörung über die Untereue (und vor allem, das sich erwischen lassen) beteiligt sich Dante natürlich auch, indem er die beiden Schuldigen in der Hölle schmoren lässt, aber seine Beschreibung weckt Verständnis und Sympathie für Francesca und Paolo. Auch lässt er keinen Zweifel, dass ihn das Schicksal der beiden rührt.
Nicht weniger als 28 Opern auf den von Dante zuerst gestalteten Stoff führt die englische Wikipedia auf. Sie entstanden alle in der Zeit zwischen 1823 und 1914. In der gleichen Zeit sind auch die meisten bildlichen Darstellungen entstanden. Es ist also offensichtich ein durch und durch romantischer Stoff. Aber anders als das unsterbliche Liebespaar Romeo und Julia, das seit Shakespeare durch die Literatur geistert und auch schon im 18. Jahrhundert in Opern verehrt wurde, wurden Paolo und Francesca erst im 19. Jahrhundert richtig entdeckt. Die Oper von Riccardo Zandonai, mit der wir uns vornehmlich befassen werden, ist übrigens die letzte bei Wikipedia aufgeführte, die erste stammt von Feliciano Strepponi, dem Vater von Verdis langjähriger Gefährtin und Ehefrau. Die bekannteste Oper außer der von Zandonai ist die von Rachmaninoff, über die wir im letzten Kurs kurz gesprochen haben, als wir uns den russischen Opernfilmen widmeten. Zu den bekannteren weiteren Komponisten zählen Hermann Goetz, Ambroise Thomas und Saverio Mercadante, dessen Francesca da Rimini erst 2016 zur Uraufführung kam. In der VHS-Cloud gibt es schon ein paar YouTube-Links dau. Der Text von Gabriele d'Annunzio, den dieser 1901 für seine damalige Geliebte Eleonora Duse schrieb, war schon in diesem Jahr von Antonio Scontrino vertont worden. Das Libretto für die Oper von Zandonai schrieb Puccinis Verleger Tito Ricordi auf der Grundlage von d'Annunzios Tragödie.
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