Dass Tschaikowsky die beiden am weitesten verbreiteten Opern, Eugen Onegin und Pique-Dame, nach Stoffen von Puschkin schrieb, ist allgemein bekannt, auch dass Boris Godunow zum Teil auf Texten von Puschkin beruht, hat sich weit herumgesprochen. Wenn man die russische Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts etwas genauer betrachtet, stellt sich heraus, dass kein anderer Autor die Komponisten so nachhaltig beeinflusste wie er. Auf Goethe und Schilller trifft das im deutschen Sprachraum längst nicht in diesem Maße zu; auch in der französischen und italienischen Oper findet man keinen vergleichbaren Autor. Allenfalls Shakespeares Bedeutung für die europäische Operngeschichte des 19. Jahrhundets könnte man mit der Puschkins für die russische Oper vergleichen.
Ein Frühwerk Puschkins ist das Poem Ruslan und Ludmila. Er schrieb es mit 20 Jahren. 1836 entschloss sich Michail Glinka nach dem großen Erfolg mit seiner ersten Oper Ein Leben für den Zaren dazu, dieses Poem zur Grundlage einer Oper zu machen. Er bat Puschkin darum, selbst ein Libretto zu schreiben. Der sagte auch zu, doch ließ er sich bekanntlich 1837 auf ein Duell ein, in dem er wie Lenski im Eugen Onegin getötet wurde. Glinka musste sich also anders behelfen, z. T. dadurch dass er selbst textete. Ruslan und Ludmila spielt im sagenhaften alten Russland, Kiew scheint noch die Hauptstadt zu sein. Hier gibt es eine Aufführung aus dem Mariinski-Theater, als die Institution noch Kirov-Oper hieß, aber schon unter der Leitung von Valery Gergiev stand. Die Produktion entstand in Zusammenarbeit mit der Oper von San Francisco, deren langjähriger Intendant Lotfi Mansouri führt in prächtiger Ausstattung Regie. Die Aufzeichnung mit Anna Netrebko ist von 1995. Es gibt sie auch als DVD, Zwischentitel in englischer Sprache geben ein wenig Orientierung. Eine neuere Inszenierung von Dmitri Tcherniakov am Bolschoi-Theater wurde ebenfalls auf DVD herausgebracht. Man findet sie auch auf YouTube, dort allerdings ohne jeden Hinweis auf den Regisseur und den Dirigenten (Vladimir Jurowski), das Logo von Mezzo-Tv ist unkenntlich gemacht und die französischen Untertitel sind russisch überblendet. Das Original findet man aber hier. Also wieder bei »Opera on Video«, wo es sehr viele Opernaufführungen gibt. Es sei aber erwöhnt, dass dieser Dienst in Russland gehostet ist, also mögicherweise, was Urheberrechte betrifft, noch etwas problematischer ist als YouTube.
Die nächsten beiden Werke Puschkins, die als Opernvorlagen dienten sind Tsygany und Boris Godunow. Von den entsprechenden Opern von Rachmaninow und Mussorgsky war schon ausführlich die Rede, wir können also direkt zu Poltawa gehen. Nach dieser Verserzählung schuf Tschaikowsky seine Mazeppa. 2013 setzte die Komische Oper Berlin dieses Werk auf den Spielplan, wir haben damals auch darüber gesprochen, aber das ist lange her; und YouTube war damals noch nicht so reich gefüllt mit Opernaufführungen. Auch in dieser russischen Oper spielt die Ukraine eine große Rolle. Nach der Schlacht bei Poltawa 1709, auf die das Gedicht anspielt, und einem weiteren Sieg Peters I. gegen die Schweden, kam das Gebiet 1713 zu Russland. Auch bei Mazeppa (das »z« und das doppelte »p« ist englischen Umschriften geschuldet, in Russisch ist es ein normales »s« und ein einfaches »p«, bei Sigrid Neef heißt die oper deshalb Masepa) wird die weibliche Hauptperson am Ende wahnsinnig und erkennt ihren Geliebten nicht mehr. Die Standard-Inszenierung aus dem Mariinski-Theater unter der musikalischen Leitung von Valery Gergiev findet sich hier. Nikolai Putilin ist Mazeppa, Irina Loskutova Maria und die Inszenierung stammt von Irina Molostova. Eine etwas modernere Interpretation gibt es hier aus der Helikon-Oper, dem zweiten großen Operhaus in Moskau unter der Leitung des Chefdirigenten Valery Kirianov. Beide Videos sind leider ohne Untertitel. Es gibt aber hier noch eine Übertragung von Mezzo-TV mit französischen Kommentaren und Untertiteln, ebenfalls aus St. Petersburg und unter der Leitung von Valery Gergiev (dessen Haare hier schon ganz weiß sind).
Dass auch Igor Strawinsky eine Oper nach Puschkin schrieb, hätte ich nicht vermutet, aber die Vorlage zu Mavra ist die Verserzählung Das Häuschen in Kolomna. Eine aktuelle Inszenierung von Vyacheslav Starodubtsev im neuen Haus des Mariinski-Theaters ist hier zu finden. Leider ohne Untertitel, was vor allem wegen der Dialoge schade ist. Das Werk kam in Paris zur Uraufführung, und von dort, vom Palais Garnier gibt es hier eine Inszenierung. Mit Untertiteln – in griechischer Sprache.
Nun kommen wir zu den Vier kleinen Tragödien Puschkins von 1830. Die ersten beiden, Der steinerne Gast und Mozart und Salieri, mit den Vertonungen von Dargomyshski und Rimsky-Korsakow waren schon bei den Opernfilmen dabei. Wir gehen daher gleich zu Der geizige Ritter von Rachmaninow. Es gibt hier eine historische Aufnahme von 1958; das ist allerdings kein Film, sondern eine Fernsehproduktion. Der Regisseur ist Grigori Kristi, von dem sonst nichts bekannt ist, außer dass er einen Fotoband über Stanislawski herausgegeben hat. 2004 wurde die Oper in Glyndebourne gespielt (zusammen mit Gianni Schicchi von Puccini) mit Sergei Leiferkus als der Baron. Hier ist der Link zum YouTube-Video mit Untertiteln in verschiedenen Sprachen zum Auswählen. Mit dem Gelage während der Pest, der vierten kleinen Tragödie, kommen wir zu einem weitgehend unbekannten Opernkomponisten. Er gehört zu der »Gruppe der fünf (Novatoren)«, aber er fällt einem oft erst ganz am Schuss ein, wenn man »Das mächtige Häuflein«, wie sie sich auch nannten, aufzählen will: Cesar Cui. Er hat nicht weniger als 15 Opern geschrieben. Die letzte, Der gestiefelte Kater, wird gelegentlich als Kinderoper aufgeführt. Die anderen sind so gut wie vergessen. Aber der Titel Das Gelage während der Pest klingt doch ganz aktuell. Hier finden wir die Oper zur Pandemie. Untertitel in englischer, spanischer und portugiesischer Sprache, die man sich auch auf Deutsch übersetzen lassen kann. Produziert ist das offensichtlich im Lockdown: Jeder sitzt bei sich zu Hause, auch der Pianist (ein Orchester gibt es nicht). In Spanien war der Lockdown etwas strenger als in England. Bei dieser Produktion der gleichen Oper in englischer Sprache kamen die Sänger in einem Raum zusammen und führten das Werk konzertant auf; ebenfalls nur mit Klavierbegleitung. Und noch eine Produktion quer durch Europa mit Sängern und Sängerinnen aus Italien, Frankreich, Deutschland und Russland hier. Da auf dem Bildschirm ziemlich viele Informartionen gleichzeitig erscheinen, hier ein Tipp: die (englischen) Untertitel sind oben auf weißem Hintergrund zu finden. Aus aktuellem Anlass sind übrigens weitere Vertonungen der kleinen Tragödie verfasst worden, so z. B. von Alex Woolf mit einem Libretto von David Pountney.
Bei der Beschäftigung mit Cui ist mir nun aufgefallen, dass er noch zwei weitere Opern nach Puschkin geschrieben hat, die mir bisher durchgerutscht waren, Der Gefangene vom Kaukasus und Die Hauptmannstochter. Das Opernhaus von Krasnojarsk, weit hinter dem Kaukasus, rühmt sich, die einzige Produktion des Gefangenen vom Kaukasus von Cui weltweit in ihrem Repertoire zu haben. Die Hauptmannstochter ist wie die anderen Opern von Cui auch überhaupt nirgendwo zu finden.
Das Märchen vom Zaren Saltan ist eine weitere Märchenoper nach Puschkin, das berühmteste Stück der Musik von Rimsky-Korsakow ist der Hummelflug aus dem 3. Akt. Gut die Hälfte des Werks ist in dieser deutschsprachigen Aufführung zu hören. Es handelt sich um eine Inszenierung von Harry Kupfer an der Dresdner Staatsoper. Diese Aufführung aus Wladiwostok von 2015 scheint vollständig zu sein. Der junge Dirigent heißt Alexander Pereverzev, über den Regisseur habe ich nichts herausbekommen. Aber auch vom Zaren Saltan gibt es eine Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, sie fand im letzten Jahr in Brüssel statt, mit Ante Jerkunica in der Titelpartie, Alain Altinoglu dirigierte. Leider ist sie aber nur hier bei Operaonviedeo zu sehen. Und sie ist ganz ohne Untertitel, was vor allem beim langen gesprochenen Vorspiel und den auf den Vorhang geschriebenen Sentenzen fehlt.
Soviel für heute, weiter geht es demnächst, Curt A. Roesler
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