Leider entfallen nun sämtliche Vorstellungen des Mitridate in der Staatsoper, sie waren alle für den November geplant. Wir lassen uns aber nicht davon abhalten, dieses frühe Meistewerk von Mozart etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Mozart war 14, als er den Auftrag bekam, die Uraufführung in Mailand fand einen Monat vor seinem 15. Geburtstag statt. Es war die erste von drei Opern, die er für das Teatro Ducale, die Vorgänger-Institution der Scala, schrieb. Wie auch heute noch fanden die festlichen Premieren am Stephanstag, dem 26. Dezember statt. Ascanio in Alba folgte 1771, Lucio Silla 1772. Mitridate und Lucio Silla sind frühe Beispiele für den Wechsel der Heldenpartie vom Kastraten auf den Tenor und verweisen insofern auch schon voraus auf Idomeneo. Beide folgen jedoch in der Form noch kompromisslos dem Schema der »opera seria« mit sechs (ausnahmsweise auch sieben) Sängern und ohne Chor. Auch der Inhalt folgt noch den Regeln, die am Ende des 17. Jahrhunderts von Alessandro Scarlatti und seinen Librettisten (darunter Apostolo Zeno) entwickelt wurde. Alle diese Opern spielen in der Vergangenheit und haben eine ernste (»seria«) Handlung, die sich an der französischen »tragédie« von Corneille und Racine orientiert. Dazu gehört, dass die ausschließlich dem hohen Adel angehörenden Hauptpersonen, auch wenn sie sich tragisch in Schuld verstricken, vorbildhaft bleiben, im Leben wie im Sterben. Ein Selbstmord wie in Mitridate ist da schon ein Grenzfall, aber durch das Vorbild Racine und vor allem durch den Verweis auf die Historie gerechtfertigt. Die Opern umfassen immer drei Akte, in den Pausen wurden zur Unterhaltung des Publikums »Intermezzi« gespielt, zunächst mit nur zwei Darstellern und zunächst auch noch unabhängig voneinander. Doch bald wurden die jeweils zwei Intermezzi mit einer durchgehenden Handlung verbunden und es war die »opera buffa« erfunden, die auch unabhängig von der großen Oper gespielt wurde, aber immer zweiaktig blieb.
Eingeleitet wurden diese Opern von einer dreisätzigen »Sinfonia«; diese Instrumentalstücke hatten in der Regel keinen inhaltlichen Zusammenhang mit der Oper, sondern wurden nur gespielt, um das Publikum darauf vorzubereiten, dass es bald losgeht. Sie konnten auch in öffentlichen Konzerten gespielt werden und der Begriff »Sinfonie« leitet sich daher. Die Sinfonie Nr 10, G-Dur, hat Mozart im Sommer 1770 vermutlich als ersten Entwurf einer Sinfonia zum Mitridate komponiert. Wer vergleichen möchte: hier ist die Sinfonie Nr. 10 dirigiert von Christopher Hogwood, und Christophe Rousset dirigiert hier die Ouvertüre zu Mitridate. Warum Mozart die Ouvertüre noch einmal ausgetauscht hat, ist nicht bekannt. Wenn man allerdings einen weniger mit der historischen Aufführungspraxis vertrauten Dirigenten als Christopher Hogwood erwischt (es gibt noch unzählige weitere Aufnahmen bei YouTube), dann kommt einem die Mitridate-Ouvertüre deutlich frischer vor.
Die »opera seria« besteht sodann aus einem Wechsel von Rezitativen und Arien. Die Rezitative (die Mozart sofort nach Auftragserteilung zu komponieren begann) sind in der Regel nur vom Cembalo und einem Bassinstrument (vom »basso continuo«) begleitet. An besonders dramatischen Stellen kommen allerdings auch vom Orchester begleitete Rezitative vor (»(recitativo) accompagnato«). Die Arien sind fast immer »Abgangs-Arien«, d. h. sie stehen jeweils am Ende einer Szene, einer Auseinandersetzung und die Figur fasst seine Gefühlslage in der Arie zusammen, bevor sie von der Bühne abgeht. Am Ende eines Aktes ist auch ein Duett möglich, das ist bei Mitridate am Ende des zweiten Akts der Fall. Den Schluss des Werks bildet ein »coro«, der aber nichts mit einem Chor zu tun hat, sondern in dem alle Darsteller zusammen die Moral verkünden. Bei Mitridate ist das ein Quintett, Mitridate ist ja schon tot und Marzio, der römische Tribun hat sich mit seiner einzige Arie bereits verabschiedet. Die Arien komoponierte Mozart erst an Ort und Stelle, nachdem er die Sänger kennengelernt hatte.
Die musikalische Form der Arie in der »opera seria« ist das »Dacapo«, wir sprachen bereits mehrfach darüber in diesem Kurs. Wir kennen die Form aus den Opern und Oratorien von Händel und Bach. Schon Händel hatte aber in den späteren Opern gelegentlich auf das Dacapo verzichtet, oder schon ganz andere Formen eingesetzt. Gluck befolgte die Vorgabe (die auch von den Kastraten gewünscht war, weil sie ihre Gesangskunst darin besonders ausstellen konnten) noch in seinen frühen Opern. In den Reformopern um 1770 jedoch kam auch er davon ab. Mozart ist ganz modern und erfindet ebenfalls neue Arienformen, die kaum ein Dacapo verwenden, oder dann ein Dacapo, das eher an eine Reprise in der Sinfonie erinnert als an eine virtuose Gesangsform. Dennoch sind die Arien vokal extrem anspruchsvoll.
Die griechische Stadt Nymphaion (italienisch Ninfea) am Ostende der Krim ist der Schauplatz der Oper, das erste Bild des ersten Aktes ist ein Platz in der Stadt mit Blick auf das Tor, das zweite Bild das Innere des Venustempels, das dritte der Hafen. Der zweite Akt hat zwei Bilder; er beginnt im Innern des Palastes und wird im Feldlager des Mitridates fortgesetzt. Der dritte beginnt im Garten und wird im Kerker, wo Farnace eingesperrt ist, fortgesetzt und schließt in der großen Halle des Palastes. In der Szenenfolge schlägt sich auch die damalige Bühnentechnik nieder, die offene Verwandlungen innerhalb der Akte kannte; es folgt immer auf eine »lange Szene« eine »kurze Szene«. Also auf einen Platz im Freien eine Innenszene, dann wieder eine raumgreifende Umgebung. Durch das Einsetzen eines Zwischenvorhangs wurde aus dem Platz der Venustempel, während die Szene im Venustempel läuft, wird dahinter umgebaut, damit dann der Hafen zum Vorschein kommt. Zwischen den Akten kann sowieso umgebaut werden, daher kann auf die »lange Szene« am Ende des zweiten eine ebensolche am Beginn des dritten folgen.
Der Gang der Handlung in Kürze: Mitridate, der König des Schwarzmeereichs, der sich im Krieg mit Rom befindet ist im Feld und es verbreiten sich bereits Gerüchte, dass er gefallen sei. Das ist ein prekäre Situation für seine Verlobte Aspasia, die nun von beiden Söhnen Mitridates umworben wird. Von Farnace, dem älteren, will sie gar nichts wissen und bittet den jüngeren, Sifare, sie vor ihm zu beschützen. Diesen liebt sie insgeheim, doch sie traut sich nicht, sich dazu zu bekennen, schließlich soll sie ja Königin an der Seite von Mithridate werden. Mithridate ist jedoch unverletzt, wie Arbate, der Statthalter von Ninfea weiß, und kehrt zurück in der Absicht beide Söhne zu bestrafen, die offenbar schon das Reich unter sich aufteilen wollten. Farnace ruft besonders seinen Zorn hervor, weil er sich weigert, die für ihn ausgesuchte parthische Königstochter Ismene zu heiraten. Für Sifare sieht es aber auch nicht gut aus, er ausgerechnet soll Aspasia die Nachricht überbringen, dass Mitridate sie noch heute heiraten wolle. Farnace hat einen Freund Marzio, einen römischen Tribun, der ihm ein Friedensangebot der Römer überbringt. Mitridate will nun beide Söhne mit dem Tod bestrafen, Farnace, weil er ein Verräter ist und Sifare, weil natürlich nicht verborgen blieb, dass da etwas mit Aspasia läuft. Mitridate würde seinen Zorn vielleicht bezähmen, wenn Aspasia zu ihm zurückkehrt. Die weigert sich jedoch und er gibt ihr ein Giftfläschchen, damit sie sich selbst umbringe. Mitridate zieht nun in seinen letzten Kampf. Sifare, von Ismene aus der Gefangenschaft befreit, kann Aspasia im letzten Moment retten. Mitridate ist geschlagen, er bestimmt Sifare zu seinem Nachfolger und gibt ihm Aspasia zur Frau, auch Farnace verzeiht er, als er hört, dass auch er gegen die Römer gekämpft habe. Dann rät er allen zu fliehen, ehe er sich ins Schwert stürzt. Alle verschwören sich erneut gegen Rom.
Gerade habe ich noch einen Opernfilm gefunden, 1986 von Jean-Pierre Ponnelle mit Nikolaus Harnoncourt gedreht. Die Oper ist auf zwei Stunden gekürzt, es gibt keine Countertenöre, die Kastratenrollen werden von Frauen gesungen, Sifare teilweise auch von einem Sängerknaben. Hier ist der Link.
Herzlich, bis Mittwoch, Curt A. Roesler
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