Sonntag, 4. Oktober 2020

Die Zeit in der Oper

»Zeit« spielt in der Oper vielfältig mit, selbst wenn man die seit Jahrzehnten vielbeachteten Kritiken im gleichnamigen Hamburger Magazin nicht mit einbezieht. Zunächst einmal ist Musik ganz grundsätzlich gestaltete Zeit. Im Beethovenkurs haben wir – im Zusammenhang mit dem Metronom – über die Zeitmessung und die erst damit mögliche eindeutige Festlegung eines Tempos gesprochen; und im Zusammenhang mit der Walküre haben wir über die Aufzeichnungen der Vorstellungsdauern in Bayreuth gesprochen. Solche Aufzeichnungen existieren übrigens in jedem Theater, im Vorstellungsbuch wird genau festgehalten, wann eine Vorstellung begonnen hat und wann sie geendet hat, wann die Pausen waren und wie lange der Applaus gedauert hat. Worüber wir aber noch nicht gesprochen haben, ist die Auswirkung der Musik auf das Zeitempfinden des Zuhörers. Damit ist nicht in erster Linie gemeint, dass die Zeit wie im Fluge vergeht, wenn man einer interessanten Musik lauscht; das kann übrigens auch beim Lesen eines Romans passieren. Es geht darum, wie die Oper mit der dargestellten Zeit umgeht. Wie im Film – und auch in Schauspiel – wird oft Zeit gerafft. Meist geschieht es dadurch, dass zwischen zwei Akten Monate oder Jahre vergehen. Aber auch zwischen einzelnen Auftritten müsste oft, wenn man es mit der Realität vergleicht, mehr Zeit vergehen für eine Handlung, die auf oder hinter der Bühne intendiert ist. Auch dass hinzutretende Personen immer zum genau richtigen Zeitpunkt erscheinen, stimmt nicht mit der alltäglichen Erfahrung überein. Besonders interessant ist aber, dass die Oper Zeit nicht nur raffen, sondern auch dehnen kann. Das ist sogar eines der hervorstechendsten Merkmale der klassischen Oper mit ihrem Wechsel von Rezitativ und Arie. Im Rezitativ wird die Zeit gerafft, in der Arie aber gedehnt. Denn der Gedanke, der zum Inhalt einer Arie wird, würde die Person in nur einem Augenblick durchziehen, während sie ihm in der Arie nun poetischen Ausdruck verleiht, der völlig vom Lauf der Zeit abgehoben zu sein scheint.

In diesem Punkt ist die Oper auch ganz nah an anderen musikalischen Formen, die Außermusikalisches einschließen, wie die Sifonische Dichtung. Eine Bergwanderung dauert auf jeden Fall länger als die Alpensinfonie von Richard Strauss und sebst wenn man mit einem (zum Zeitpunkt der Komposition noch nicht erfundenen) Hubschrauber die Moldau von der Quelle bis zur Mündung abfliegen würde, bräuchte man dafür mehr Zeit als die 13 bis 15 Minuten, die eine Aufführung der Moldau von Smetana beansprucht. In beiden Kompositionen gibt es aber auch Haltepunkte, die nicht kongruent sind mit einer entsprechenden Wanderung oder Begehung.

In einem früheren Blogbeitrag hatte ich bereits über die Zeitebenen, die in einer Oper eingegraben sind, gesprochen. Wir wollen das nun vorausschauend anwenden auf die drei Werke, die wahrscheinlich als nächste im Opernkurs dran sind: Mitridate, re di Ponto (Wolfgang Amadeus Mozart, Premiere in der Staatsoper Unter den Linden am 13. November), Die Großherzogin von Gerolstein (Jacques Offenbach, Premiere in der Komischen Oper am 31. Oktober) und Iphigenie auf Tauris (Christoph Willibald Gluck, Premiere in der Komischen Oper am 5. Dezember) und, damit wir auch noch ein neueres Werk einbeziehen können, Francesca da Rimini (Riccardo Zandonai, Premiere an der Deutschen Oper Berlin im März noch nicht betätigt).

Mithridates VI., der König von Pontos, lebte ca. 132 v. Chr. bis 63 v. Chr. Er führte drei Mal Krieg gegen die Römer. Der zweite Krieg war schon nicht mehr so erfolgreich wie der erste und im dritten wurde er endgültig besiegt. Sein Sohn Pharnakes II. übernahm die Macht. Ob Mithridates im Exil assistierten Selbstmord beging oder ob er von meuternden Truppen ermordet wurde, ist nicht geklärt. Appian, ein römischer Geschichtsschreiber des 2. Jh. berichtet das erste, Cassius Dio, ein römischer Geschichtsschreiber des 3. Jh. das zweite. Jean Racine lässt ihn in seiner 1672 uraufgeführten Tragödie Mithridate in der Erwartung der Niederlage gegen die Römer sich in sein Schwert stürzen. Sterbend vergibt er seinem zweiten Sohn, mit dem er im Streit lag, weil der die Frau liebte, die er selbst heiraten wollte, und rät ihm, mit der hier Monime genannten fiktiven Braut zu fliehen. Ludwig XIV. liebte diese Tragödie von Racine ganz besonders. Knapp einhundert Jahre später erreichte Leopold Mozart einen Kompositionsauftrag vom Teatro regio ducale in Mailand für seinen 14-jährigen Sohn Wolfgang Amadeus. Das Libretto Mitridate, re di Ponto war schon geschrieben von Vittorio Amedeo Cigna-Santi, es war drei Jahre zuvor von Quirino Gasparini vertont und in Turin ohne besonderen Erfolg aufgeführt worden. Cigna-Santi ahmte als Librettist Apostolo Zeno und Pietro Metastasio nach. Der Liebeshändel und die Abdankung des Königs am Ende in Racines Tragödie kommt dem Schema der opera seria entgegen, etwas problematisch ist nur der Selbstmord, der eher nicht zum vorbildhaften Verhalten der adligen Personen auf der Opernbühne passt. Mozarts Oper war außerordentlich erfolgreich, sie zog zwei weitere Aufträge für die beiden Folgejahre nach sich. Wir haben also als Zeitebenen das 1. Jh. v. Chr., das 17. und das 18. Jh. Nicht zu vergessen als Zeitebene ist die Zeit in der sich das Publikum bewegt, bei uns also das 21. Jh.

Viel einfacher ist das mit den Zeitebenen in der Großherzogin von Gerolstein. Sie fallen alle (außer der Aufführungszeit, die ja immer die Gegenwart ist) mehr oder weniger zusammen. Die Operette spielt laut Libretto um 1720, die Uraufführung war 1867. Zeit und Ort wie auch die gesamte Handlung sind fiktiv. Und selbstverständlich ist die Gegenwart von 1867, das zweite Kaiserreich gemeint, das sich ja drei Jahre später tatsächlich in einen aussichtslosen Krieg stürzte und dabei, anders als die Großherzogin, unterging. Diese Kriegsverliebtheit des Kaisers auf der Bühne auszustellen, ging natürlich nicht, noch gab es ja so etwas wie Zensur, deshalb musste man so tun, als ob eine solche Handlung nur in einem früheren Jahrhundert denkbar wäre. Eine besondere Pointe dabei ist, dass sich Kaiserin Eugénie bisweilen wie Marie-Antoinette, also eine Königin im »ancien régime«, benahm. Für die Interpretation der Operette heute ist aber nur eine Zeitebene entscheidend, und das ist die des Second Empire.

Viel komplizierter wird es wieder bei Iphigenie auf Tauris. Hier ist die dargestellte Zeit die des Trojanischen Krieges, von dem wir gar nicht so sicher wissen, ob er überhaupt stattgefunden hat. Sollte er nicht nur eine Fiktion sein, so müsste er wohl im 13. oder 12. Jh. v. Chr. stattgefunden haben. Die ersten literarischen Schilderungen sind im Epischen Zyklus zu finden, einer Sammlung von Dichtungen, die etwa im 10. Jh. v. Chr. zum ersten Mal niedergeschrieben, aber sicher auch schon früher von Sängern vorgetragen wurden. Ilias und Odysse haben ebenfalls die Geschehnisse um den Trojanischen Krieg zum Gegenstand, anders als die übrigen Epen der griechischen Antike, werden sie einem Autor zugeschrieben, Homer, einem berühmten Sänger, der um 850 v. Chr. gelebt haben könnte. Die Niederschrift der Ilias und Odyssee wird nach heutiger Forschung im 8. bzw. 7. Jh. v. Chr. angenommen, also schon ein halbes Jahrtausend nach dem Trojanischen Krieg. Eine weitere gewichtige Quelle für die Vorgänge um den Trojanischen Krieg ist die Aeneis, geschrieben von dem Römer Publius Vergilius Maro, von dem es im 1. Jh. v. Chr. sogar ganz genaue Lebensdaten gibt. Von Iphigenie ist hier allerdings nicht die Rede. Dafür ist sie früh eine Theatergestalt geworden. Euripides hat sowohl eine Iphigenie bei den Taurern als auch eine Iphigenie in Aulis geschrieben; die erste Tragödie schrieb er um 414 v. Chr. die zweite ist nachgelassen, sie wurde erst ein Jahr nach seinem Tod aufgeführt, 405 v. Chr. Iphigenie bei den Taurern ist ein äußerst beliebtes Opernsujet im 18. Jahrhundert. Racine, der in vielen Fällen die Vorlage für Opern mit antikem Sujet bot, hat allerdings mit seiner Iphigénie (1674) den Stoff der Iphigenie in Aulis aufgenommen. Genau 100 Jahre später komponierte Christoph Willibald Gluck seine Iphigénie en Aulide auf dieser Grundlage; als er fünf Jahre später Iphigénie en Tauride nachschickte, gab sein Librettist Nicolas-François Guillard an, er sei angeregt worden durch die gleichnamige Tragödie von Claude Guimont de La Touche (1723–1760), einem ziemlich unbekannten Dramatiker, der außerdem keine weitere Stücke mehr gerschrieben hat. Und Guimont de La Touche hat – natürlich in Anlehnung an Euripides – ganze Szenen aus der ersten französischen Oper mit diesem Titel abgeschrieben, 1704 ist die erschienen, das Libretto ist von Henri Desmarest, die Musik von André Campra. Goethes Iphigenie auf Tauris hat übrigens mit Glucks nicht viel mehr gemeinsam, als dass die erste Fassung davon ebenfalls 1779 geschrieben und uraufgeführt wurde.

Letztes Beispiel: Francesca da Rimini. Sie ist eine historische Figur. Sie wurde 1275 aus politischen Gründen mit dem missgestalteten Giovanni Malatesta verheiratet, verliebte sich in dessen Bruder Paolo und ließ sich irgendwann zwischen 1283 und 1286 erwischen. Giovanni brachte beide im ehebrecherischen Bett zur Strecke und ihr Zeitgenosse Dante Alighieri verbannte die beiden Sünder in der Divina Commedia in den zweiten Kreis der Hölle. Richtig populär wurde die Figur der Francesca im 19. Jahrhundert in der Malerei und in der Oper. Die erste italienische Oper Francesca da Rimini wurde 1823 von Feliciano Strepponi geschrieben, dem Vater von Verdis Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi, die letzte ist die 1914 uraufgeführte von Riccardo Zandonai. Das Libretto des Verlegers Tito Ricordi stützt sich auf die Verstragödie von Gabriele D'Annunzio von 1901.

So viel für heute, bis bald, Curt A. Roesler

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.