Dienstag, 29. September 2020

Wie entsteht eine Oper? 3. Teil

Von der ersten szenischen Probe bis zur Premiere dauert es heutzutage in der Oper mindestens vier Wochen, wenn es sich um eine Neuproduktion handelt. Im Schauspiel veranschlagt man in der Regel doppelt soviel, was aber nicht heißt, dass dort ernsthafter probiert wird, denn Schauspieler bekommen auf der ersten Probe zum ersten Mal ihren Text zu sehen, das heißt, das Memorieren des Texts und die Klangwerdung des Textes geschehen innerhalb dieser acht Wochen. Zu einer ersten szenischen Probe für eine Oper kommen hingegen alle Sänger fertig einstudiert, sie haben den Text und die Musik längst auswendig gelernt, manche haben die gleiche Partie schon in anderen Inszenierungen gesungen. Und an den Partien ändert sich von Inszenierung zu Inszenierung musikalisch nicht viel, selbst Kürzungen sind, wenn sie überhaupt in Erwägung gezogen werden, meist an der gleichen Stelle veranschlagt. Anders im Schauspiel: von Goethes Faust wird allenfalls ein Fünftel des geschriebenen Textes verwendet, bei Shakespeares Dramen ist es in der Regel etwas mehr, etwa ein Viertel. Und jedes Mal denkt sich der Regisseur zusammen mit den Dramaturgen eine komplett neue Fassung aus. Ausnahmen wie an der Berliner Schaubühne in den Achtzigern mit sechsstündigen Aufführungen, wo auch einmal ein kompletter Text von Shakespeare oder Euripides zur Auffürung kam, bestätigen diese Regel. Manchmal entsteht die Fassung eines Schauspiels auch erst auf den Proben. Das gibt es in der Oper nicht. Zu viel hängt von der Fassung ab, die vorher feststehen muss. Etwa die Noten für das Orchester müssen ja fertig eingerichtet sein, wenn die Musiker auf ihre erste Probe kommen.

Der vier- bis achtwöchigen Probenphase mit dem Regisseur geht eine längere musikalische Probenphase der Sänger voraus. Dafür gibt es keine Regel, jeder Sänger lernt anders. Dass ein Sänger eine Hauptpartie, die er noch nie auf der Bühne gesungen hat, in weniger als einem Jahr in seine Kehle bekommt, ist eher die Ausnahme. Ein sehr erfahrener Sänger, der außerdem ein phantastisches Gedächtnis hat, kann es auch einmal in ein paar Wochen schaffen. Ein junger Sänger an einem kleinen Theater mit Repertoirebetrieb, kann auch einmal gezwungen sein, in einem Jahr drei neue Partien einzustudieren. Das ist dann aber auch in einem kleinen Haus und gehört in das Rubrum »Erfahrungen sammeln«.

Als Repertoirebetrieb bezeichnet man das vor allem in Deutschland weit verbreitete System von Theatern, die fest angestellete Sänger haben, die ein sogenanntes Ensemble formen. Es gibt für jedes Fach einen oder zwei Vertreter, und man sieht im Laufe eines Jahres die immer gleichen Sänger in ganz verschiedenen Partien. Wer die Pamina in der Zauberflöte singt, singt auch die Elsa im Lohengrin. Und Tamino sieht man dort in der Titelpartie während die Ortrud auch die weibliche Hauptpartie in Samson und Dalila singt. Früher hatte an einem kleinen oder mittleren Theater das Opernensemble innerhalb einer Spielzeit acht Opern und zwei Operetten zu bewältigen, heute sind es nurmehr vier inklusive einer Operette (wenn überhaupt), aber die Sänger müssen auch bei Musicals, die zur Hauptsache mit Schauspielern besetzt werden, mitmachen. Die früher zehn, heute vielleicht sechs Produktionen mit Sängern auf der Bühne bilden zusammen mit einer mindestens gleichen Anzahl an Schauspielen für eine Spielzeit das Repertoire eines kleinen und mittleren Theaters. Am Ende der Spielzeit werden alle Dekorationen entsorgt, nur die Kostüme kommen in ein Lager, damit sie eventuell später in ganz anderen Stücken wiederverwendet werden können. In der Folgespielzeit wird nämlich alles wieder neu gemacht, ein neues Repertoire aufgebaut, aus dem dann wieder ein abwechslungsreicher Spielplan geformt wird, der dem Publium jeden Tag etwas anderes anbietet. Wenn eine Produktion besonders erfolgreich war, ist es auch möglich, sie in die nächste Spielzeit zu übernehmen. Zur Kostenminimierung planen einige Theater von vornherein so. Das ist das Repertoiresystem, wie es an den Stadt- und Landestheatern in Deutschland (und Österreich, und der Schweiz, auch etwa in Tschechien und Ungarn) angewendet wird. Die etwas größeren Staatstheater haben wie die reinen Opernhäuser ein Repertoire, das sich über mehrere Spielzeiten erhält. Sie können damit ein vielfältigeres Programm anbieten, es bedeutet aber auch für den Probenbetrieb eine Erweiterung. Die Probenbühnen sind nun nicht nur für die Neuproduktionen da, sondern zu einem wesentlichen Teil für das Repertoire. Denn das Ensemble verändert sich im Laufe der Jahre, manche Partien müssen neu besetzt werden. Regieassistenten und Spielleiter kümmern sich darum, dass sie sich in die Inszenierung einpassen, der Regisseur selbst steht in der Regel nicht mehr zur Verfügung, entweder, weil er keine Zeit hat, oder weil er nicht bezahlt werden kann.

Ein ganz anderes System wird traditionell in Italien und Spanien, oder etwa auch in Brüssel angewandt. Hier folgt man dem Stagione-Prinzip. Stagione heißt nichts anderes als »Spielzeit«, aber diese italienische Spielzeit ist ganz anders aufgebaut und sie dauert auch nicht unbedingt ein ganzes Jahr, sondern nur ein paar Wochen, in denen nur eine Produktion (an größeren Theatern auch zwei oder drei) gezeigt wird, und diese aber jeden Abend, oder jeden zweiten Abend, um den Sängern etwas Pause zu gönnen. Die Sänger, die hier auftreten, sind nicht fest angestellt, sondern haben nur einen Vertrag für die jeweilige Partie, sind also Solo-Selbständig, wie man heute sagt. Wenn sie aus Krankheitsgründen nicht auftreten, bekommen sie auch keine Gage im Gegensatz zu den fest angestellten Sängern im Reperoiretheater, deren Gehalt immer gezahlt wird (übrigens natürlich auch in Corona-Zeiten). In Stagione-Theatern ist eine Inszenierung nach sechs, acht oder zehn Aufführungen »abgespielt« (es gibt natürlich Ausnahmen, wie etwa die Scala, die gelegentlich eine sehr erfolgreiche Produktion später wieder aufnimmt).

Die größeren Opernhäuser in Deutschland haben inzwischen ein gemischtes System. Natürlich haben sie ein großes Repertoire und pflegen ein Ensemble. Aber die Abstände zwischen den einzelnen Aufführungen der gleichen Produktion sind nicht mehr so groß. Es wird nicht mehr alles innerhalb eines Monats angeboten, die aufwändigeren Produktionen werden jeweils innerhalb von ein, zwei Wochen vier bis sechsmal gespielt. Das spart Kosten (beim Aufbau der Dekorationen) und hebt die Qualität der Aufführungen, weil sich die Darsteller vom Solisten bis zum Statisten nicht jedesmal wieder mühsam an die Details erinnern und sich in die Rolle einfinden müssen. Außerdem sind die Solisten, die an den großen Häusern auftreten, längst nicht alle fest angestellt. Es ist ein buntes Gemisch von Haussängern und internationalen Stars. Also auch in der Besetzung gibt es Elemente des Stagionebetriebs.

Da heute so gut wie alles unter dem Aspekt des Geldes gesehen wird, wird auch heftig darüber gestritten, welches System kostengünstiger sei. Die Vertreter des Stagionebetriebs verweisen darauf, dass sie immer nur das bezahlen, was auch gebraucht wird, etwa für Sängergagen. Die Vertreter des Repertoiretheaters stellen dem entgegen, dass die Monatsgagen gegengerechnet gegen die Aufführungsanzahl zu geringeren Kosten führen als entsprechende Solistengagen, denn die gleichen Sänger erhalten höhere Gagen, wenn sie anderswo singen. Denn natürlich singen die Ensemblesänger etwa der Deutschen Oper Berlin auch in Mailand, Paris, Barcelona, New York etc. 

Ich erinnere mich, dass uns in den achtziger Jahren aufgefallen ist, dass der jährliche Zuschuss vom Staat in Berlin (West) und in Brüssel sich in etwa der gleichen Höhe bewegte. Im Théâtre de la Monnaie wurden davon maximal 60 Aufführungen bestritten, in der Deutschen Oper Berlin per Landeshaushaltsgesetz festgelegt 295. Außerdem betrugen die Eintrittspreise in Brüssel mindestens das dreifache. Also die Kosten in Brüssel pro Aufführung waren deutlich höher. Allerdings war die Fachwelt zu jener Zeit der Ansicht, dass die Deutsche Oper Berlin ja gar kein wirklich internationales Haus sei, weder der Hausregisseur Götz Friedrich, noch der Generalmusikdirektor Jesús López Cobos seien innovativ. Der Ring des Nibelungen sei ja nun auch nicht der große Wurf (die Meinung änderte sich erst um die Jahrtausendwende). Demgegenüber würde in Brüssel, wie übrigens natürlich auch in Frankfurt, mit jeder Premiere die Oper quasi neu erfunden und vor allem auch gesellschaftlich relevant gemacht. Das heißt, die exorbitanten Kosten der Oper in Brüssel seien durchaus gerechtfertigt, das Théâtre de la Monaie sei ja wie ein Festspielhaus. Nun lagen die hohen Kosten natürlich nicht nur am Stagione-Prinzip. Es wurde ja auch weit mehr Geld für Dekorationen und Kostüme ausgegeben, was in einem Repertoire-Betrieb nicht anders gewesen wäre. Das sind aber die Schlachten der Vergangenheit – jetzt zum Probenablauf, der mehr oder weniger unabhängig vom System ist.

Der Probenphase geht eine Planungsphase voraus, die mehrere Jahre in Anspruch nimmt. Wenn es sich um eine Urafführung handelt, sind es, wie gesagt, mindestens fünf. Wenn die Arbeit des Librettisten und Komponisten nicht berücksichtigt werden müssen, sind es zwei bis drei. Zuerst wird entschieden, welche Opern in einer Spielzeit überhaupt neu inszeniert werden sollen. Der Intendant, der Generalmusikdirektor, der Operndirektor fällen diese Entscheidung einvernehmlich, die Dramaturgie arbeitet ihnen mit Vorschlägen zu, die letzte Entscheidung trifft der Intendant. Zu der Entscheidung gehört auch die Entscheidung über die Inszenierungsteams, also den Musikalischen Leiter, den Regisseur, den Bühnenbildner, den Kostümbildner. Für die Sängerbesetzung leibt unter Umständen noch etwas mehr Zeit. Vielleicht hat der Regisseur oder der Musikalische Leiter noch besondere Wünsche. Das alles muss aber ein bis zwei Jahre vor der jeweiligen Premiere entschieden sein, denn danach geht sofort die Feinplanung los. Wenn, wie an den Berliner Opernhäusern im Februar die Pläne für die kommende Spielzeit bekanntgegeben werden, ist das also sieben bis 16 Monate vor den jeweiligen Premieren. Da muss alles feststehen. Für die ersten Premieren im September/Oktober müssen zu dem Zeitpunkt auch die Inszenierungskonzepte festgelegt sein, denn die Werkstätten müssen etwa zu diesem Zeitpunkt auch schon mit der Herstellung der Dekorationen und Kostüme beginnen. Dafür müssen sich schon im Sommer davor Regisseur und Bühnen- und Kostümbildner verständigt haben, so dass Bühnen- und Kostümbildner genug Zeit haben, ihre Entwürfe auszuarbeiten, diese noch einmal von allen, auch den Dramaturgen und der Künstlerischen und Technischen Theaterleitung begutachtet und eingeschätzt werden, bis sie dann etwa neun Monate vor der geplanten Premiere den Werkstätten vorgelegt werden, damit dort zunächst technische Pläne und ein Bühnenbildmodell erstellt und Material eingekauft werden können. 

Sobald die Sänger wissen, welche Partien sie neu zu lernen haben, fangen sie mit dem Studium an. Gastsolisten sind ganz allein dafür zuständig, dass sie zur ersten Probe fertig einstudiert erscheinen, Ensemblesänger haben die Korrepetitoren des Hauses zur Verfügung. Die Korrepetitoren arbeiten mit ihnen an der musikalischen Interpretation, nachdem sie sich auch mit dem Musikalischen Leiter darüber abgestimmt haben. Das reine Auswendiglernen muss zu Hause erfolgen, wenn ein Sänger das nur mit Hilfe eines Korrepetitors schafft (etwa, weil er mit dem Notenlesen Schwierigkeiten hat, weil er extrem kurzsichtig ist), muss er dafür selbst einen solchen bezahlen.

Die erste Probe auf der Probebühne vier bis sechs Wochen vor der Premiere (die Komische Oper leistete sich unter Walter Felsenstein in den ersten Jahren sechs Monate) ist meist eine »Einführungsprobe«. Der Regisseur erläutert sein Inszenierungskonzept, erklärt, warum er eine Oper, die eigentlich im Mittelalter spielt, in der Zeit des Bürgerkönigs Louis-Philippe zeigen will, warum er eine zusätzliche Figur erfunden hat, die in der Partitur nicht erwähnt ist, etc. Unterstützt wird er dabei von den Dramaturgen. Der Bühnenbildner hat sich das Bühnenbildmodell aus den Werkstätten geholt und stellt es vor. Der Kostümbildner hat seine Zeichnungen, nach denen in den Kostümwerkstätten gearbeitet wurde, ebenfalls geholt und stellt sie hier aus, auch er gibt Erklärungen, manchmal mit dem Regisseur zusammen, etwa wenn es um die Zeit des Bürgerkönigs geht. (Dieses Beispiel ist übrigens fiktiv, das mit der hinzuerfundenen Person nicht, das kommt sogar sehr oft vor.)

Die szenischen Proben auf der Probebühne werden ausschließich vom Klavier begleitet. Für ein Orchester ist dort in der Regel gar kein Platz. Ich kenne ein einziges Theater, in dem es eine Probebühne mit Orchestergraben gibt, Stuttgart. Dort finden aber keine szenischen Proben mit Orchester (mehr) statt, sondern normale szenische Proben mit Klavier und allenfalls die Orchestersitzprobe, von der wir in der Probendokumentation zu Akhnaten an der Met schon gehört haben, und zu der wir gleich noch einmal kommen werden. In der Regel beginnen die szenischen Proben mit der ersten Szene der Oper und der Regisseur und die Sänger arbeiten sich nach und nach durch das ganze Stück. Es gibt aber Gründe, in der Probendisposition von der Chronologie des Werks abzuweichen. Besonders wenn einzelne Solisten nicht für die ganze Probenzeit zur Verfügung stehen, probt man zuerst die Szenen mit den Solisten die anwesend sind. Diese Problematik, die einen Regisseur zur Verzweiflung bringen kann, betrifft übrigens nicht nur die großen Häuser mit den internationalen Solisten, die zahlreiche Verpflichtungen an anderen Häusern haben. Im Gegenteil, ein Sänger oder eine Sängerin, die für eine Neuproduktion für eine gewisse Zeit verpflichtet wurde, bleibt in der Regel für die ganze Probenzeit in der Stadt und hat dann nichts anderes vor. In einem kleineren oder mittleren Ensembletheater jedoch gibt es immer jemanden, der gerade in einer anderen Partie auf der Bühne steht und deswegen auch am Vormittag des Aufführungstages nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Manche Regisseure lassen sich deshalb vertraglich zusichern, dass alle Sänger vom ersten bis zum letzten Tag der Probenzeit anwesend sind. Das geht natürlich rein praktisch nur an  den großen Häusern, wo dann mit lauter einzeln verpflichteten Sängerinnen und Sängern quasi ein Stagione- oder Festspielbetrieb simuliert wird. Ein anderer Grund, von der Chronologie abzuweichen, kann der Chor sein. Zwar haben inzwischen die meisten Theater wenigstens eine Probebühne, die über die Maße der Hauptbühne verfügt, wo also genug Platz wäre für den Chor. Trotzdem ist es angenehmer, den Chor nur bei Proben auf der Bühne dabei zu haben. Bühnenproben können nur dann stattfinden, wenn es der Vorstellungsbetrieb zulässt. Also in der Regel vormittags. Wenn aber die Abendvorstellung einen komplizierten Bühnenaufbau hat, oder so früh beginnt, dass die Bühnenhandwerker mit der technischen Einrichtung schon am Vormittag beginnen müssen, dann ist gar keine Bühnenprobe möglich. Auf der Bühne wird nach Möglichkeit in der Originaldekoration geprobt. Am Anfang möchte man aber die Originaldekoration gerne auch auf der Probebühne haben. Deswegen ist der Beginn der Bühnenproben ein großer Einschnitt im Probenprozess. Die Dekorationen werden auf der Probebühne abgebaut und auf die Bühne gebracht, um nicht wieder zurückzukehren. Nach Beginn der Bühnenproben wird auf der Probebühne eine Probendekoration aufgebaut, die das echte Bühnenbild nur andeutet. Eine Wand kann durch eine Linie auf dem Boden ersetzt werden, eine schön gestaltete Treppe wird mit Holzstufen simuliert etc.

Bei den Bühnenproben sprechen wir jetzt zunächst auch noch von Proben, die nur mit Klavier begleitet werden (Klavier heißt natürlich ein Steinway oder Bösendorfer Flügel, in weniger zahlungskräftigen Theatern ein Yamaha). Das Orchester beginnt etwa zum gleichen Zeitpunkt, wo das Solistenensemble zum ersten Mal auf die Bühne kommt, mit seiner Probenarbeit. Und zwar allein (mit dem Dirigenten selbstverständlich). »Orchester-allein-Proben« heißen diese ersten Proben im Orchester-Probensaal deswegen auch, die also zwei bis drei Wochen vor der geplanten Premiere angesetzt sind. Vier Orchester-allein-Proben sind das Minimum bei einer Oper ohne besondere künstlerisch-technische Ansprüche an das Orchester. Wenn die Musik etwas kniffliger ist, sind es schon acht. 34 hat Erich Kleiber für die Uraufführung des Wozzeck durchgeführt. Die waren nicht alle mit dem gesamten Orchester, sondern er hat sich mit den einzelnen Stimmgruppen gesondert getroffen. Wenn das Orchester mit seiner Einstudierung fertig ist, werden zum ersten Mal Stimmen und Orchester zusammengefügt. Und zwar nur die Musik, die Sänger spielen jetzt nicht ihre Rollen, wie sie es in den Probebühnenproben und auf der Bühne einstudiert haben, sondern sie kommen in den Orchesterprobensaal, wo für jeden von ihnen ein Stuhl bereitsteht. Voilà: Orchestersitzprobe. Ich habe allerdings nie einen Sänger oder eine Sängerin erlebt, die es während der ganzen Probe auf dem Stuhl ausgehalten hätte. Gesessen wird eigentlich nur, wenn gerade nicht gesungen wird. Bei besonders anspruchsvollen Parituren oder bei besonders langen Opern kann es auch zwei Orchestersitzproben geben. Der Tag, wo die Sängerinnen und Sänger alle auf der Sitzprobe sind, könnte für den Regisseur langweilig werden. Wird er aber nicht, denn inzwischen wurde die Dekoration auf der Bühne fertig eingerichtet und der Regisseur kann mit dem Bühnenbildner und einem eventuell dazu geholten »Light-Designer« die Beleuchtungsproben durchführen. Es wird hier genau festgelegt, welche Beleuchtungsstimmung zu welchem Zeitpunkt gefahren werden soll. Alles wird in einem Beleuchtungsauszug (einem nur dazu verwendeten Klavierauszug der Oper) festgelegt. Der Beleuchtungs-Assistent richtet diesen Auszug ein; er wird später in den Aufführungen auch den Beleuchtern die »Cues« geben, ihnen genau ansagen, wann sie das entsprechende Knöpfchen drücken sollen, das die Intensität der einzelnen Beleuchtungskörper so verändert, dass ein Beleuchtungswechsel stattfindet. Diese Proben sind sehr anstrengend, weil sie sich über mehrere ganze Tage ausdehnen.

Jetzt, nach der Orchestersitzprobe geht es Schlag auf Schlag. Bühnenproben finden nun mit Orchester statt, »Orchester-Bühnenproben«. Vier ist auch hier eine Mindestzahl, mit der man rechnet; bei einer dreiaktigen Oper macht das je eine Probe für jeden Akt und noch eine letzte, wo man vielleicht durch das ganze Werk kommt. Wieder gilt aber, je komplexer und je länger das Werk ist, desto mehr Bühnenorchesterproben braucht es. Danach kommt, was im Englischen Dress Rehearsal genannt wird und was in der Praxis drei Stufen kennt. Klavier-Hauptprobe, Hauptprobe und Generalprobe. Früher gab es wohl nur Haupt- und Generalprobe. Es hat sich aber herausgestellt, dass es unpraktisch ist, den gesamten technischen Ablauf mit alen Beleuchtungsstimmungen und allen Podienfahrten, Verwandlungen etc. zum ersten Mal in einer Orchesterprobe auszuprobieren. Es geht auf der Bühne in jedem Fall, wie gut auch bis dahin geprobt wurde, so viel schief, dass das Orchester dauernd am Warten wäre, bzw. Stellen unendlich wiederholen müsste, die musikalisch schon längst Routine sind. Deswegen wird diese erste Hauptprobe nur mit Klavier begleitet. Tariflich korrekt heißt sie »Durchlaufprobe in Kostüm und Maske«, denn zwei Hauptproben kann es nach der Logik des Tarifvertrages nicht geben. Nach der Hauptprobe kommt nur noch die Generalprobe. Die Generalprobe findet wie die Premiere mit Publikum statt. Das sind allerdings nur geladene Gäste, Mitglieder des Hauses, Mitgieder des Förderkreises etc. Die Generalprobe ist immer noch eine Probe, sie kann jederzeit unterbrochen werden vom Dirigenten oder vom Regisseur, wenn es etwas zu korrigieren gibt. Die Sänger dürfen sich auch schonen, d. h. sie können von Zeit zu Zeit »markieren«, also nicht mit voller Lautstärke singen, damit sie ihre Reserven für die Premiere aufbewahren. Der Abend der Premiere zeigt dann, ob sich der ganze Aufwand, die monate- und jahrelangen Vorbereitungen, die sechs- bis achtwöchige Probenzeit gelohnt haben, ob das Publikum es honoriert.

Eine kleine Bemerkung zu den drei Beiträgen Wie entsteht eine Oper?: Der Einfachheit halber ist immer von Regisseur, Dirigent, Komponist die Rede, alles gilt jedoch genauso für die leider immer noch viel zu wenigen nicht-männlichen Ausübenden dieser Berufe.

Morgen also geht es weiter mit den »Zehlendorfer Operngesprächen«. Wenn Sie Fragen zu diesem Text haben, stellen Sie sie doch gleich am Anfang im Chat.

Bis dann, Curt A. Roesler

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