Opern werden nur komponiert, wenn es dafür auch eine Aufführungsmöglichkeit gibt, oder diese wenigstens geschaffen werden kann. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber die berühmteste Ausnahme, Richard Wagner, ist eben kein typisches Beispiel für einen Opernkomponisten. Er hatte eine ganz genaue Vorstellung davon, wie seine Opern aufgeführt werden sollten, und diese konnten in einem »normalen« Opernhaus in der Regel nicht realisiert werden. Deswegen musste er für den Ring des Nibelungen das Festspielhaus in Bayreuth errichten. Im 19. Jahrhundert (und auch im 20.) gibt es noch eine Reihe weiterer Komponisten, die Werke (nicht nur Opern, auch Sinfonien) »für die Schublade« komponierten, also dafür, dass sie aufgeführt werden, »wenn die Zeit dafür gekommen ist.« Das ist die Ausnahme, aber es passt in das romantische Bild des »verkannten Künstlers« oder des »armen Poeten« (über die »poêtes maudits« sprachen wir im Zusammenhang mit Pierrot lunaire und seinen symbolistischen Wurzeln). Die Regel ist, dass es einen Auftraggeber gibt, denn das Komponieren einer Oper ist durchaus mit größerem Aufwand verbunden, als etwa das Komponieren eines Kammermusikwerks. Schon allein die Schreibarbeit von bis zu 600 Partiturseiten nimmt einige Zeit in Anspruch. Und diese Zeit muss finanziert sein. Mozart ist bei der Schreibarbeit eine Ausnahmeerscheinung. Wollte ein Notenkopist alle Werke Mozarts abschreiben, würden ihm 35 Lebensjahre wahrscheinlich nicht reichen. Mozart muss ein unglaubliches Tempo dabei gehabt haben. Aus seinen Briefen wissen wir, dass er nicht beim Schreiben komponiert hat, sondern dass er erst angefangen hat, etwas aufzuschreiben, wenn der Komponiervorgng bereits abgeschlossen war. Sein Hirn komponierte ständig, beim Kegeln, beim Billardspielen, im Gottesdienst, wo auch immer er sich aufhielt. Aber auch Mozart hat einige Fragmente hinterlassen von Opern, für die es keinen Auftrag gab. Das genau ist der Grund, dass er sie nicht zu Ende komponiert hat. Auch für ihn lohnte es sich nur, eine Oper zu komponieren, wenn er dafür auch einen Auftrag hatte.
Ein Auftraggeber in der Oper ist wie ein Produzent beim Film. Er hat ein bestimmtes Publikum im Visier, dem er das Werk präsentieren will. Und zwar unabhängig davon, ob er Geld damit verdienen will, wie die Impresarii des 18. und 19. Jahrhunderts, oder ob er nur seinen Reichtum und seine Macht zur Schau stellen will, wie die Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts. Es sollen ja möglichst viele Leute kommen und sie sollen sich möglichst so gut unterhalten, dass sie das nächste Mal wieder kommen. Das ist nicht unbedingt auch das Ziel des Komponisten und er muss von Fall zu Fall seine Interessen, die mehr die künstlerische Qualität, unabhängig von der Wirkung auf das breite Publikum, zum Ziel haben, gegen den Auftraggeber durchsetzen. Wie der Regisseur im Film gegen den Produzenten.
Die »Académie royale de musique«, die Pariser Opéra im 19. Jahrhundert, hatte es zum Prinzip erhoben, die besten Künstler ihres Fachs zusammenzubringen für diese komlpexe Kunstform Oper. Dichter, Musiker, Maler, Architekten, Sänger, Tänzer. Es fällt uns heute auf, dass von Regie hier nicht die Rede ist. Was heute die Aufgabe des Regisseurs ist, war im 19. Jahrhundert in die Kompetenz der Autoren gelegt. Librettist und Komponist überwachten die Proben, allenfalls von einem Tanzmeister unterstützt, der auch die Sänger von seiner Erfahrung mit der Pantomime profitieren lassen konnte.
Dichter und Musiker sind die Autoren der Werke, ihre Arbeit nimmt am meisten Zeit in Anspruch. Im frühen 19. Jahrhundert heißt das: ein paar Wochen, ein paar Monate. Später sind es dann schon mindestens ein Jahr oder auch mehrere Jahre. Von den Opern, die in der letzten Zeit an der Deutschen Oper Berlin zur Uraufführung kamen, hat keines von der Konzeption und dem Auftrag bis zur Premiere weniger als fünf Jahre verschlungen. Natürlich haben die Komponisten in der Regel daneben noch etwas anderes gemacht, unterrichtet zum Beispiel oder eben kleinere Werke, für die sie nebenbei noch einen Auftrag entgegengenommen hatten, komponiert und zur Aufführung gebracht. Es gab Komponisten, die sich mit zu vielen Aufträgen übernommen hatten, aber in der Regel waren die Jahre ganz mit konzentrierter Arbeit ausgefüllt. Klar, dass eine Oper wie L'Invisible von Aribert Reimann nicht in wenigen Wochen komponiert werden kann wie Il barbiere di Siviglia von Gioachino Rossini. Für die Buffo-Opern von Rossini gab es ein klares Formschema mit Ouvertüre, Introduktion, Rezitativen, Arien, Duetten, Terzetten und Finali. Und niemand wollte, dass dieses Schema radikal in Frage gestellt würde. Von Reimann – oder anderen zeitgenössischen Komponisten – hingegen wird erwartet, dass er mit jedem Werk die Oper quasi neu erfindet. Er muss für jeden Abshnitt eine Form suchen, möglichst eine, die noch nicht von vielen anderen ausgetreten ist. Spätestens seit Wagner ist das der Anspruch, den Komponisten an sich selber stellen. Wenn es ihnen gelingt, etwas ganz Neues zu erfinden, wie etwa Alban Berg mit Wozzeck, dann genießen sie auch in der Fachwelt ein hohes Ansehen.
Damit der Komponist überhaupt anfangen kann, muss ein Text vorliegen. Man spricht davon, dass er diesen Text, das Libretto, dann »vertont«. Kein so glücklicher Ausdruck, weil sie den Text zum Vehikel macht. Prima la musica poi le parole (»Zuerst die Musik, dann die Worte«) ist der ironische Titel einer opera buffa von Antonio Salieri, die den Ablauf fiktiv umdreht. Weil der Auftraggeber so sehr drängt, muss der Komponist schon komponieren, als der Dichter noch gar nicht angefngen hat. So fiktiv ist das aber gar nicht, denn Salieris berühmter Zeitgenosse Wolfgang Amadeus Mozart bestand darauf, dass die Poesie die treue Dienerin der Musik zu sein habe (»Bey einer Opera muss schlechterdings die Poesie der Musick gehorsame Tochter seyn«, 1781). Was allerdings auch bei seinen berühmten kongenialen Arbeiten mit Lorenzo da Ponte nicht dazu führte, dass der Ablauf umgedreht wurde. Auch da Ponte musste zuert den Text abliefern, und dann erst begann Mozart mit dem Komponieren, aber da Ponte wusste genau, welche Art von Text Mozart für welche Szene braucht. Mehr als ein habes Jahrhundert früher hat Pietro Metastasio seine Modell-Libretti veröffentlicht. Sie waren alle natürlich auch Auftragswerke und es gab eine Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Komponisten, aber die Texte wurden für so allgemeingültig gehalten, dass sie viele Male von anderen Komponisten zur Vorlage genommen wurden. Für die fürstlichen Auftraggeber hatte das den angenehmen Effekt, dass sie nur den Komponisten und nicht den Librettisten bezahlen mussten. Eine verbindliche Tantiemenregel gab es da nämlich noch nicht.
»Erfunden« wurde die Oper um 1600 in Florenz von Dichtern und Komponisten gemeinsam in einem Fürstenzirkel mit interessierten und vermögenden Laien. Vorbild waren einerseits die antiken Tragödien, die man in der Renaissance gerade wiederentdeckt hatte, und andererseits die Hirtendichtung des 15. und 16. Jahrhunderts, die sich ebenfalls auf die Antike bezog. Orfeo von Monteverdi behandelte ein antikes Thema (den Orpheus-Mythos) in moderner Form, eingebettet in ein Renaissance-Arkadien, mit Chören und unter Verwendung der neuesten musikalischen Technik der Monodie, also des Sologesangs mit einer einfachen Begleitung. Alles zur fürstlichen Unterhaltung am Hof von Mantua. Ganz anders sind die letzten Opern von Monteverdi, die er für Venedig schrieb und für seine neuen Theater, die dem zahlenden Publikum zugänglich waren und nicht nur eingeladenen Adligen. L'Incoronazione di Poppea ist ein Intrigenstück mit ausgedehnten komischen Szenen – wie Shakespeare, aber mit der Musik von Monteverdi als Hauptsache.
»Jeder Jeck is anders« sagen die Rheinländer und auch jede Oper ist anders, selbst da, wo die Tendenz zur Massenproduktion geht, in der italienischen Oper Metastasio-Zeit oder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Buffo-Opern nicht nur von Rossini, unterscheiden sich die Meisterwerke gerade dadurch, dass sie nicht in allem dem Schema folgen. Der Streit zwischen Dichtern und Komponisten um die Vorherrschaft nimmt gelegentlich die Dimensionen des Investiturstreits an. Manche Opernproduktion endete mit einem Krach. Manchmal wird, um dies zu übertünchen, ein Libretto gedruckt, das nicht den in der Oper gesungenen Text wiedergibt, sondern den vom Librettisten vorgegebenen und bis zum Ende mit Zähnen und Klauen verteidigten. In diesen Zusammenhang gehört auch der »Buffonistenstreit«, in dem es vordegründig um die Frage ging, ob die französische Sprache überhaupt für den Gesang geeignet sei. Ausgetragen wurde er von den Traditionalisten, die sich im Theater unter der Loge des Königs trafen, der die französische »tragédie lyrique« liebte und den Modernisten, die sich unter der Loge der Königin trafen, die die italienische »opera buffa« und speziell La serva padrona von Pergolesi liebte.
Neben da Ponte und Mozart gibt es noch zwei Gespanne von Librettist und Komponist, die besonders erfolgreich die Balance zwischen Text und Musik hielten, Arrigo Boito und Giuseppe Verdi sowie Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Beide Gespanne haben umfangreiche Briefsammlungen hinterlassen, die man mit Gewinn nachlesen kann. Von Mozart und da Ponte gibt es das nicht, sie lebten ja beide gleichzeitig in Wien und konnten sich in persona austauschen. Dennoch kann man in den Briefen von Mozart viel darüber lesen, was er von Librettisten erwartete. Man findet es in Brefen an seinen Vater, die er z. B. während der Produktion des Idomeneo von München aus schrieb, und deren Zweck war, dass Leopold Mozart mit dem Librettisten, er ebenfalls noch in Salzburg verweilt, verhandelte. Aus einem dieser Briefe ist das Zitat oben. Und das 1781 in München gedruckte Libretto stimmt nicht mit der Partitur überein.
Richard Wagner ist einer der wenigen Komponisten, die sich ihre Libretti selber schrieben. Aber auch bei ihm ist der Ablauf klar vorgegeben: 1. Prosaskizze, 2. Libretto, 3. Komposition der Singstimmen mit Begleitung des Klaviers (und Andeutungen der intendierten Instrumentation), 4. Partiturreinschrift. Das ist aber rein technisch zu verstehen. Es ist vollkommen klar, dass er in dem Moment, wo er die ersten Worte vom Rheingold »Weia! Waga! Woge du Welle« niederschrieb, schon eine genaue Vorstellung der Musik hatte.
Ich hatte einmal eine berühmte Filmautorin in meinem Büro, die ein Libretto für eine Kinderoper geschrieben hatte. Sie sang mir das Libretto vor. Auf meine Frage, was denn ein Komponist jetzt noch hinzufügen solle, war sie ganz verdattert. Was mich aber vor allem störte, war dass ihre Art zu singen ganz und gar nicht zu dem Stil des Komponisten passte, dem ich das Libretto eigentlich anvertrauen wollte. Außerdem störte mich, dass ihre Vorstellung von Musik den erwähnten Vorrang der Musik, den u. a. Mozart formulierte, überhaupt nicht respektierte. Natürlich bedeutet die Forderung von Mozart in gewisser Weise eine Umdrehung der Verhältnisse, und natürlich hätten sich einige der berühmtesten Librettisten, Apostolo Zeno, Pietro Metastasio, Felice Romani etc. bekreuzigt, wenn sie so etwas hören mussten, aber diese Utopie ist die Grundlage für ein erfolgreiches Text-Musik-Gespann. Es erklärt auch ein wenig, wieso Texte, die – nur vorgelesen – banal oder absurd wirken, aber die Grundlage für eine erfolgreiche Oper bilden, wie etwa (oft angeführtes Beispiel) Il Trovatore. Und wenn wir schon bei Verdi sind, er hat bei Aida, als sein Librettist Antonio Ghislanzoni gar nicht in die Gänge kam, Teile des Schlussduetts komponiert, bevor er die Worte dafür bekommen hatte.
Die Partitur einer Oper ist gewissermaßen eine Momentaufnahme eines Kunstwerks, das im Kopf des Komponisten entstand, das aber erst im Moment der Aufführung im Theater zum Ereignis wird. »Die Partitur ist die Bibel«, sagte mein Lehrer Hans Swarowsky. Er meinte das zwar in Bezug auf sinfonische Werke und als Aufforderung für den Dirigenten, aber die Partitur sollte auch für Regisseure und Dramaturgen die Bibel sein. Und genau so wie die Bibel der Exegese bedarf, bedarf die Partitur der Ausdeutung. Und so wie der Theologe den Bibeltext in den historischen Zusammenhang stellen, und ihre historischen Schichten auseinanderhalten muss, muss man die historischen Schichten einer Partitur auseinanderhalten. Eine Opernpartitur vereinigt bis zu fünf Zeitebenen, die weit auseinander liegen können, oder auch nah beieinander. Da ist zunächst einmal die Zeit, in der – oberflächlich gesagt – »die Oper spielt«. Bei Aida ist das die Zeit der Pharaonen. Das ist nicht sehr präzise zu fassen, denn die Pharaonen regierten über Jahrtausende. Bei der Götterdämmerung ist es die Zeit, in der die Burgunden am Rhein siedelten, und wenn man dann noch die Partie des Gunther mit dem König Gundahar gleichsetzt, so ist der Zeitraum sehr überschaubar, sein Untergang vollzog sich in den Jahren 435 und 436. Die zweite Zeitebene wird bestimmt von der Zeit, in der die literarische Vorlage niedergeschrieben wurde, das wäre dann das Nibelungenlied, das wurde um 1200 geschrieben. Gunther benimmt sich im Nibelungenlied so, wie sich Könige um diese Zeit benahmen, keiner der Autoren hatte genaue Kenntnis über die Lebensumstände von 435. Als dritte und vierte Zeitebene kommen dann die Zeit, in der das Libretto und die Musik geschrieben wurden ins Spiel. In aller Regel fallen diese Ebenen natürlich in eins, aber es gibt Ausnahmen – auch bei der Götterdämmerung klafft eine erhebliche Lücke zwischen der Niederschrift von Siegfrieds Tod (1848) und der Komposition (1870–1872) und das ist zu spüren. Als Wagner den ersten Text niederschrieb, hatte er gerade Lohengrin vollendet und sein Ideal war immer noch die französische »opéra«, erst nachdem er in Paris Meyerbeers Le prophète gesehen hatte, wurde ihm klar, dass er einen grundsätzlich anderen Weg gehen musste. Als letzte Zeitebene spielt noch die Zeit eine Rolle, in der das Werk aufgeführt wird. Bei Aida fallen die zweite, dritte und vierte Zeitebene zusammen, Auguste Mariette schrieb seine Erzählung, die er auch schon als Oper aufgeführt sehen wollte 1869 und im gleichen Jahr ging das an Ghislanzoni und Verdi, die sich sofort an die Arbeit machten. 1870 waren sie fertig, aber weil in Frankreich gerade Krieg herrschte, konnten die in Paris hergestellten Dekorationen nicht nach Kairo kommen, die Uraufführung musste bis 1871 warten, das ist aber nicht so lange, dass man die fnfte Zeitebene noch besonders herausheben muss.
Soviel für heute, Fortsetzung folgt, Curt A. Roesler
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