Mittwoch, 16. September 2020

Schönberg und Becket

Pierrot lunaire dauert, auch wenn man Verschnaufpausen und pantomimische Überleitungen einrechnet, deutlich weniger als eine Stunde. Ein ganzer Theaterabend ist das auch unter Corona-Bedingungen nicht. Es stellt sich also die Frage, mit was man das Melodram Schönbergs kombinieren kann. Anders als bei dem Monodram Erwartung, für das sich bereits eine Kombination mit Béla Bartóks Herzog Blaubarts Burg etabliert hat, gibt es für Pierrot lunaire noch keinen solchen Standard. Allerdings ist Pierrot lunaire auch nicht als szenische Musik konzipiert und im Konzert ist eine wechselnde Kontrastierung weniger gewöhnungsbedürftig. Da kann man das Kammerensemble zur Grundlage machen und die Musiker ohne die Sprechstimme noch Hanns Eislers Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben spielen lassen. Oder, wenn man eine Sängerin und nicht eine Schauspielerin für Pierrot lunaire hat, kann man sie als Kontrast die Folk Songs von Luciano Berio singen lassen. Das DSO hat vor nicht allzu langer Zeit im Musikinstumentenmuseum eine Kombination von Pierrot lunaire mit der Geschichte vom Soldaten von Strawinsky gespielt. Für einen Theaterabend sind die beiden Werke vielleicht zu stark in ihrer Eigenwilligkeit. Es kömen andere Werke der frühen Moderne in Frage, Werke, die die »Commedia dell'arte« und speziell die Figur des Pierrot thematisieren. Die schon erwähnte Oper Arlecchino oder Die Fenster von Ferruccio Busoni böte sich an, oder eine Pantomime von Artur Schnitzler Der Schleier der Pierrette. 1910 in Dresden uraufgeführt mit Musik von Ernst von Dohnányi. Pierrot begeht darin Selbstmord aus Liebeskummer, als Pierrette ihn im Brautschleier auf dem Weg zur Hochzeit mit Arlecchino besucht. Mit ihrem Schleier und nur für sie sichtbar erscheint Pierrot auf der Hochzeit. Sie umtanzt ihn, bis sie entseelt zusammenbricht. Oder natürlich Pulcinella von Strawinsky, das ist die neapolianische Variante der »Commedia dell'arte«.

Wenn man bei YouTube nach Ton- und Filmdokumenten mit Schönbergs Pierrot lunaire sucht, findet man meist Interpretationen von Opernsängerinnen, Anja Silja etwa oder Christine Schäfer. Schauspielerinnen sind kaum vertreten, obwohl das Werk ja im Auftrag einer Schauspielerin entstand. Albertine Zehme hatte zwar auch musikalische Studien betrieben, sie studierte Wagner-Partien mit Cosima-Wagner ein, aber aufgetreten ist sie nur als Schauspielerin, eine (erste) Abschiedsvorstellung (bevor sie einen Rechtsanwalt heiratete) gab sie 1882 als Oberon in Shakespeares Sommernachtstraum in Leipzig. Später waren ihre Spezialität Rezitationsabende, bei denen sie Gedichte zu Kammermusik vortrug.

Mit Dagmar Manzel hat Barrie Kosky nun eine Schauspielerin zur Verfügung, und daher hat er zur Vervollständigung des Abends ganz woanders gesucht. Und fand sie bei Samuel Beckett, dessen experimentelle Texte Nicht Ich und Rockaby nun dazu kommen. Die Inszenierungsidee Becketts für die Uraufführung war, dass die Bühne in vollkommener Dunkelheit bleibt und nur der Mund der Schauspielerin zu sehen ist. Das ist als Ergänzung zu Schönberg und Giraud sicher weniger problematisch als alle schon angegebenen und ausprobierten Kombinationen, weil nichts die Musik Schönbergs beeinflussen kann.

Bei YouTube gibt es eine sehr gute Einführung zu Schönbergs Pierrot lunaire. Der kanadische Komponist Samuel Andreev analysiert exemplarisch einige der Gedichte und sagt auch ein paar grundsätzliche Dinge zu der Komposition. Nur tut er das natürlich in englischer Sprache und das auch nicht in kanadischer Gemütlichkeit, sondern sehr beschwingt. Es ist also nicht ganz einfach, ihm zu folgen, grundsätzliche Kentnisse im Notenlesen wären ganz vorteilhaft und eninige Begriffe wie »harmony«, »melody«, »atonality« sollten schon geläufig sein. Wer sich von all dem micht abschrecken lässt: hier ist der Link. Wie bei der Walküre gibt es auch vom Pierrot lunaire eine Tonaufnahme zu der die Noten ablaufen, hier.

Vom Orchester begleitetes gesprochenes Wort ist seit dem 18. Jahrhundert verbreitet. Jean-Jacques Rousseau »erfand« das Melodram als eigene Kunstform. In die Oper übertragen kennen wir es etwa aus Fidelio und aus dem Freischütz. Dort ist der Sänger oder Schauspieler allerdings sogar in der rhythmischen Gestaltung ganz frei, Tonhöhen werden ohnehin nicht vorgegeben. Den Sprechgesang, wie er bei Schönberg und seinen Schülern verbreitet ist und wie er in Pierrot lunaire exemplarisch ausgearbeitet ist, ist eine jüngere Erfindung. Und die Notation mit zu kleinen Kreuzen geschrumpften Noten ist nicht etwa Schönbergs Erfindung, sondern die eines anderen Komponisten, den wir recht gut kennen, Engelbert Humperdinck. Wir kennen von ihm allerdings nur ein Werk, in dem Sprechgesang nicht vorkommt, Hänsel und Gretel. Ganz selten wird auch die Oper von ihm gespielt, die 1910 an der New Yorker Met uraufgeführt wurde, Königskinder. Auch hier gibt es keinen Sprechgesang, aber Königskinder hatte wie auch Hänsel und Gretel einen Singspiel-Vorgänger, das 1897 in München uraufgeführte Melodram Königskinder. Ein großer Erfolg war dem Melodram übrigens nicht beschieden im Gegensatz zu der Oper. Die Kritiker konnten mit dem Sprechgesang (und vor allem mit dem als schwülstig empfundenen Text der Schwester des Komponisten) nichts anfangen. Auch Schönbergs Anwendung dieser ungewohnten Darstellungstechnik (vor Pierrot lunaire verwendete er den Sprechgesang schon in Gurrelieder) stieß bei den Traditionalisten auf Ablehnung. Aber allmählich setzte sich der nun »Schönbergsch« genannte Sprechgesang durch und ist heute vor allem ein Merkmal seiner Kompositionen und der seiner Schüler.

Pierrot lunaire ist nicht die erste »atonale« Komposition von Schönberg, aber eine, in der er die neu entdeckte Befreiung vom Zwang einer Tonartfestlegung weit ausbreitet. Wesentliche Anregungen dazu (»atonal« lehnte Schönberg als Begriff ab) hatte er 1908 aus der Partitur von Elektra von Richard Strauss empfangen. Pierrot lunaire gehört zu den Werken der Phase, die die Musikwissenschaft als Phase der »freien Atonalität« bezeichnet, und die 15 Jahre (von 1908 bis 1923) dauerte, bis Schönberg die »Methode mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« zu komponieren (kurz die »Zwölftonmusik«) entwickelte. Aber die Prinzipien der Variation, der Umkehr von Intervallen und des Krebsgangs, also der Wiederholung einer Melodie im Rückwartsgang, sind auch hier schon zu beobachten. Die formale Strenge der Gedichte war hierzu besonders anregend. 

Bis heute Abend, Curt A. Roesler

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