Montag, 28. Oktober 2019

Alessandro Scarlatti

Nach dem schnellen Opern-ABC am vergangenen Mittwoch treffen wir uns nun wieder zu einem Werk des Barocks. Das Autograph des Oratoriums Cain ovvero Il Primo omicidio (1707) von Alessandro Scarlatti (1660–1725) liegt heute in San Francisco bei der State University in der Sammlung Frank V. De Bellis. Dorthin kam es nach dem zweiten Weltkrieg aus einer englischen Sammlung (das Faksimile ist hier zu sehen). Einsmals gehörte es Charles Rennens, dem Librettisten von Georg Friedrich Händels Messiah. 1936 war die Musikwelt erstmals in neuerer Zeit auf das Werk aufmerksam geworden, als der italienische Musikwissenschaftler Ulderico Rolandi drei unterschiedliche Librettodrucke des bis dahin völlig unbekannten Werks identifiziert hatte. Der vor etwa einem Jahr verstorbene italienische Dirigent, Komponist und Musikforscher Bruno Rigacci gab das Werk 1966 zusammen mit Mario Fabbri im Druck heraus und brachte das Werk in Siena zur modernen Erstaufführung, kurz bevor es auch in San Fancisco von einem dortigen Spezialensemble zu gehör gebracht wurde.
Für Musiker und Musikwissenschaftler ist es sehr schön, dass die Primärquelle (Scarlattis Handschrift ist kräftig gezogen und gut lesbar) zur Verfügung steht. Für alle, die nicht Noten lesen können allerdings ist es deutlich schwieriger, sich dem Werk zu nähern. Da es sich um ein Oratorium handelt, fällt es zwischen die Stühle. Scarlatti hat über 60 Opern geschrieben, die Opernführer haben schon Mühe, daraus diejenigen Titel auszuwählen, die repräsentativ sind. Deswegen ist Il primo omicidio in keinem der gängigen Bücher zu finden, obgleich das Werk seit seiner Wiederentdeckung vermutlich öfter in szenischer als in konzertanter Form aufgeführt wurde. In den Oratorienführern ist die Lage umgekehrt. Zwar hat Scarlatti auch über 30 Oratorien geschrieben, von denen 23 überliefert sind, aber er gilt eben als Opernkomponist. So ist er Kurt Pahlen in seinem Standardwerk Oratorien der Welt (zuletzt zusammen mit Werner Pfister 1985 herausgegeben) gerade einmal 11 Zeilen wert. Es gibt also Einiges zu Entdecken.
Die Geschichte aus Genesis 4:1–16 kann als bekannt vorausgesetzt werden. Der Librettist (Kardinal Ottoboni wird in der Regel genannt) gibt ihr allerdings seine eigene Färbung, die nicht nur in einem durch die Brille des Neuen Testaments gesehenen Schluss besteht, sondern auch von den musikalischen Voraussetzungen bestimmt ist. Die Form folgt dem, was später »neapolitanische Oper« genannt werden wird. Es ist eine Abfolge von Rezitativen und Arien bzw. Duetten. Die Rezitative sind mit wenigen Ausnahmen »secco«, also nur vom »Basso continuo« (Violoncello und Cembalo, eventuell auch Kontrabass und zusätzliche Akkordinstrumente wie Orgel, Laute etc.) begleitet. Die Arien sind ausschließlich »Da-capo-Arien« (fünfteilige Form, in der die ersten beiden Teile nach dem kontrastierenden Mittelteil wiederholt werden). Darin unterscheidet sich das Oratorium von den frühen Werken Scarlattis, wo zweiteilige und sprophische Arien vorherrschen. Am Anfang steht eine dreiteilige »Sinfonia« und auch später meldet sich das Orchester, das ausschließlich aus Streichinstrumenten besteht, noch mehrfach mit einer »Sinfonia« zu Wort. Streng hierarchisch geordnet ist etwa die Anzahl der Arien: der Hauptperson, Caino, stehen 6 Arien zu, Adamo 4. Die Exposition gib jedem der vier realen Personen je ein Rezitativ und eine Arie: Adamo, Eva, Abele, Caino. Adam und Eva reflektieren den Sündenfall, den sie bereits begangen haben und in unterschiedlicher Weise bereuen. Abel und Kain bereiten ihre unterschiedlichen Opfer (als Hirte und als Ackerbauer) vor. Der Ärger geht los, als die Stimme Gottes (die fünfte Singstimme) das Opfer Abels lobt und das Kains unerwähnt lässt. Kain ärgert sich und wird von der sechsten Singstimme (die Stimme Luzifers) zum Mordplan überredet. Damit endet der erste Teil. Im zweiten wird der Mordplan ausgeführt und Kain von der Stimme Gottes zur Rede gestellt, worauf gemäß der Bibel er antwortet: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Er wird zu ewiger Wanderschaft verdammt und erhält das Kainszeichen, was er nur bejammern kann. Abels Stimme erklingt nun auch nur noch aus dem Jenseits. Er berichtet seinen Eltern von seiner Glückseligkeit bei Gott. Die bejammern den Verlust ihrer beiden Söhne, aber im Duett-Finale verweisen sie auf die kommende Errettung der Welt durch das Blut Christi.

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