Mittwoch, 27. März 2019

»Poros«

Die Oper, um die es geht, trägt den Titel Poro, Re dell'Indie und ist vollständig in italienischer Sprache komponiert, wie es damals, 1731, in London üblich war trotz vieler Alternativen in englischer Sprache seit der Zeit Purcells. Schon in der ersten Aufführung in Hamburg, 1732 eingerichtet von Georg Philipp Telemann im Theater am Gänsemarkt, wurden die Sprachen gemischt: die Rezitative wurden deutsch gesungen, die Arien italienisch. Als im Zuge der Händel-Opern-Renaissance nach dem 2. Weltkrieg die Oper 1956 in Halle zur Wiederaufführung kam, war das keine Frage. Opern wurden grundsätzlich komplett in der Landessprache aufgeführt. Auch gab es für die Besetzung von Kastraten-Partien nur zwei Möglichkeiten: entweder wurden sie zu »Hosenrollen«, interpretiert also von Sopranen bzw. Mezzosopranen, oder sie wurden um eine Oktave transponiert und von Tenören bzw. Baritonen gesungen. Für einige Baritone wie z. B. Dietrich Fischer-Dieskau entstanden daraus neue Glanzpartien wie Julius Cäsar in Giulio Cesare in Egitto von Händel oder Orpheus in Orfeo ed Euridice von Gluck. Die Titelpartie in Poro, Re dell'Indie, geschrieben für den Alt- bzw. Mezzosopran-Kastraten Senesino wurde in Halle Günter Leib anvertraut. Diese Traditionslinie setzt sich in der Aufführung an der Komischen Oper fort, auch wenn es heute Countertenöre und Altisten gibt, die solche Partien übernehmen können. Auch die Indianisierung der Namen (aus Cleofide wird Mahamaya, aus Erissena Nimbavati und aus Gandarte naheliegenderweise Gandharta) nahm schon dort ihren Ausgang.
Der Wechsel der Geschlechter ist nicht ganz so werkverfremdend, wie man auf Anhieb glauben möchte. Von Händel gibt es nicht weniger als vier Fassungen des Poro, die wegen wechselnder Besetzungen so entstanden sind wie wir sie jetzt überliefert haben. Und hier können wir schon sehen, dass die Geschlechter wechseln können. Eine Mezzosopranistin oder Altistin kann auch eine Kastraten-Partie übernehmen. Und umgekehrt, das zwar nicht bei Händel, aber bei Leonardo Vinci. Bei der Uraufführung des Alessandro nelle Indie von Pietro Metastasio in der allerersten Vertonung 1730 in Rom wurden alle Partien, von Männern gesungen. Im »Teatro delle Dame«(!) durften nämlich keine Frauen auftreten. Also wurde Gandarte von einem Tenor gesungen und alle anderen Partien, auch die zwei weiblichen, von Kastraten. Zurück zu Händel: Die für einen Alt-Kastraten konzipierte Partie des Gandarte wurden der Uraufführung von der Altistin Francesca Bertolli gesungen. Diese rückte in der Wiederaufnahme der Oper im Herbst 1731 zur Erissena auf. Ein Problem war die Besetzung des Timagene. Der Sänger, den Händel zur Uraufführung zur Verfügung hatte, taugte offenbar nicht viel. Er bekam keine einzige Arie zu singen und auch seine szenischen Auftritte ohne Arie wurden reduziert. Dass die Partie dadurch etwas unverständlich wurde, setzt sich offenbar bis heute fort, obwohl Händel schon zur ersten Wiederaufnahme einen besseren Sänger hatte, für den er dann drei Arien hinzukomponierte. Seltsamerweise hat er dafür aber nicht die ursprünglich dafür vorgesehenen Texte von Metastasio genommen, sondern andere, bereits fertig komponierte (von ihm selbst, aber auch von anderen). Alessandro wurde ursprünglich von einem Tenor gesungen, 1736 wurde daraus aber eine Sopranpartie für einen Kastraten, die Besetzung in der Komischen Oper mit einem Countertenor hat also auch eine gewisse Berechtigung, wenngleich es schade ist, dass hier eine der ältesten Tenor-Hauptpartien nicht realisiert wird. In Halle war es immerhin Werner Enders.
Und jetzt: Die Handlung. Oweh! Die Handlung einer »opera seria« nachzuerzählen, ist schwer. Es beginnt damit, dass die »opera seria« eine epische Form des Theaters ist. Auch wenn viele Bemühungen existierten, sie etwa den »aristotelischen« Prinzipien der Einheiten der Zeit, des Orten und der Handlung zu unterwerfen. Diese Prinzipien sind eher Prinzipien der französischen Klassik, als der Antike. Und aus der französischen Klassik kommt auch die Hauptanregung zu Alessandro nell'Indie, aus Alexandre Le Grand (1665) von Jean Racine. Auch wenn eine konsekutive Handlungsführung erkennbar ist. Das Wesen der »opera seria« erfüllt sich in der Abfolge der Arien, die alle (mit ganz wenigen Ausnahmen) Da-capo-Arien sind. Und die Arien stehen ausschließlich am Ende einer Szene, die Figur geht nach der Arie ab. Die fünfteilige Form der Da-capo-Arie ist extrem retardierend, weil nach dem Mittelteil der komplette Anfang wiederholt wird. Außerdem ist eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Arie durch die anderen Figuren quasi ausgeschlossen, weil die Person, um die es geht, ja schon weg ist. Jede Arie vertritt einen »Affekt« (Freude, Liebe, Zorn, Eifersucht, Rache etc.), der Spannungsbogen ergibt sich aus der Abfolge der Arien. Manche Komponisten wie Händel sorgen auch für Spannung innerhalb einer Arie, indem sie die Konvention, pro Arie nur einen Affekt zu behandeln sprengen und widerstreitende Gefühle innerhalb einer Person darstellen. Eine »opera seria« ist immer dreiaktig, der erste Akt ist die Exposition, der zweite die Peripetie und der dritte bringt die Katastrophe, die allerdings meist in ein »Happy Ending« führt. Insgesamt enthält eine »opera seria« in der Regel eine Sinfonia und rund 30 durch Rezitative vorbereitete Arien und einen Schlusschor, der von den Solisten gesungen wird. Die Arien werden dem Rang entsprechend verteilt. Der Herrscher, der am Ende Milde walten lässt und alles versöhnt, oder Platz macht für einen Nachfolger, hat sechs Arien. die zwei adligen Paare, die unter ihm stehen, und die in Liebeshändel verstrickt sind, in die der Herrscher mitunter auch eingreift, haben jeder mindestens vier, das bedeutendere Paar aber fünf Arien. Die Nebenpersonen, sofern sie auch adlig sind, erhalten bis zu drei Arien. Duette sind äußerst selten und stehen, wenn schon, meist am Ende des ersten und / oder zweiten Aktes. Noch seltener sind Ensembles wie Terzette oder Quartette, die gibt es dafür in der »opera buffa« zu Hauf.
Händel reduzierte die Anzahl der Arien, die Metastasio gedichtet hatte, von 30 auf 23 und kürzte die Rezitative radikal. Spätere Fassungen enthalten dann (wenn Timagene seine drei Arien bekommen hat) bis zu 26 Arien. Zu den zwei Duetten von Cleofide und Poro von Metastasio kommt noch ein kurzes Duett ganz am Schluss. Der erste Akt enthält neun Arien, eine »Sinfonia« für den (zweiten) Auftritt Alessandros und das abschließende Duett, in dem Poro und Cleofide keineswegs einig sind, sondern sich gegenseitig Verrat vorwerfen. Der zweite Akt enthält sechs Arien, das zweite Duett Cleofide–Poro und eine auch von Metastasio vorgesehene »Sinfonia di strumenti militari« für den Auftritt Gandartes. Der Rest verteilt sich auf den dritten Akt.
In Kürze, und um halbwegs den Überblick zu behalten, 1. Akt: Poro ist verzweifelt, weil sein Heer von Alessandro geschlagen wurde, am Selbstmord hindert ihn sein Feldherr Gandarte, aber er wird trotzdem gefangen genommen. Ab jetzt gibt er sich als Asbita, einen Untertanen Poro's aus. Alessandro lässt ihn wie auch Erissena (seine Schwester, was aber kaum einer weiß) frei. Alessandros Feldherr Timagene wird von ihr zurückgewiesen, denn sie liebt heimlich Alessandro. Poro ist zu seiner Geliebten, Cleofide, geflohen, die bereits diplomatische Beziehungen zu Alessandro aufgenommen hat. Er rast vor Eifersucht, aber sie beruhigt ihn und er schwört, sich zu beherrschen. Als Cleofide von Alessandro in seinem Zelt empfangen wird, bricht Poro's (Asbites) Eifersucht wieder voll durch. Den Anfang des Duetts machen ironische Zitate der Arien des jeweils anderen, in denen sie sich Treue geschworen haben, aus. – 2. Akt: Nach einem erneuten gescheiterten Versuch, die Makedonier auf dem Feld zu besiegen, muss Poro wieder zu Cleofide fliehen.  Wieder schwören sie sich ewige Treue, wieder wird er als Abbitte gefangen genommen, jetzt aber nicht begnadigt. Zur Hinrichtung kommt es aber nicht, weil Timagenes ihn frei lässt. Die Krieger Alessandros wollen Cleofide umbringen, aber dieser rettet sie. Gandarte gibt sich jetzt als Poro aus, um an dessen Stelle hingerichtet zu werden. Die Täuschung fliegt aber auf, als sich die Nachricht verbreitet, der echte Poro sei im Ganges ertrunken.
3. Akt: Poro, der ja keineswegs tot ist, hat sich mit Timagene gegen Alessandro verbündet. Cleofide tut so als ob sie Alessandro heiraten wolle, hat aber Anderes im Sinn. Das Komplott wird aufgedeckt, aber der überaus milde Alessandro begnadigt Timagene. Poro (immer noch als Asbite) hat nun erneut Grund zu Eifersucht. Aber Cleofide will Alessandro gar nicht heiraten, sondern das Freudenfeuer zur Witwenverbrennnung nutzen. (Dass sie mit Poro noch gar nicht verheiratet war, ist ein unwichtiges Detail.) Der Schluss ist dann eine Doppelhochzeit: Alessandro vereint Cleofide mit Poro und Erissena mit Gandarte.

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