Dienstag, 15. Januar 2019

La sonnambula

Ganz frei von Voyeurismus ist das Verhältnis zwischen Zuschauer und Darsteller in keiner Epoche der Theatergeschichte. Schließlich repräsentiert der Sänger, Schauspieler oder Tänzer etwas, das den Rezipienten direkt etwas angeht, meist geheime Wünsche oder Gedanken. Der Grad dieses Voyeurismus lässt durchaus auch Rückschlüsse auf eine Gesellschaft als Ganzes zu. Was also ist von einer Gesellschaft zu haben, in der plötzlich die Bühnen voll werden von Schlafwandlerinnen? Noch dazu von Schlafwandlerinnen, die sich in ihrer äußeren Erscheinung alle ähneln in der Abweichung von der Norm. Um die Tänzerinnen, Sängerinnen und Schauspielerinnen als Schlafwandlerinnen kenntlich zu machen, tragen sie ein weißes Nachtgewand, das niemand in Gesellschaft tragen würde. Die Haare sind gelöst und wallend, Arme und Beine sind nackt, was sich ebenfalls nicht schickt, auch nicht auf der Bühne, was aber – insbesondere bei Tänzerinnen – die Möglichkeit bietet, das Mittel des Ausdrucks in den Vordergrund zu stellen. Offensichtlich gibt es in Paris gegen Ende der Restaurationsepoche besonders im Jahr 1827 eine Massierung von Schlafwandlerinnen auf der Bühne. In einem Theaterjournal wird sogar zu einem Regenschirm geraten, wenn man nicht von einer von der Bühne herabfallenden Schlafwandlerin getroffen werden möchte.
Im Zentrum steht das erwähnte Ballett La somnambule ou L'arrivée d'un nouveau Seigneur von Eugène Scribe mit der Musik von Ferdinand Hérold. Dass sich bis heute kaum jemand eingehend mit dieser Musik befasst hat, und dass es auch keine Wiederbelebung im 20. Jahrhundert gegeben hat (wie bei Giselle oder La Sylphide), mag daran liegen, dass die Musik nicht den Kriterien einer »Originalpartitur« entspricht. Hérold bearbeitete populäre Melodien und Opernausschnitte, namentlich von Rossini. Nicht anders verfuhr George Balanchine, als er 1946 The Night Shadow choreographierte: Er ließ von Vittorio Rieti eine Partitur aus Bruchstücken von verschiedenen Bellini-Opern zusammenstellen.
Zu den 10 Bühnenstücken, die im Jahr 1827 das Werk von Scribe/Hérold umrahmen, gehören einige, in denen zwischen Schlafwandeln und Wahnsinn nicht scharf unterschieden wird, so zwei von Shakespeare inspirierte, die Oper Macbeth von Hippolyte Chelard und das Hamlet-Gastspiel mit der englischen Schauspielerin Harriet Smithson als Ophelia, das Hector Berlioz so nachhaltig beeindruckte. Eingeleitet hatte das »wahnsinns Schlafwandel-Jahr« La folle de Glaris, die französische Version der Oper Adele von Boudoy, die Conradin Kreuzer für Anna Milder-Hauptmann geschrieben hatte, und die später Wilhelmine Schröder-Devrient mit großem Erfolg interpretierte.
Will man zu den Ursprüngen dieser Bühnenstoffe gelangen, die hier, »am Ende der Aufklärung« so große Beliebtheit erlangen, so muss man ins »ancien régime« zurück. 1786, im Todesjahr Friedrichs II. und im Jahr der Uraufführung von Mozarts Le nozze di Figaro kam in der Opéra-Comique ein Werk zur Uraufführung, das sich über ein halbes Jahrhundert im Repertoire hielt, Nina ou la Folle d'amour von Nicolas Dalayrac. International wurde dieses Werk überstrahlt von der italienischen Version von Giovanni Paisiello, Nina ossia la pizza d'amore, dessen sich vor nicht allzu langer Zeit Cecilia Bartoli in Zürich annahm.
Um 1830 rangen drei Opernhäuser um die Gunst des Mailänder Publikums. Zu den beiden 1778 und 1779 eröffneten »Teatro alla Scala« und »Teatro alla Canobbiana«, die ähnlich zu einander standen wie »Académie royale de musique« und »Opéra-Comique« in Paris, war 1803 das »Teatro Carcano« gekommen. Dort war an Weihnachten 1830 Anna Bolena von Gaetano Donizetti zur Uraufführung gelangt. An der Scala hatte Bellini bereits 1827 mit Il pirata und 1829 mit La straniera beachtliche Erfolge gefeiert. Giuditta Pasta, die Anna Bolena zum Triumph geführt hatte, sollte zur Protagonistin Bellini werden. Für sie schrieb er La sonnambula, die 1831 im »Teatro Carcano« zur Uraufführung kam und Norma (noch im gleichen Jahr an der Scala).
La sonnambula ist eine »opera semiseria«, also eine Oper, die von der komödiantischen »opera buffa« genau so weit entfernt ist wie von der tragischen »opera seria«. Vergleichbar ist diese Form der französischen »comédie larmoyante«, dem Gegenstück zum deutschen »bürgerlichen Trauerspiel«. Während das »bürgerliche Trauerspiel«, das Personal der Tragödie (entgegen der »Ständeklausel«, die in der Tragödie nur Personen von Stand zulässt) um Menschen aus dem Bürgertum ergänzt, lässt die »comédie larmoyante« nicht-adlige Personen in tragische Situationen geraten, was besagte »Ständeklausel« ebenfalls ablehnt, da diesen die nötige »Fallhöhe« fehle.
Der einzige Adlige in La sonnambula ist Rodolfo, der »nouveau Seigneur« aus dem Ballett, der indessen gar nicht ein neuer Herr ist, sondern ein zurückgekehrter Adliger. Eine wohlbekannte Figur also aus der Zeit der Restauration, wo die vertriebenen Adligen nach und nach auf ihre Besitzungen zurückkehrten.
Nichts ist kompliziert an der Dramaturgie Romanis und Bellinis. Die Handlung ist in zwei Akte aufgeteilt, die sich jeweils in zwei Bilder unterteilen. Sieben von zwölf musikalischen Nummern entfallen auf den etwas längeren ersten Akt. Zwei Drittel der musikalischen Nummern sind ihrerseits durch Zäsuren in drei Abschnitte unterteilt, deren Zentrum jeweils einer traditionellen Form wie der Arie entspricht. So etwa Nr. 4, »Recitativo e sortita di Rodolfo« mit der berühmten Bass-Arie »Vi ravviso, o luoghi ameni« an zweiter Stelle. Oder Nr 3, »Recitativo e cavatina d'Elvino« mit dem Solo »Prendi: l'anel ti dono«, das sich dann allerdings zum Duett ausweitet, in der Mitte.
Erst gegen Ende der Oper verschiebt sich das etwas, in Nr. 11 »Recitativo e Quartetto« erscheint das Quartett in Form einen Kanons (möglicherweise nach dem Vorbild von Beethovens Fidelio) erst am Schluss.
1. Akt, 1. Bild, Dorfplatz: Amina liebt Elvino, die beiden wollen heiraten. Lisa allerdings liebt Elvino auch und ist dementsprechend die einzige Niedergeschlagene in dem Schweizer Bergdorf. Amina empfängt dessen ungeachtet von Elvino den Verlobungsring. Rodolfo kehrt in seine Heimat zurück und bezieht ein Zimmer im Gasthof.
1. Akt, 2. Bild, Zimmer im Gasthof: Lisa besucht den Grafen. Aus Angst vor einem Gespenst versteckt sie sich im Schrank und verliert ein Taschentuch. Das »Gespenst« ist die schlafwandelnde Amina. Sie legt sich in sein Bett, aber nichts passiert, wie 1.800 Zuschauer sehen können. Das glauben aber die Dorfbewohner nicht, die auch ein Geräusch gehört haben und das Zimmer stürmen. Elvino verstößt Amina.
2.Akt, 1. Bild, dunkles Tag zwischen dem Dorf und dem Schloss: Auf Wunsch der Dorfbewohner versucht Rodolfo Elvino noch einmal von Amina Unschuld zu überzeugen. Der will jetzt aber Lisa heiraten.
2. Akt, 2. Bild, Platz vor de Mühle: Lisa stellt sich selbst im besten Licht dar. Sie wird aber von Teresa, der Gastwirtin, mit dem verlorenen Taschentuch konfrontiert. Elvino ist nun völlig verzweifelt, auch Lisa ist untreu! Inzwischen ist es Abend geworden und alle können Amina beim Schlafwandeln zusehen. Jetzt endlich ist Elvino überzeugt von ihrer Unschuld und sie können heiraten.

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