Montag, 5. November 2018

Offenbach nach Keck

Die Frage, ob Les contes d'Hoffmann ein vollendetes oder ein unvollendetes Werk sei, wurde nur selten in der ersten Weise beantwortet. Der Einzige Forscher und Herausgeber, der sich einmal zur Behauptung aufschwang, es sei durchaus möglich, den letzten Willen Offenbachs zu rekonstruieren, ist Jean-Christophe Keck. Derzeit ist er der erfahrenste und gründlichste Offenbach-Experte. Er schrieb das 1993 in einem Artikel für eine französische Zeitschrift, kurz nachdem die bedeutendste neuere Entdeckung von Quellenmaterial gemacht worden war, das originale Finale für den 3. Akt, den Giulietta-Akt. 10 Jahre später wirkte er an der Neuinszenierung von Laurent Pelly in Lausanne mit, die nun an die Deutsche Oper Berlin kommt. Das Finale war das letzte Steinchen, das noch gefehlt hatte, um das Mosaik der Fassung zu rekonstruieren, die im Libretto, das bei der Zensur eingereicht worden war – oder fast. Keck hat in seiner Ausgabe dann doch noch etwas ergänzen müssen z. B. in dem Duett Stella-Hoffmann, das wir uns auch anhören werden. Inzwischen sind noch weitere Entdeckungen in Archiven und Nachlässen gemacht worden und Keck rückte in eine Interview von der früheren Absicht ab. Es bleibt also doch dabei, Les contes d'Hoffmann sind ein unvollendetes Werk, das nur mit Hilfe von Bearbeitern auf die Bühne kommen kann. Und Jean-Christophe Keck ist einer der jüngsten in einer langen Reihe, die mit Ernest Guiraud begann, der von Offenbachs Sohn beauftragt wurde, eine Fassung für die Uraufführung herzustellen.
1873 wandte sich Offenbach an den berühmten Librettisten und Dramatiker Jules Barbier mit der Bitte um ein Libretto auf Basis des Dramas Les contes d'Hoffmann, das dieser 22 Jahre zuvor mit Michel Carré geschrieben hatte. Es gab im Lauf der Zeit verschiedene Optionen, wo das Werk präsentiert werden könnte. Dazu gehörte schon bald auch die Opéra-Comique, aber zunächst konkretisierte sich ein Plan, das Werk am Théâtre-Lyrique, also als durchkomponierte Oper zur Uraufführung zu bringen. Diese Opernhaus ging jedoch bankrott als Offenbach große Teile des 1. und 2. Aktes vollendet hatte; die Titelpartie war für einen Bariton konzipiert, die vier Frauenrollen für einen lyrischen Sopran, die Doppelrolle der Muse und des Nicklausse für einen Mezzosopran. Die schon vollendeten Szenen brachte Offenbach 1879 in einem privaten Konzert in seinem Haus vor geladenen Gästen, darunter von allem Theaterdirektoren aus ganz Europa, zur Aufführung. Neben der Wiener Hofoper interessierte sich jetzt vor allem die Opéra-Comique. Mit beiden wurde ein Aufführungsvertrag geschlossen, was bedeutete, dass Offenbach zwei Fassungen herzustellen hatte, eine mit Dialogen und eine mit Rezitativen. Auch die Besetzung änderte sich. Hoffmann war nun ein Tenor, die vier Frauen ein Koloratursopran und der Mezzosopran hatte keine besonders gut ausgebildete Tiefe. Letzteres allerdings stellte sich erst heraus, als Offenbach schon nicht mehr lebte und deswegen wurde in der letzten Phase die Partie der Muse von der de Nicklausse getrennt – und damit eine der dramaturgischen Grundideen beschädigt.
Die Grundidee des Stücks und der Oper ist die, dass der Dichter Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (in Frankreich seit den 1820er Jahren sehr populär) seine Geschichten selbst als unglücklicher Liebhaber erlebt. Und dieses in eine Rahmenhandlung gepasst, in der Hoffmann, von der Muse inspiriert, seine Geschichten »erzählt«. Begleitet von der Muse in Gestalt des Studenten Nicklausse und herausgefordert von einem Bösewicht, der seine Liebe jedes Mal scheitern lässt. Nicht alle Bösewichte stammen aus den originalen Geschichten von Hoffmann, aber sie sind entscheidend für die Kontinuität der Erzählungen. Auch die Gestalt der Muse ist nicht bei Hoffmann zu finden, sondern eher in einem berühmten Gemälde, dem Cherubini-Bild von Ingres, das im Louvre hängt, und einem Gedicht von Alfred de Musset. Stella allerdings, die Sängerin, die – so ebenfalls das Konstrukt von Barbier – während des Abends im nahegelegenen Opernhaus Donna Anna singt und am Ende statt mit Hoffmann mit Lindorf die Bühne verlässt, ist eine Gestalt aus E.T.A. Hoffmanns Don Juan. Diese Figur ist es auch, die den Tod durch zu intensives Singen erleidet, also gewissermaßen Vorbild für Antonia ist. Klein-Zaches, genannt Zinnober ist eine Geschichte von E.T.A. Hoffmann, die nicht dramatisiert wird, sondern von Hoffmann nur in der berühmten Arie, die im 5. Akt wieder aufgenommen wird, besungen wird. Der erste Akt (früher sagte man »Das Vorspiel«) ist der längste, die Exposition der Personen nimmt viel Zeit in Anspruch. Als zweiter Akt folgt die Geschichte von der Puppe Olympia, die aus Der Sandmann (aus Nachtstücke) stammt. Hoffmann verliebt sich in die Puppe und erkennt nicht, dass sie kein Leben hat. Erst als sie am Ende zerstört ist, erkennt er, dass es nur ein Automat war. Die Geschichte bei E.T.A. Hoffmann ist natürlich ungleich komplexer. Clara, das lebende Gegenbild zur Puppe Olimpia, kommt in der Oper z. B. gar nicht vor. Der dritte Akt ist nach Der Rat Krespel (aus den Serapions-Brüdern) gestaltet. Diese Geschichte ist schon reichlich modifiziert. Die Figur des Docteur Miracle, der Antonia dazu bringt zu singen, ist ein Zusatz, der keine Entsprechung bei E.T.A. Hoffmann hat. Der vierte Akt, der bei der Uraufführung gar nicht gespielt wurde, folgt dem letzten Abschnitt der Abenteuer der Sylvester-Nacht aus den Fantasiestücken in Callot's Manier. Die Geschichte, als Fortsetzung zu Adalbert von Chamissos Peter Schlemihl geschrieben spielt in Florenz (und Nürnberg), nicht etwa in Venedig, das aber wegen der Barkarole, die Offenbach aus seiner erfolglosen Oper Die Rheinnixen borgte, naheliegender ist, oder vielleicht auch, weil Giulietta ein wenig an »Zulietta« erinnert, die Rousseau in seinen Confessions beschreibt, und die für E.T.A. Hoffmann möglicherweise eine Anregung war. Mit diesem Akt taten sich die Autoren am schwersten, es kam keine befriedigende Lösung für den Schluss zustande Was wir hören werden, ist zwar Musik von Offenbach, aber er hätte sie mit Sicherheit noch geändert, wenn er an der Produktion der Uraufführung beteiligt gewesen wäre. Weil die Dekorationen für die Venedig-Bilder so teuer waren, entschied der Direktor der Opéra-Comique kurzerhand, den dritten Akt nach Venedig zu verpflanzen. Der fünfte Akt ist das Spiegelbild des 1. Nicklausse nimmt wieder die Gestalt der Muse an, die Hoffmann zur Apotheose bringt.
Die »Version Lausanne«, die an der Deutschen Oper nun zur Aufführung gelangt, bringt einiges Neue. Das originale Finale des Giulietta-Aktes natürlich, sowie eine Alternative zur »Spiegel-« bzw. »Diamantenarie« und das von Keck rekonstruierte Duett Stella–Hoffman im 5. Akt.

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