Mittwoch, 31. Oktober 2018

Offenbachs Erzählungen

»Lifelong Education« wurde 1962 erfunden, also viele Jahre, bevor ich meine Ausbildung zum Dramaturgen abgeschlossen hatte. Als die EU 37 Jahre später das »Europäische Jahr des lebensbegleitenden Lernens« ausrief, hatte ich das aber bereits erfahren. Und ein gutes Beispiel dafür ist die Oper Les contes d'Hoffmann von Jacques Offenbach. Aufgewachsen mit Inszenierungen, die ausschließlich auf Fassungen aufbauten, die Jahrzehnte nach dem Tod des Komponisten erstellt wurden (und die eindrücklichsten davon im Kino oder Fernsehen erlebt: Felsenstein einerseits und Powell/Pressburger andererseits, wir kommen noch darauf), gab es inzwischen eine Neuausgabe von Fritz Oeser, dem verdienstvollen Herausgeber von Bizets Carmen in zwei wissenschaftlich abgesicherten Fassungen. Sie löste nicht alle Probleme, aber sie war so praxisorientiert, dass man sich seine eigene Fassung daraus zusammenstellen konnte. Man konnte die Akte in der Reihenfolge spielen, die man schon immer als eher an Offenbach gehalten hatte (nämlich Olympia–Antonia–Giulietta, und nicht Giulietta in der Mitte, also so wie Hoffmann im Nachspiel seine Geliebten auch aufzählt); man konnte der Muse mehr Gewicht geben; und man konnte die Rezitative durch Dialoge ersetzen. Man konnte daraus aber auch eine Fassung spielen, die sich nicht von dem Unterschied, was der Peters Verlag Anfang des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an die Aufführungen in Montecarlo und Berlin als Klavierauszug herausgegeben hatte. So geschehen 1985 an der Deutschen Oper Berlin. Den Bärenreiter Verlag freute es, denn dafür gab es Tantiemen. Von dem leider viel zu früh verstorbenen Musikwissenschaftler Robert Didion, der den Artikel über die Oper in der Enzyklopädie des Musiktheaters verfasst hatte, wussten wir aber, dass Michael Kaye aufgrund neu aufgefundener Dokumente eine endgültige Ausgabe vorbereitete. Immer aber – und das bekräftigte Robert Didion noch einmal – gingen wir davon aus, dass Les contes d'Hoffmann ein unvollendetes Werk seien, pathetisch hieß es, »der Tod hat dem Autor die Feder aus der Hand geschlagen.« Dem widerspricht erst jetzt – ach nein, es ist auch schon 15 Jahre her – Christophe Keck, der Herausgeber der Offenbach-Gesamtausgabe, der sich einst lieber nur den Operetten widmen wollte, weil die Lage der Opern zu kompliziert sei. Das Zensurlibretto, das schon 1987 gefunden wurde, entspricht seiner Meinung nach exakt einer von Offenbach zumindest als Klavierauszug vollendeten Fassung.
2002 war die Arbeit von Michael Kaye beendet und lag als vorläufige Partitur und Aufführungsmaterial bei Schott vor. Allerdings arbeitete Keck weiter daran, wie man wusste. An der Deutschen Oper Berlin kam da eine Neuinszenierung dieser Fassung heraus, die leider nicht lange im Spielplan blieb. Das Publikum goutierte weder die Länge (nicht viel kürzer als die Götterdämmerung) noch den Verzicht auf liebgewonnene Hits wie die »Spiegelarie« und das Septett im Giulietta-Akt. Dabei ist die »Spiegelarie« zwar eine Komposition von Offenbach, jedoch nur eine instrumentale und im Septett ist nicht eine Note von Offenbach selbst. Komponiert hat es wohl Raoul Gunsbourg, der Intendant der Opéra de Monte-Carlo von 1892 bis 1951. Er war es, der am Ende des 19. Jahrhunderts den Schritt wagte, die Oper auf den Spielplan zu holen, der ein Fluch anzuhängen schien, nämlich der Fluch, das Theater, an dem sie gespielt wird, in Flammen aufgehen zu lassen.
Die Uraufführung war ein großer Erfolg. Dazu beigetragen hat vielleicht eine Entscheidung des Direktors in letzter Minute: er kürzte die Oper nämlich um einen ganzen Akt, den 4., den Giulietta-Akt. Damit kam die Aufführungsdauer in eine erträgliche Länge. Dennoch ist das für heute wohl kaum eine denkbare Option, auch wenn die Literaturwissenschaft sagt, dass Die Abenteuer einer Silvester-Nacht etwas ganz anderes sind als Der Sandmann und Rat Krespel, den Vorlagen für den zweiten und dritten Akt.

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