Mittwoch, 10. Oktober 2018

Fangen wir doch einfach mit dem Wozzeck an

Um die Wahrheit zu sagen: Seit 1980, dem Jahr des großen Alban-Berg-Symposions in Wien, ist die analytische Erkenntnis über Wozzeck kaum wesentlich vorangeschritten. Was man damals wusste über »Musik, Zeit und Szene in Alban Bergs Oper Wozzeck« (so der Titel eines Vortrags von Elmar Budde (Universität der Künste Berlin) ist auch heute Standard. Ebenso sind es die ebenfalls zu diesem Anlass aufgestellten »Neuen Thesen über Bergs Wozzeck-Libretto des Hamburger Professors Peter Petersen, »Büchner aus zweiter Hand.« Neu ist lediglich die Edition der Briefe Alban Bergs in drei umfangreichen Bänden, die 2012 bis 2014 erschien und der 2005/2006 eine Faksimile-Ausgabe der Hand- und Maschinenschriften Bergs aus den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek voranging.
Über die musikalische Formstruktur hat sich der Komponist selbst schon 1929 geäußert. Die Anbindung der 3 Akte mit ihren 15 Szenen an Formen der absoluten Musik (im Gegensatz zur funktionalen Musik in Oper, Oratorium, Programmmusik), die sich in jeder Analyse des Werks wieder findet, geht ebenfalls auf ihn zurück. Danach besteht der erste Akt aus fünf Charakterstücken, der zweite aus einer fünfsätzigen Sinfonie und der dritte aus sechs Inventionen. Warum hat der dritte Akt, der doch auch fünf Szenen umfasst wie die ersten beiden, eine sechsteilige Struktur? Das längere Zwischenspiel vor der letzten Szene – eine »Invention über eine Tonart (d-Moll)« – kann man als eigenständigen Formteil ansehen.
H. F. Redlich, der 1957 seinen »Versuch einer Würdigung« mit einem Brief an den ersten Biografen (1937) Willi Reich eröffnete, schränkt ein, dass diese Einteilung nur der dritte Grundtypus musikalischer Organisation ist, die Bergs Wozzeck zugrunde liegt – nach I. Skalen bzw. Reihen und II. wiederkehrenden Motiven, die man Leitmotive nennen kann.
Alban Berg hat selbst von sich gewiesen, dass er mit Wozzeck die Oper revolutionieren wollte. Fakt ist aber, dass die Oper, die zwischen 1914 und 1921 geschrieben wurde, bis 1925 auf ihre Uraufführung warten musste. Wenn auch noch ein paar Zeitumstände (wie Weltwirtschaftskrise mit Hyperinflation und Streiks, sowie der Aufstieg rechts-nationaler Gruppierungen) mit dazu beitrugen, so ist dafür sicherlich die Komplexität der Partitur hauptverantwortlich. Erich Kleiber brauchte nicht weniger als 34 Proben mit der Staatskapelle (nein, nicht 137, das ist Seemannsgarn aus der nahem Spree) und auch die musikalischen und szenischen Proben mit den Sängern zogen sich hin.
Völlig zu Unrecht hängt Wozzeck bis heute die Fama an, »atonal« zu sein. Gewiss ist nicht alles »harmonisch« im Sinne des 19. Jahrhunderts, aber die Erweiterungen der Tonalität gehen nicht über das hinaus, was Richard Strauss 1908 mit Elektra vorgegeben hat. Wozzeck ist ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, aber eben eines, das ganz deutlich macht, dass das Konzept eines aufrüttelnden, mitreißenden Musiktheaters im Zeitalter des Expressionismus auf den Konzepten des 19. Jahrhunderts aufbaut. Ästhetisch und inhaltlich ist das Werk Porgy and Bess, der amerikanischen »Volksoper« von George Gershwin viel näher als dem Ideendrama Moses und Aron von Arnold Schönberg.

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