Dienstag, 10. April 2018

Rossinis Krönugsoper

Bis 1979 war es (fast) nur ein Gerücht. Rossini habe eine Krönungsoper für Karl X. von Frankreich geschrieben. Sie enthalte einige der besten Kompositionen von ihm, aber leider sei die Partitur verloren. Immerhin habe er, da es ja eine Gelegenheitskomposition sei, einige Partien daraus in Le Comte Ory verwendet, wenn man Musik aus Il viaggio a Reims hören wolle, dann müsse man sich an diese Oper halten. Und, ach ja, Rossini war ja ein Meister der Ouvertüren und die Ouvertüre zu Il viaggio a Reims sei glücklicherweise erhalten. Davon gab es denn auch einige Aufnahmen, bezeichnenderweise keine von Toscanini. Aber Ferenc Fricsay und George Shell haben sie aufgenommen. Man hörte sie und konnte sich wundern, dass sie eher zu Le siège de Corinthe passen würde als zu Le comte Ory, wie man ja eigentlich vermuten musste. Und jetzt wissen wir es. Nichts da! Die Ouvertüre ist gar nicht von Rossini, sondern von irgend jemand anderem zusammengeschustert worden. Denn 1979 wurde die Originalpartitur von Il viaggio a Reims in Bologna gefunden. Der Arzt von Rossinis Witwe Olympe Pélissier hatte sie der Bibliothek vermacht. Er hatte sie vermutlich statt eines Honorars bekommen. Aber ordentlich katalogisiert wurde sie in Bologna leider nicht, deshalb war sie über hundert Jahre unauffindbar. Sie enthält keine Ouvertüre und die drei Aufführungen im Pariser Théâtre-Italien wenige Tage vor der Krönung in Reims wurden vermutlich auch ohne Ouvertüre gespielt, die einaktige Oper ist ja auch so schon lange genug – zu lang war sie jedenfalls für den geehrten König, der langweilte sich dabei.
Rossini war im Spätsommer 1824 von England kommend in Paris eingetroffen, wo ihm der Posten eines Codirektors am Théâtre-Italien angeboten wurde. bevor er den Vertrag unterschrieb, fuhr er noch einmal nach Bologna um private Dinge zu regeln. Er war also gar nicht in Paris, als Ludwig XVIII. am 26. September 1824 starb. Als Nachfolger für den König kam nur noch einer in Frage, sein Bruder, Charles de Bourbon, Comte d'Artois. Der Vater des Duc de Berry, für dessen Hochzeit in Neapel Rossini die Kantate geschrieben hatte. Dieser war zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben. Beim Verlassen der Oper (!) am 13. Februar 1820 fiel er einem Attentat zum Opfer. Inzwischen war er eine Symbolfigur der Restauration. Der Vertrag, den Rossini in Italien erhielt und unterschrieb, bezog sich nun auf die alleinige Direktion Rossinis. Vom neuen Direktor wurde nun erwartet, in kürzester Zeit eine Krönungsoper für Karl X. zu schreiben.
Luigi Balochi (andere Schreibweise: Giuseppe Luigi Balloco, 1766–1832), der frühere Direktor des Théâtre-Italien, stellte ein Libretto, teilweise inspiriert durch den Roman Corinne, ou L'Italie von Germaine de Staël, zusammen.
Ein Akt, zwei Schauplätze, neun musikalische Nummern. 22 Solisten, Chor, Ballett, mittelgroßes Orchester. Die größte Herausforderung sind die vielen Hauptrollen, darunter zwei erste Tenöre. Il viaggio a Reims ist wahrscheinlich die einzige Krönungsoper, in der niemand gekrönt wird am Ende, in der es aber um keine andere Krönung, als die des zu ehrenden Herrschers geht. Die Handlung ist schnell erzählt. Eine zusammengewürfelte Reisegesellschaft strandet im Hotel zur goldenen Lilie in einem Ort, der Plombières genannt wird und zwischen Paris und Reims liegen soll (bei Google sind nur andere Plombières zu finden). Sie sind alle auf dem Weg zur Krönung Karls X. und ihre Kutsche hatte einen Radbruch. Verschiedene Liebesgeschichten entwickeln sich.  Eine der Reisenden ist Corinna, eine Improvisationskünstlerin, Poetry Sammlerin würde man heute sagen. Als sich herausstellt, dass die Kutsche zwar repariert werden kann, aber keine Pferde mehr aufzutreiben sind, und man also nicht mehr zur Krönung rechtzeitig in Reims sein kann, ist erst die Ratlosigkeit groß. Zum Glück aber gibt der König am Tag danach in Paris ein Fest zu dem nun alle eilen wollen. Erst aber feiert man noch ein Fest im Garten des Hotels, auf dem jeder etwas aus seiner Heimat zum besten gibt und bei dem Corinna (die von Madame de Stael erschaffene Figur) über den zu feiernden König improvisiert.
Die musikalische Höhepunkte sind ein Sextett (Nr 3), ein »Gran pezzo concertato per 14 voci« (Nr. 7) und die Aufreihung von Heimatliedern im Finale. Meist ist hier die Rede von »Nationalhymnen«, das trifft es aber nicht ganz. Dass Haydns Kaiserhyme einmal deutsche Nationalhymne werden sollte, konnte Rossini ganz bestimmt nicht wissen, das einzige, was wirklich so bezeichnet werden kann, ist »God save the king«. Und dass der Engländer diese Hymne singt, ist der Beweis dafür, dass er unmusikalisch ist, und nicht wie die anderen ein schönes Lied aus seiner Heimat singen kann, wie das der Spanier, der Franzose, der Pole und der Russe selbstverständlich tun. Und die Gastwirtin selbst ist eine Zugereiste, sie stammt aus dem Tirol und singt eine »Tyrolienne«, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Opernbühne zuhauf gesungen wird. Ob Tirol oder Südtirol ist dabei nie so richtig gesagt. Also bei Rossini haben wir schon gewissermaßen das »Europa der Regionen.«

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