Dienstag, 6. März 2018

George Frideric Handel: Semele

In »The New Grove Dictionary of Opera« (1992), dem englischsprachigen Standard-Nachschlagewerk für die Opernforschung, folgt unmittelbar auf den Artikel Semele der Artikel Semi-Opera. Das Alphabet gibt diese Reihenfolge vor, aber es ist doch ganz amüsant, dass auf dieses Werk Händels, dessen Status als Oper umstritten ist, ein Artikel über eine ganz spezifisch englische Musiktheatertradition folgt. Der Musikwissenschaftler und Herausgeber Stanley Sadie (1930–2005), zu dessen zweiter Edition des »The New Grove Dictionary of Music and Musicians« (2001) ich noch etwas beitragen durfte, nahm also ganz selbstverständlich an, dass es sich bei Semele um eine Oper handelt und schrieb den Artikel dazu auch selbst. Eine »Semi-Opera« ist Semele selbstverständlich nicht; deren Charakteristikum ist es, dass sich Sänger und Schauspieler mischen, wie in The Fair Queen oder King Arthur von Henry Purcell. Aber spezifisch englisch ist die Form des Musiktheaters ohne szenische Komponente schon. Das hängt mit dem Puritanismus zusammen, der alles Explizite auf der Bühne beargwöhnte und sich gern damit zufrieden gab, dass etwas Anstößiges (wie die Liebe zwischen einem Gott und einer Sterblichen) zwar ausgesprochen, aber nicht dargestellt wird. Oratorien aus der Zeit Händels und davor übrigens bieten dem heutigen Operngeschmack oft mehr als die Opfernder Zeit. Das liegt unter anderem daran, dass die Musik im Oratorium – wo die Szene fehlte – viel mehr beschreiben muss, als in der Oper, wo alle Aktion auf der Bühne stattfindet und die Musik sich auf die inneren Stimmungen konzentrieren kann. Auch ist das Oratorium durch weniger Konventionen eingeschnürt. Es muss nicht unbedingt immer auf ein Rezitativ (in der die Handlung vorangetrieben wird) eine Arie (in der die Gemütslage der Figuren ausgewertet wird) folgen, es können mehrere Rezitative verknüpft werden und es können Arien (oder Duette, Terzette, Quartette) zum Voranbringen der Handlung eingesetzt werden. Das alles hat mehr Ähnlichkeit mit der gewohnten Opernform des 19. Jahrhunderts als die Barockoper. Es ist also kein Wunder, dass seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts immer mehr Oratorien von Händel auf der Bühne erscheinen. Semele erschien in diesem Zusammenhang 1925 in Cambridge. Es dauerte allerdings bis 1982, bis das Royal Opera House Covent Garden, also das Opernhaus wo 1744 die konzertante Uraufführung stattfand, das Werk in sein Repertoire aufnahm. John Copley (dessen L'elisir d'amore Pavarotti zuliebe vor bald 30 Jahren an der Deutschen Oper Berlin gezeigt wurde) inszenierte, Charles Mackerras dirigierte. 1996 haben Karlrernst und Ursel Herrmann Semele in Berlin an der Staatsoper inszeniert, eine Produktion die auch zu Festwochen Alter Musik in Innsbruck ging.
Neun Personen zählt das Libretto als Handlungsträger auf neben dem Chor, der bei Händel eine sehr viel größere Rolle spielt, als bei der Vorlage von Congreve/Eccles. Einige Arientexte von Congreve wurden deshalb bei Händel dem Chor zugeordnet. Die Reihenfolge der Personen ist in den verschiedenen Quelle unterschiedlich. Mal sind sie der Bedeutung nach geordnet, mal den Stimmgattungen nach. Die alte Händelausgabe von 1860 stellt den Gott Jupiter ganz nach oben, gesungen von einem Tenor, meist aber beginnt das Personenverzeichnis mit einem Bass. Cadmus, der sagenhafte König von Theben, Vater Semeles, hat unter den Sterblichen in der Oper tatsächlich den höchsten Rang. Er ist auch gleich in der ersten Szene mit Singen dran, allerdings nicht ganz als erster, das ist ein anderer Bass, der unter den »Dramatis Personae« nicht einmal genannt wird, ein Priester der Juno. Semele als Titelfigur und Sopran mit nicht weniger als neun Arien darf natürlich gern auch ganz am Anfang der Aufzählung stehen, tut es aber nur selten. Als Tochter des Cadmus wird sie oft gleich nach diesem genannt. Auf Semele folgt immer ihre Schwester Ino, die nur eine einzige Arie, aber als Altistin zwei Duette mit Semele hat. Sie ist sozusagen die Gewinnerin des Spiels, sie bekommt am Ende den böotischen Prinzen, den Semele am Anfang eigentlich heiraten sollte. Wenn die beiden in der alten Händel-Ausgabe also am Ende genannt werden, hat das auch eine gewisse Konsequenz. Der böotische Prinz ist Athamas, er singt ebenfalls in Altlage, früher nannte man das Countertenor, so steht es im »Grove«. Zu Jupiter gehört eigentlich die dritte Alt-Partie, Juno. Oft aber sind die beiden im Personenverzeichnis getrennt. Das sind sie ja auch am Anfang der Geschichte, am Ende aber versöhnen sie sich. Juno kann ebenso wie Jupiter menschliche Gestalt annehmen. Sie erscheint Semele als Ino, da stimmt schon einmal die Stimmlage. Juno hat eine Dienerin und Botin, Iris. Sie ist neben Semele der einzige Sopran. Sie hat aber nur eine Arie, am Anfang des zweiten Aktes. Am Beginn des dritten Akten befinden wir uns in den Gefilden eines weiteren Gottes, der in der Regel ganz spät im Personenverzeichnis auftaucht, es ist Somnus, der Gott des Schlafes, der Bass singt und in konzertanten Aufführungen (und auf CD) oft vom gleichen Sänger gesungen wird, der auch Cadmus und den Priester der Juno singt. Für die allerletzte Szene wird ein weiterer Tenor-Gott aufgeboten, Apollo. Er kündigt den Fortgang der Geschichte an: aus der Asche Semeles wird ein Phoenix aufsteigen, der mächtiger ist als die Liebe. Der name wird nicht genannt, aber alle wissen, dass es Bacchus sein muss, der ja bekanntlich aus Jupiters Schenkel geboren wird, weil die Mutter Semele längst tot ist. Der Chor nimmt vielerlei Gestalt an. Einmal sind es Priester und Auguren, einmal Amoretten und Zephyre, Nymphen und Schäfer, oder auch einfach Begleiter der Hauptpersonen.
Der Erste Akt spielt im Inneren des Tempel der Juno. Hier wird die Hochzeit Semeles mit Athamas vorbereitet. Weder Semele noch Ino sind damit glücklich, Semele, weil sie im dritten Monat schwanger ist von Jupiter und Ins, weil sie Athamas liebt. Der Blitz, also Jupiter fährt ein in den Altar der Juno, was die Sache schon etwas hinausschiebt. Schließlich kommt ein Adler und entführt Semele. In der letztes Szene singt sie wieder – obwohl sie eigentlich gar nicht da ist, aber das geht im Oratorium – von endlosen Freuden. Diese endlosen Freuden, werden mit so penetranten Koloraturen besungen, dass man durchaus skeptisch werden kann. Der zweite Akt ist in mehrere Szenerien aufgeteilt. Zuerst erscheint Juno mit Iris in einer »pleasant country«, dann kommen wir in den Palast Semeles, wo sie erst von Jupiter, dann von Ino besucht wird. Am Ende des Aktes scheint noch alles in bester Ordnung zu sein, Ino freut sich, weil Athamas jetzt für sie frei ist, und Semele ist einfach nur verliebt. Der Dritte Akt beginnt in der Höhle des Somnus. Iris kündigt Juno an. Sie verlangt von ihm, dass er Jupiter einen Traum sendet, der ihn noch verliebter in Semele macht. Und zwar so verliebt, dass er ihr keinen Wunsch mehr abschaffen kann. Dann kommen wir in die Wohnung Semeles. Dort erscheint Juno in Gestalt Inos und überredet Semele, sich von Jupiter zu wünschen, dass er ihr in seiner göttlichen Gestalt erscheint. Der zögert zwar, weil er weiß, dass Semele das nicht überleben wird, aber er kann ihr den Wunsch nicht abschlagen. Semele stirbt in der Glut und ihr Palast verschwindet, so dass wir uns wieder am Hof von Cadmus befinden, wo nun Ino und Athamas heiraten. Darauf dann die letzte Szene mit Apollo.
Die Geschichte von Semele ist eine griechische, eigentlich müsste von Zeus und Hera, von Dionysos und Kadmos die Rede sein. Die Opern- und Oratorientradition aber stellt alles auf die römischen Entsprechungen um, deswegen hier auch ausschließlich die römischen Namen.

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