Dienstag, 10. Oktober 2017

Jan Bockelson, Komödiant

Ein Autor, der immer wieder zu tieferen Einsichten verhilft, ist Friedrich Dürrenmatt. Sein erstes Bühnenstück, Es steht geschrieben, uraufgeführt 1947 am Schauspielhaus in Zürich, dreht sich um Jan Bockelson. 20 Jahre später erstellte er eine »Komödienfassung« unter dem Titel Die Wiedertäufer, uraufgeführt ebenfalls in Zürich mit Erst Schröder als Bockelson und Gustav Knuth als Knipperdollinck. Im Vorwort des ersten Stücks schreibt er: »Inwieweit sich heutiges Geschehen in ihr (der Handlung, Anm. C. R.) spiegelt, sei dahingestellt. Es wäre jedoch der Absicht des Verfassers entsprechender, die mehr zufälligen Parallelen vorsichtig zu ziehen.« Zufällig sind die Parallelen natürlich gar nicht. Dürrenmatt hatte die Katastrophe der Naziherrschaft aus der mehr oder weniger sicheren Schweiz beobachtet – wofür er sich Zeit seines Lebens auch irgendwie schuldig fühlte – und selbstverständlich in Jan Bockelson eine Figur gefunden, die dazu taugt, den Aufstieg Hitlers zu kommentieren, wie sie wenige Jahre zuvor Brecht in Al Capone / Arturo Ui gefunden hatte. Während im ersten Stück das Ende noch deutliche Anspielungen an das tatsächliche Ende des Täuferreichs enthält – Bockelson und Knipperdollinck werden gerädert und hauchen ihr Leben aus – ist das Ende der Wiedertäufer eher eine Utopie. Bockelson, der hier eindeutig als Schauspieler dargestellt wird, überlebt. Ausgerechnet der Bischof rettet ihn, »Den Künstler geben wir nicht mehr her...«, sagt er und rebelliert gegen die Geschichte, »Der Begnadete gerädert, der Verführer begnadigt /Die Verführten hingemetzelt, die Sieger verhöhnt durch den Sieg...« Er erhebt sich aus dem Rollstuhl und bringt das Stück so zu Ende: »Diese unmenschliche Welt muss menschlicher werden / Aber wie? Aber wie?«
Es ist nicht anzunehmen, dass Dürrenmatt Meyerbeers Oper Le Prophet gesehen hat. Er ist 1921 geboren und entgegen landläufiger Meinung ist Meyerbeer nicht erst nach 1933 kaum noch gespielt worden. Schon nach der Jahrhundertwende und dann nach dem Untergang des Kaiserreichs erst recht hatte es einen deutlichen Rückgang gegeben. Das Aufführungsverbot doch die Nazis brachte kaum ein Theater in größere Verlegenheit – ganz im Gegensatz zum Verbot etlicher Operetten von jüdischen Autoren. Der Meyerbeer-Skandal in der Deutschen Oper Berlin 1966 galt einer der ersten Wiederaufführungen des Prophet nach dem Krieg überhaupt. Dürrenmatt nennt als historische Quelle vor allem das Standardwerk Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation von Leopold von Ranke. Deren erster Band erschien 1839, also fast drei Jahre, nachdem Eugène Scribe das Libretto Les Anababtistes geschrieben hatte, die Erstfassung von Le Prophète. Die karge geschichtliche Quelle, auf die Scribe zurückgreifen konnte, stammt von Voltaire. Sein Essay nur l'histoire générale et nur les moeurs et l'esprit des nations depuis Charlemagne jusqu'à nos jours erschien 1756 und enthält auch einen Abschnitt über die Wiedertäufer in Münster. Darin erwähnt Voltaire ausdrücklich den Pomp bei der Krönung Jans. Das beflügelte sicher die Fantasie Scribes und Meyerbeers und ist somit der Ursprung des »Krönungsmarsches«, das bekannteste Musikstück der »Grand Opéra« überhaupt.
Der spektakuläre Schluss mit dem explodierenden Rathaus ist Scribes und Meyerbeers eigenste Erfindung, wie auch die Hinzufügung Personen und Handlungssträngen, die keine historischen Vorbilder haben. Noch während der Proben zu Les huguenots 1836 arbeitete Meyerbeer zusammen mit Scribe die Grundzüge für zwei neue Opern heraus, in denen die Sängerin der Valentine, Marie-Cornélie Falcon, die Hauptpartie übernehmen sollte. Als diese bald darauf ihre Stimme verlor, legten Scribe und Meyerbeer L'Africaine zurück und konzentrierten sich auf Les Anabaptistes, wo die Tenorpartie Jean de Leyde (Jan Bockelson) im Mittelpunkt steht.
Außer Jean gibt es im Personenverzeichnis des Prophète nur noch eine weitere historisch belegte Figur, Mathisen (Jan Mathys). Allerdings tritt dieser fast ausschließlich zusammen mit zwei weiteren Anabaptisten auf, Jonas und Zacharie. Eine völlige Neuerfindung sind Berthe, mit der Jean am Anfang verlobt ist, und Fidès, die Mutter Jeans. Ebenso der Graf Oberthal, der die kaiserliche Macht vertritt, und mit seiner Ungerechtigkeit überhaupt erst bewirkt, dass das Volk den Anabaptisten hinterherläuft.
Da nun Falcon nicht für die Partie der Berthe zur Verfügung stand, sollte in einer zweiten Fasssung, Fidès zur einzigen weiblichen Hauptpartie werden. Diese Idee verband Meyerbeer mit dem Direktor der Opéra. Allerdings hatte dieser seine Lebensabschnittsgefährtin Rosine Stolz für die Partie der Fidès im Sinn, während Meyerbeer für Pauline Viardot-García komponierte.
Eine erste Fassung der Oper war 1841 fertig komponiert und wurde bei einem Notar in Paris hinterlegt. Meyerbeer ließ keinen Zweifel, dass er einer Aufführung nur zustimmen würde, wenn eine für ihn befriedigende Besetzung gefunden wäre – und davon war man weit entfernt. Andererseits hatte er sich gegenüber dem Librettisten vertraglich verpflichtet, die Oper bis zu einem bestimmten Zeitpunkt fertigzustellen, ansonsten hätte er Vertragsstrafe zahlen müssen. Auch die Partie der Berthe war komplett ausgeführt, obwohl es noch keine Besetzungsidee gab und Meyerbeer die Arien eigentlich erst komponieren wollte, wenn er wusste für wen er sie komponiert.
Leider ist diese Fassung von 1841 nicht zu rekonstruieren, denn Meyerbeer hat die Partitur nach der vereinbarten Sperrfrist wieder ausgelöst und sie dann für die endgültige Fassung mit entsprechenden Änderungen verwendet.
Dennoch kommt seit 1990 nach und nach eine Fassung der Oper zum Vorschein, wie sie Meyerbeer geplant hatte, aber nicht zur Aufführung bringen konnte. Bis dahin war man auf den Erstdruck der Partitur angewiesen, der nach der Uraufführung vom Verlag Brandus herausgegeben wurde. Auch die ausgedehnte Ouvertüre, die verloren galt, ist wiedergefunden worden. Aber auch ein paar bedeutende Varianten bekannter Stücke. Es gibt nun eine alternative Auftrittsarie der Berthe. Die Herausgeber der Meyerbeer-Werkausgabe empfehlen allerdings ganz auf eine Auftrittsarie zu verzichten, weil sie erst eingefügt wurde, als die endlich gefundene Sängerin Jeanne Anaïs Castellan, darauf bestand.
Der gravierendste Unterschied zur gewohnten Fassung ist vielleicht der Anfang des berühmten Krönungsmarsches. Der fängt in der Originalfassung nämlich ganz leise mit zwei Klarinetten an und baut sich allmählich auf, während wir die pompöse Fassung mit dem Fortissimo-Beginn des ganzen Orchesters gewohnt sind, die sich auch gut für den Konzertgebrauch eignet. Aber es gibt weitere Varianten, die durchaus entscheidend sind, so etwa im Walzer der Landleute am Anfang des zweiten Aktes ; hier wurde offenbar kurz vor der Uraufführung der Choral der drei Täufer gestrichen, nicht nur ein wichtiges Erinnerungsmotiv, sondern auch ein Hinweis darauf, wie sich die Täufer bei den Bauern einschmeicheln.
Außerdem enthält die Neuedition natürlich eine ganze Reihe von Musik, die vor der Uraufführung aus verschiedenen Gründen gekürzt wurde, entweder so wie die Ouvertüre, um Zeit zu gewinnen, oder um die Partie des Jean zu vereinfachen.

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