Dienstag, 14. März 2017

Boris Godunow

Auch den Namen des legendären Zaren des ausgehenden 16. Jahrhunderts, dem möglicherweise zu Unrecht ein Kindermord zur Last gelegt wurde, kann man mit lateinischen Buchstaben auf ganz unterschiedliche Weise schreiben. Kyrillisch schreibt er sich so: Бори́с Фёдорович Годуно́в. Der Endkonsonant erscheint dabei wahlweise als »v«, »w« oder »ff«, je nachdem, ob die Übersetzungssprache eher englisch, deutsch oder französisch ist. Wenn man bei YouTube oder Streamingportalen nach der Oper von Mussorgsky sucht, dann erhält man mit einem »v« die meisten Treffer. Und an Aufnahmen dieses Meisterwerks mangelt es wahrlich nicht. Sucht man allerdings eine ganz bestimmte Version, so kann es knifflig werden. So habe ich Jahre lang nach einer Aufnahme der Bearbeitung von Karol Rathaus gesucht, die ab 1952 einige Jahre an der Metropolitan Opera gespielt wurde. Zugegeben, das ist vielleicht nicht die bedeutendste Bearbeitung, aber sie ist ein Schritt auf dem Weg zur Entdeckung des Originals. Mussorgsky gehört zu den Komponisten, die von den Dirigenten lange Zeit nicht ernst genommen wurden. Schumann ist sein Gegenstück in der deutschen Musik. Diese Komponisten hatten den Ruf, nichts vom Orchester zu verstehen. Mit einer unglaublichen Arroganz wurde die originale Instrumentierung hinweggewischt und durch (für das Orchester meist bequemere) Bearbeitungen ersetzt. Weil man sich dann nicht damit auseinandersetzen musste, was die Absicht des Komponisten wohl war, wenn er eine ungewöhnliche Kombination von Instrumenten vorsah, oder wenn er unbequeme Lagen einsetzte, hatte dies auf der einen Seite eine unglaubliche Bequemlichkeit zur Folge. Aber es führte auch zu einer Bearbeitungsindustrie, deren Teil eben zum Beispiel Karol Rathaus wurde, der froh sein konnte, diesen Auftrag zu bekommen. Seine eigenen Opern wurden nämlich kaum aufgeführt.
Zwei inzwischen verstorbene Dirigenten, die eigentlich zu denen gehörten, die sich unermüdlich darum bemühten, an die ursprünglichen Absichten der Autoren heranzukommen, geben ein Beispiel dafür, wie hartnäckig sich die Vorurteile hielten. Michael Gielen, der etwa 1980 mit dem Cincinnati Symphony Orchestra Beethovens Eroica völlig befreit von Schlampereien aufgenommen hat, etwa dadurch, dass er die Tempoangaben Beethovens ernst nahm, hatte bei Schumann eine andere Position. Vorbild war ihm Gustav Mahler, der sich als Dirigent für Schumann einsetzte und durch seine Bearbeitungen überhaupt erst als Sinfonie durchsetzte. In den 1970er Jahren lernte Gielen beim Cleveland-Orchestra die Bearbeitungen von George Szell kennen, die auf denen Mahlers fussten. Fortan verwendete er sie in seinen Konzerten. Gerd Albrecht, der ein ausgesprochenes Faible für das Slawische hatte und neben Tschaikowsky, Antonín Dvořák und Leoš Janáček auch Mussorgsky zu seinen Lieblingskomponisten zählte (absoluter Lieblingskomponist war allerdings Robert Schumann), setzte an der Deutschen Oper Berlin die Fassung von Dmitri Schostakowitsch durch mit dem Argument, dass sie viel näher am Original sei, als die bis dahin verwendete Bearbeitung von Nikolai Rimsky-Korssakow.
Die »Dramatische Chronik« Boris Godunow von Alexander Puschkin orientiert sich an den Königsdramen Shakespeares. Er schrieb sie bereits 1825, aber erst 1831 veröffentlichte er sie. Aufgeführt wurde sie zu seinen Lebzeiten nicht. Das wusste die Zensur zu verhindern. 1866 lockerte sie die Zügel etwas und ließ eine Aufführung unter Auslassung bestimmter Szenen zu. Das grundsätzliche Verbot aus dem Jahr 1837, Zaren auf der Bühne darzustellen, blieb aber weiterhin bestehen. Mussorgsky wurde auf das Sujet aufmerksam gemacht, war aber eben wegen des Verbots erst skeptisch. Schließlich überwog der Drang, etwas Neues, ja eine Nationaloper zu schaffen gegen als Widerstände und der Komponist legte alle angefangenen Projekte beiseite, darunter Die Heirat, die wir letztens betrachteten. In einem wahren Schaffensrausch schrieb er 1868/1869 die erste Fassung der Oper, die aber abgelehnt wurde, weil eine größere weibliche Partie, sprich eine Liebesgeschichte, fehlte. Mit großem Enthusiasmus machte sich Mussorgsky an die Erweiterung. So wurde die Oper tatsächlich angenommen und 1874, vier Jahre nachdem das Drama von Puschkin zum ersten Mal in St. Petersburg aufgeführt wurde. Und zwar in den gleichen Bühnenbildern. Das geht, weil die Oper ziemliche genau der Vorlage folgt. Bis 1882 wurde die Oper 25 Mal gespielt, die danach komponierte Oper Chowanschtschina wurde jedoch nicht angenommen mit der Begründung »eine radikale Oper von Mussorgsky ist genug.« Offenbar war die Zarenfamilie nicht begeistert von Boris Godunov, was sicher dazu beitrug, dass die Oper dann für über 20 Jahre von der Bühne verschwand. Erst als Fjodor Schaljapin, der Weltstar am kaiserlichen Operntheater St. Petersburg, die Hauptrolle singen wollte, wurde das Werk wieder aufgenommen. Für diesen Zweck gab Rimsky-Korssakow eine Neufassung von 1896 neu heraus, in das was an der Musik »radikal« erschien, glättete. Nach einem Gastspiel dieser Fassung in Paris verbreitete sich das Werk in dieser Form über die ganze Welt.
Mitte der 1920er Jahre machte sich der Musikwissenschaftler und Komponist Pavel Lamm an die Herausgabe der Werke Modest Mussorgsky. 1928 konnte der »Ur-Boris« zum ersten Mal aufgeführt werden. Nach wie vor aber hielt sich das Vorurteil, Mussorgsky sei zwar ein genialer Komponist gewesen, aber eben ein Dilettant, und das mache sich besonders darin bemerkbar, dass er nicht mit dem Orchester umzugehen wisse. Auf der anderen Seite aber wuchs die Erkenntnis, dass Rimsky-Korssakow mit seiner Bearbeitung viel zu weit über das Ziel hinausgeschossen ist, indem er unregelmäßige Taktarten »begradigte« und ungewohnte Harmoniefolgen im Sinne der klassisch-romantischen Harmonielehre »verbesserte«. Einen großen Schritt in die Nähe von Mussorgsky eigenen Absichten bedeutete da die Bearbeitung von Dmitri Schostakowitsch von 1940, die der vorletzten Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin zugrunde lag. Die letzte Inszenierung (von Götz Friedrich) folgte dem ebenfalls von Pavel Lamm edierten (und von David Lloyd-Jones ergänzten) »Original-Boris«, also der Fassung mit der Liebesgeschichte, die 1874 zur Uraufführung gekommen war. Jetzt werden wir in der Bismarckstraße zum ersten Mal den »Ur-Boris« erleben.

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