Dienstag, 14. Februar 2017

Tod in Venedig

Mit dem Kino hatte es Thomas Mann bekanntlich nicht so. In einigen Erzählungen wird es als Vergnügung der »unteren Schichten« erwähnt und ein wenig lächerlich gemacht. So ist es denn kein Wunder, dass zu Lebzeiten Thomas Manns nur zwei Filme gedreht wurden, die sich mit einem Romanstoff von ihm befassen: 1923 kam in Berlin der Stummfilm Buddenbrooks von Gerhard Lamprecht mit Peter Esser, Mady Christians, Alfred Abel, Franz Egenieff und vielen anderen prominenten Schauspielern der Zeit zur Uraufführung. Thomas Mann hatte zwar selbst am Drehbuch mitgeschrieben, jedoch eher inoffiziell, im Abspann wurde er nur als Autor des Romans erwähnt. Erst dreißig Jahre später wurde Königliche Hoheit mit Ruth Leuwerick, Lil Dagover und Dieter Borsche gedreht. Jetzt wirkte Erika Mann am Drehbuch mit, »um das Schlimmste zu verhindern«, was sie bei weiteren Projekten nach Thomas Manns Tod ebenfalls tat. So war Morte a Venezia von Luchino Visconti 1971 erst der siebte große Kinofilm nach einem Motiv von Thomas Mann. Kurz nach erscheinen dieses Films entschied sich Benjamin Britten zusammen mit seiner Librettistin Myfanwy Piper, die Novelle Der Tod in Venedig, die Thomas Mann 1911 geschrieben hatte, zur Grundlage ihrer nächsten Oper zu machen. Im Gegensatz zu Thomas Mann, der die Novelle in seinen Dreißigern, von Selbstzweifeln geplagt zwar, aber nicht existentiell bedroht, und auch Visconti, der noch nichts von einem Herzinfarkt ahnte, schrieb Britten sein Werk gegen die Uhr. Er wusste dass seine Zeit abgelaufen war. Er hatte schwere Herzprobleme, eine Operation war unumgänglich, aber er schob sie immer weiter hinaus, weil er Death in Venice noch davor vollenden wollte. Der Stoff des Künstlers in der Krise, der an einen Sehnsuchtsort reist, dort zu Eingeständnissen über sein eigenes Wesen gedrängt wird und bewusst oder unbewusst in den Tod geht, erhält damit noch eine weitere persönliche Dimension. War es bei Thomas Mann vor allem die Schaffenskrise und bei Visconti die tabuisierte erotische Spannung zwischen dem alten Mann und dem jungen Fremden, so kam nun zu beidem die Unausweichlichkeit des Todes als zentrales Moment der Auseinandersetzung hinzu.
Britten selbst musste jederzeit klar sein, dass er an seiner letzten Oper schrieb. Nach der mäßig erfolgreichen Operation, deren Folgen ihn daran hinderten, bei der Uraufführung zugegen zu sein, schrieb er nur noch wenige kammermusikalisch besetzte Werke und Chorwerke bzw. Volkslied-Arrangements. Grund genug, seine ganze Kenntnis und sein gesamtes Können in diese Komposition zu stecken, um exemplarisch festzuhalten, was Oper nach annähernd vier Jahrhunderten ihrer Geschichte vermag. Venedig ist von Thomas Mann bestimmt nicht deswegen als Schauplatz gewählt worden, weil dort im Februar 1637 das Teatro San Cassiano in der Nähe der Rialto-Brücke als erstes öffentliches, von jedem, also nicht nur von Adligen zugängliches Opernhaus seine Pforten öffnete. Bei Britten jedoch schwingt die venezianische Barockoper mit. Das praktisch durchgehende Rezitativ wie auch der schnelle Wechsel von Schauplätzen und das Gemisch von verschiedenen Stilen finden wir auch dort. Allerdings stoßen wir auch schnell auf grundsätzliche Unterschiede, die meist auf weitere Ausprägungen der Operngeschichte verweisen. So finden wir die aparte Idee, eine Oper nicht mit einer Ouvertüre beginnen zu lassen, sondern mit zwei vorspielartigen Szenen, auf die dann eine Ouvertüre folgt, die nun wirklich alle im Sitzen zu verfolgen haben, schon bei Heinrich Marschner in Hans Heiling. Dass der Hauptfigur (einem Tenor) ein Gegenspieler (ein Bariton) gegenüber gestellt wird, der verschieden Gestalten annimmt, ist eine unverhohlene Reverenz an Jacques Offenbach und dessen Oper Les contes d'Hoffmann. Die Verwendung balinesischer Intrumente im Orchester verweist auf Brittens eigene Ballettmusik für John Cranko The Prince of the Pagodas von 1957. Die Aufteilung in zwei Akte folgt der Gewohnheit, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebreitet hatte, alle Opern (außer denen Wagners natürlich) mit lediglich einer Pause zu spielen, welbst wenn das, wie in La Traviata oder Eugen Onegin den zweiten Akt auseinanderreißt. Jede Szene, ja jedes Motiv ist originell und zu vollkommener Einheit mit dem Text verwoben und steht gleichzeitig in einer mehr oder weniger verborgenen Beziehung zur Musikgeschichte. Gleich die ersten vier Töne, die Aschenbach zu singen hat, und die sich als eines seiner Hauptmotive entpuppen, sind eine ins zwanzigste Jahrhundert verlängerte Spiegelung des B-A-C-H- Motivs, das Johann Sebastian Bach mehrfach verwendete. Und wie jenem haftet dem Aschenbach-Motiv die Kreuz-Symbolik an.
Aschenbach ist Hauptperson und Erzähler zugleich. Alle anderen Figuren entspringen entweder vollkommen seiner Fantasie, oder sie sind zwar real, aber wir sehen sie durch Aschenbachs Augen. In den beiden Szenen vor der Ouvertüre macht sich Aschenbach auf den Weg nach Venedig, der – das müssen wir heute ergänzen – von München über das Meer, nämlich über Triest führt. Er begegnet dabei dem »Traveller« und dem »Elderly Fop«. In der dritten Szene macht er seinen erste Ausflug zum Lido, die geheimnisvolle Figur ist hier der »Gondoliere«, der ihn da hin fährt. In der vierten Szene nimmt ihn der »Hotel Manager« in Empfang und er begegnet beim Abendesen den Hotelgästen, darunter die »polnische« Familie mit dem Jungen Tadzio, an dem sich Aschenbachs Fantasie entzündet. Sie geht unmittelbar über in die fünfte Szene am Strand, wo Tadzio und die Kinder spielen, nur ein Erdbeerverkäufer und Stimmen des Chors bilden einen Rückhalt an die reale Welt. Die sechste Szene trägt die Überschrift »A foiled departure«. Aschenbach flieht, ein (anderer) Gondoliere bringt ihn zurück in die Arme des »Hotel Managers«. Im Hotel begegnet er lästigen Gestalten wie einer Bettlering und erneut Tadzio. Also besteigt er wieder die Gondel, die ihn zurück ans Lido bringt, wo er »The Games of Apollo« erlebt und zum Eingeständnis geführt wird, dass er Tadzio liebt. Die zweite Szene beginnt beim »Hotel Barber«, einer weiteren Figur aus der realen Welt, die von Aschenbachs Fantasien überlagert wird und somit ebenfalls vom Bariton-Gegenspieler gesungen wird. Von ihm hört Aschenbach das Wort »sickness«. Zur zweiten Szene »The pursuit« setzt Aschenbach erneut nach Venedig über, wo tatsächlich bereits über die Cholera-Epidemie gesprochen wird. Die Begegnung mit der »polnischen« Familie bleibt sprachlos und endet in Missverständnissen. Zurück im Hotel beginnt die Szene mit den Straßensängern, an deren Spitze der Bariton in seiner letzten Gestalt erscheint, bevor er sich als mythologische Figur entpuppt. In der vierten Szene erfährt Aschenbach im Reisebüro von einem englischen »Clerk«, dass es am besten wäre, asus Venedig zu verschwinden. In der fünften Szene begegnet Aschenbach in der Hotelhalle der »Lady of the Pearls« und die sechste Szene endlich ist der Traum, in dem Aschenbach das Aufeinandertreffen von Apollo (ein Coutertenor) und Dionysos (der Bariton-Gegenspieler) imaginiert. Schnell folgen die siebte und achte Szene, am Strand mit noch einmal Tadzio und den Kindern und im Hotel wieder beim Friseur. In der neunten Szene kehrt Aschenbach noch einmal nach Venedig zurück, wo er Tadzio zum ersten Mal allein begegnet, doch es gibt keine Kommunikation zwischen den beiden. »Departure« ist die letzte Szene überschrieben. Hotelhalle mit Blick auf das Meer hinaus. Aschenbach sinkt in seinen Sessel, Tadzio schreitet immer weiter ins Meer hinaus.

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