Dienstag, 8. März 2016

Norma, ein Plagiat


14 Jahre lang durfte Norma (uraufgeführt am 26. Dezember 1831 im Teatro alla Scala, Mailand) von Vincenzo Bellini (1801–1835) in Paris nicht gespielt werden. Da kannte man die Oper schon in Wien, Berlin, London, Madrid und selbst in Moskau und Bukarest. Bellinis Ruhm hatte sich schnell im musikalischen Europa verbreitet, auch in Paris selbstverstädlich, wo alle anderen Opern gespielt wurden und schließlich auch I puritani 1835 im Théâtre-Italien zur Uraufführung kam. Aber ein heute vollkommen vergessener Autor verhinderte bis zu seinem Tod die Aufführung. Alexandre Soumet (1786–1845) hatte am 6. April 1831 am Théâtre de l'Odéon Norma, ou L'infanticide (Norma oder der Kindermord) herausgebracht. Vergleicht man die fünfaktige Tragödie mit dem Libretto von Felice Romani, dass dieser im Sommer 1831 für Bellini zu schreiben begann, so sind die Parallelen in der Tat sehr verblüffend. Der Plagiatsvorwurf ist nicht aus der Luft gegriffen. Allerdings ist die Begründung, dass Bellini und Romani sein Drama »entstellt« hätten, nicht unbedingt zu halten. Die Musik bringt die Handlung dem Zuschauer viel näher als die akademischen Verse Soumets. Und so ganz ohne Vorbilder ist auch Norma, ou l'Infanticide nicht. Vor allem die überaus erfolgreiche Oper La vestale (1807) von Etienne de Jouy (1764–1846) und Gaspare Spontini (1774–1851), die allerdings »glücklich« endet, bot ein Handlungsgerüst, in das andere Motive eingebaut werden konnten. Das ist auf der einen Seite das Prosa-Epos Les Martyrs, ou Le triomphe de la religion chrétienne (1809) von François-René de Châteaubriand (1768–1848), wo sich die Druidenpriesterin, Velléda, in den zum Christentum konvertierten römischen Feldherrn Eudore verliebt, und auf der anderen Seite die Medea-Sage, die von den Argonauten entführte Prinzessin von Kolchis, die ihre eigenen Kinder tötet, um den Verrat des Gatten zu rächen. Auch Medea ist ein berühmter Opernstoff. In der französischen Oper sind es vor allem Médée (1693) von Marc-Antoine Charpentier (1643–1704, von ihm stammt die »Eurovisions-Fanfare«) und die gleichnamige (keineswegs komische) »opéra comique« von Luigi Cherubini (1797). Felice Romani (1788–1865) schrieb 1813 das Libretto zu Medea in Corinto von Giovanni Simone Mayr (1763–1845, Lehrer Gaetano Donizettis), einer der ersten italienischen Varianten des Medea-Stoffes. Auch La vestale fand italienische Nachahmer. 1823 schrieb Giovanni Pacini seine Oper auf einen schon 1810 für Vincenzo Pucitta verfassten Text von Luigi Romanelli (1751–1839); auch Saverio Mercadante (1795–1870) schrieb eine La vestale, das allerdings erst 1840 auf ein Libretto von einem anderen berühmten Dichter, Salvatore Cammarano. Auch Romani hatte schon einmal den Stoff der Vestalin aus dem antiken Rom in den Norden versetzt. Bei ihm sind es die Sachsen mit ihre Kult um die »große Säule«, Irminsul. La sacerdotessa di Irminsul schrieb er 1820 für Giovanni Pacini. Das ist ein große Choroper und sie endet ganz in der Tradition Spontinis mit der Begnadigung der Priesterin und ihres Liebhabers, mit der Versöhnung der Sachsen und Franken durch die Heirat von Romilda und Ruggiero.
Die Jungfräulichkeit der Priesterinnen der Vesta war im antiken Rom staatstragend. Wurde eine von ihnen mit einem Liebhaber erwischt, so wurde der Liebhaber zu Tode gepeitscht und sie lebendig eingemauert. Von hier hat Aida ihren Schluss, in Ägypten gab es diese Todesart nicht. Die Unkeuschheit einer Vestalin konnte von jedem Römer angezeigt werden. Darauf folgte eine Untersuchung und ein Prozess. Es sind sehr viele Freisprüche und Begnadigungen überliefert. Die Begnadigung nach erfolgtem Schuldspruch für den Liebhaber bedeutete Verbannung und für die Priesterin, dass sie ihre Todesart selber wählen konnte. Die meisten entschieden sich dann für den Selbstmord. Die im Jahr 91 v. Chr. unter Kaiser Domitian verurteilte Cornelia jedoch wurde wirklich eingemauert nach der Tradition. Gefesselt und geknebelt wurde sie in ein unterirdisches Gemach gebracht, das aber seltsamerweise ein Bett, eine Lampe und Essensvorräte enthielt.
Die fünf Akte des Dramas von Soumet erfordern vier Schauplätze. Der 1. Akt spielt im heiligen Wald der Druiden, die Irminsul steht im Zentrum. Der 2. Akt ispielt ebenfalls im Freien, Bäume und Felsbrocken sind zu sehen und ein Altar, von einer Statue überragt. Der 3. Akt führt in das Schlafzimmer der Norma mit einem römischen Bett. Im 4. Akt sind wir wieder im heiligen Wald der Druiden. Der 5. Akt spielt an einem See, an dessen Ufer Höhleneingänge zu sehen sind, eine Brücke aus Felsbrocken liegt im Hintergrund. Felice Romani wählte eine zweiaktige Form, wobei der erste Akt aus zwei, der zweite aus drei Bildern besteht. Das erste Bild des ersten Aktes entspricht genau dem 1. Akt Soumets. Der Anfang 2. Akt Soumets wird quasi ausgelassen, hier kommen die beiden Söhne Normas zu Wort, die sich unterschiedlich zum Konflikt zwischen Galliern und Römern positionieren. Das zweite Bild Romanis spielt bereits in Normas Wohnung. Adalgisas Geständnis und die erste Begegnung mit Pollione findet also nicht auf »neutralem Gebiet« statt, sondern bei Norma zu Hause. Der zweite Akt Romanis geht da weiter, wo der erste aufgehört hat, allerdings jetzt »im Inneren« der Wohnung Normas, also im Schlafzimmer wie der 3. Akt Soumets. Der 4. Akt Soumets spiegelt sich im zweiten Bild des zweiten Aktes von Romani wieder, es ist wieder der Wald der Druiden und das letzte Bild bei Romani ist wie das zweite des ersten Aktes eine Übersetzung in die Bildsprache der Oper. Auch hier wird aus einem Außenbild ein Innenbild, allerdings ein monumentales. Wir befinden uns im Tempel der Druiden. Dass dort ein Scheiterhaufen angezündet wird, läßt an das brennende Kapitol in verschiedenen Barockopern erinnern.
Je nach Partiturausgabe besteht die Musik aus Ouvertüre und 9 oder 14 »Nummern« Die musikalischen Abschnitte des ersten Aktes sind: Coro d'introduzione e Cavatina (Oroveso) »Ite sul colle o Druidi« – Recitativo e Cavatina (Pollione) »Meco al altar die Venere« – Coro – Scena e Cavatina (Norma) »Casta diva« – Scena e Duetto (Adalgisa, Pollione) »Va, crudele« – Scena (Norma, Clotilde) – Duetto (Norma, Adalgisa) »Io fui così« – Scena e Terzetto, Finale I (Norma, Adalgisa, Pollione). Und hier die musikalischen Abschnitte des zweiten Aktes: Introduzione – Scena e Duetto (Norma, Adalgisa) »Mira o Norma« – Coro e Sortita Oroveso – Recitativo e Coro – Scena e Duetto (Norma, Pollione) »In mia man alfin tu sei« – Scena ultima ed Aria finale.

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