Montag, 28. September 2015

Turandot

Die berühmteste aller Märchenopern ist wohl Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart. Sie gründet nicht auf einem »Haus-« oder »Volksmärchen«, sondern auf einer Sammlung von Kunstmärchen, dem Dschinnistan von Christoph Martin Wieland. Verschiedene Erzählungen daraus (von Wieland und seinen Co-Autoren Einsiedel und Liebeskind) lieferten die Motive für die Oper von Schikaneder und Mozart, namentlich Der Stein der Weisen und Lulu, oder die Zauberflöte. Gleich zu Beginn gibt es darin eine Parallele zum Turandot-Märchen: Tamino verliebt sich in Paminas nur aufgrund eines Bildes. Dieses Märchenmotiv kommt in Wielands Sammlung in mehreren Erzählungen vor, so in Neangir und seine Brüder, Argentine und ihre Schwestern und in Der goldene Zweig. Doch wirklich konstituierend für die Erzählung ist das Motiv im Turandot-Märchen: reihenweise verlieben sich die Prinzen, die nach Peking kommen in das Bild der Prinzessin und ohne sie selbst je gesehen zu haben, geben sie ihr Leben dahin, um sie zu gewinnen.
Die älteste Fassung des Märchens von Turandot verdanken wir dem persischen (genauer: aserbaidschanischen) Dichter Nizami (1141–1209). Sein berühmtestes Buch ist Laila und Medschnun, die Liebesgeschichte, die im persisch-arabischen Kulturkreis eine ähnliche Bedeutung hat wie Romeo und Julia, Tristan und Isolde oder Heloisa und Abelard bei uns. Die Geschichte von der Prinzessin, die in einem von Eis umgebenen Schloss auf den angemessenen Ehepartner wartet, der sich ihr mit dem Lösen von Rätseln als ebenbürtig zeigen muss, ist in einer Sammlung mit dem Titel Sieben Schönheiten (1098) enthalten. Die Rahmenhandlung ist nicht unähnlich der Struktur von 1001 Nacht, nur sind es eben die Sieben Gemächer im Palast des Kalifen, in denen die Schönheiten der Welt wohnen. Jedem Gemach und damit jeder Schönheit ist ein Wochentag und und eines der sieben damals bekannten Gestirne (5 Planeten, Sonne, Mond) zugeordnet, sowie eine Farbe. Die Schönheiten kommen aus den verschiedensten Ländern, es gibt je eine indische, tatarische, chowaresmische (Choresmien = heute Turkmenistan / Usbekistan), slawische, mauretanische, griechische und persische Prinzessin. Dem Dienstag (Mars) gehört die rote Farbe und eine Prinzessin, ja welche nun? Eine chinesische ist ja nicht dabei. Es ist eine slawische Königstochter, die aus dem dritten Gemach kommt und ihre Geschichte erzählt.
Die nächste literarische Ausformung des Turandot-Märchens ist auch die Quelle Carlo Gozzis, dessn »fiaba« in Schillers Übersetzung der Oper von Giacomo Puccini zugrundeliegt. Es ist Mille et un jour (1710–1712) von François Pétis de la Croix (1653–1713), der viele Jahre seines Lebens in Persien verbrachte und der die Sammlung von einem befreundeten Derwisch in Isfahan bekommen haben will. Die Prinzessin in der Rahmenhandlung trägt bereits Züge von Turandot. Weil sie nicht heiraten will, beauftragt ihr Vater eine Amme ihr immer neue Geschichten über die Treue der Männer zu erzählen, bis sie endlich überzeugt ist. Eine dieser Geschichten ist dann eben die von Turandocht, der chinesischen Prinzessin, die alle Freier töten lässt, die ihre Rätsel nicht lösen können.
Hinter der Figur der Turandot könnte auch eine historische Person stehen, das trifft allerdings nicht für die slawische Schönheit Nizamis zu, denn sie ist jünger: Khutulun, die Nichte des Khublai Khan, eine mongolische Kriegerin und Ringerin, die alle Heiratswilligen zum Kampf aufforderte und sie ausnahmslos niederrang, worauf sie einen Tribut in Form von Pferden zahlen mussten. Am Ende besaß sie über 10.000 Pferde. Sie wurde um 1260 geboren und lebte bis ca. 1306, also etwas hundert Jahre nach Nizami. In der amerikanischen Fernsehserie Marco Polo wird sie von der korenaischen Schauspielerin Claudia Kim gespielt.
1761 schrieb Carlo Gozzi (1720–1806) seine erste »fiaba teatrale«, sein erstes Märchenstück. Er bezog damit Stellung gegen Carlo Goldoni, dessen Komödien er Verrat an den Idealen der »Commedia dell'arte« vorwarf. Er wollte damit den Beweis antreten, dass man selbst den absurdesten Fantasiegeschichten Lebenswahrheit einhauchen könne. Im Gegensatz zu Goldoni wurde Carlo Gozzi in Italien im 19. Jahrhundert allerdings vergessen. Es erschien eine einzige Neuausgabe, dabei handelte es sich allerdings um eine Rückübersetzung der Turandot in der Bearbeitung von Friedrich Schiller. Die ersten deutschen Übersetzungen waren schon 1777 bis 1779 in Bern erschienen, Schillers Bearbeitung kam 1801 schon einer Wiederentdeckung gleich. Erst im 20. Jahrhundert erfolgte eine erneute Wiederentdeckung Carlo Gozzis, und zwar wieder in Deutschland. Max Reinhardt beabsichtigte eine Aufführung im Deutschen Theater in Berlin und beauftragte 1904 Ferruccio Busoni mit der Komposition einer Bühnenmusik. Die Komposition war längst fertig, als immer noch über die Übersetzung diskutiert wurde. Die Turandot Suite kam bereits 1905 im Konzert zur Uraufführung und wurde u. a. 1909 von den New Yorker Philharmonikern unter Gustav Mahler gespielt. Doch erst am 27. Oktober 1911 kam Turandot am Deutschen Theater heraus. Als Übersetzer firmierte Karl Gustav Vollmoeller, der für Reinhardt auch das Mysterienspektakel Das Mirakel (mit Musik von Engelbert Humperdinck) entworfen hatte. Busonis Korrespondenz legt allerdings den Schluss nahe, dass Busoni selbst auch zur Übersetzung beigetragen hat. Einige Textstellen übernahm er später wörtlich in seine Oper Turandot.
Es ist interessant, dass nicht weniger als vier der »fiabe teatrali« von Carlo Gozzi zur Grundlage von bedeutenden Opern wurden. Sein allererstes Werk, L'amore dei tre melarance wurde zu L'amour des trois Oranges, Die Liebe zu den drei Orangen, von Sergej Prokofjew. Aus dem dritten, vierten und fünften Märchenstück wurden der Reihenfolge nach: Die Feen (Richard Wagner) und La donna serpente (Alfredo Casella, nach La donna serpente, Die Schlangenfrau), König Hirsch (Hans Werner Henze, nach Il re cervo) und schließlich Turandot (Ferruccio Busoni, 1917, Giacomo Puccini, 1926).
Ein Bericht über die Turandot-Aufführung im Deutschen Theater regte Giacomo Puccini 1920 dazu an, seinerseits eine Oper nach diesem Stoff zu schreiben. Ihn faszinierte vor allem, dass in dieser Aufführung Turandot eine kleine Frau gewesen sei (es war Gertrud Eysoldt), die von lauter großen Männern (Kalaf war Alexander Moissi) und Möbeln umgeben war, und dass der Inszenierung generell etwas Experimentelles anhaftete. Interessant ist dabei, dass Turandot in den 20-er Jahren erneut Gegenstand experimentellen Theaters wurde. Der Stanislawski-Schüler Wachtangow brachte an seinem Moskauer Künstler-Theater als letzte Inszenierung vor seinem frühen Krebstod Gozzis Turandot heraus. Diese wiederum sah Brecht zehn Jahre später und ließ sich zu einem eigenen Stück, Turandot oder die Weißwäscher, inspirieren. Aber auch Reinhardt wandte sich in Salzburg 1926 erneut dem Stück Gozzis zu und setzte nun ein Element aus dem japanische Kabuki-Theater ein, den er auch 1911 schon einmal verwendet hatte, allerdings in München und bei der Operette, Die schöne Helena: den Hanamichi genannten Steg ins Publikum.
Turandot nimmt im Schaffen Puccinis eine besondere Stellung ein. Nicht nur ist es die einzige Oper, die er nicht vollendet hat – und dabei geht es nicht nur darum dass ihm »der Tod die Feder aus der Hand geschlagen hat« – sondern auch um die Frage, warum stockte die Arbeit fast zwei Jahre? Puccini kam nämlich mit dem Schluss des Librettos nicht zurecht. Er diskutierte endlos mit seinem Librettisten Renato Simoni und war nie zufrieden. Als sie dann endlich eine Lösung gefunden hatten, war es in der Tat zu spät, der Kehlkopfkrebs war schon so weit fortgeschritten, dass für die letzte Szene von Puccini lediglich sehr rudimentäre Skizzen übrig blieben. Aus diesen Skizzen, aber auch mit eigenem Material, destillierte Franco Alfano im Auftrag des Verlages Ricordi einen Schluss der Oper, der allerdings 1926 nur in einer gekürzten und bearbeiteten Form zur Aufführung kam. Erst seit 1982 ist die Originalkomposition von Alfano auch verfügbar und kann mit der Bearbeitung verglichen werden. Inzwischen gibt es allerdings noch mindestens dre weitere Finali, von denen eines auch öfter zur Aufführung kommt. Der Reihe nach: Die Uraufführung an der Mailänder Scala unter der Leitung von Arturo Toscanini war bereits für 1925 geplant, als Puccini im Spätsommer 1924 zur Behandlung in einer Spezialklinik nach Brüssel aufbrach. In einem Gespräch mit Toscanini hat er für den Fall, dass er das Finale tatsächlich nicht selbst schreiben könne, vorgeschlagen, dass die Oper auch als unvollendetes Werk aufgeführt werden soll. Nach dem Trauerkondukt für Liù sollte der Vorhang fallen. Ob er tatsächlich vorgeschlagen hat, der Dirigent solle dann sagen: »An dieser Stelle starb der Komponist«, bleibt Toscaninis Geheimnis. Was Toscanini am 25. April 1926 genau gesagt hat, nachdem er den Taktstock an der bezeichneten Stell niederlegte, ist übrigens auch unterschiedlich überliefert, es ist also auch nicht so genau zu rekonstruieren. Auch darüber, ob dann bereits in der zweiten oder erst in der dritten Vorstellung Alfanos Finale (in der Bearbeitung von Toscanini) gespielt wurde, ist nicht so ganz klar. Klar ist aber, dass Toscanini vom Ergebnis der Arbeit Alfanos ganz und gar nicht begeistert war. Vor allem hielt er seine Komposition für viel zu lang und setzte rigoros den Rotstift an.
Nachdem seit 1982 die ursprüngliche Komposition von Alfano wieder verfügbar ist und zuerst konzertant in London und später szenisch in Bonn gespielt wurde, legte Luciano Berio im Auftrag der Salzburger Festspiele eine eigene Fassung vor, die zwei große Vorteile hat: 1. gibt sie dem Kuss, den Puccini ganz besonders musikalisch untermalen wollte, mehr Musik, und 2. verzichtet sie auf den Bombast am Ende und lässt die Oper sanft verklingen. 2008 schließlich komponierte der chinesische Komponist Hao Wei Ya für eine Aufführung in Peking aus Anlass des 150. Geburtstages von Puccini eine eigene »chinesische« Version des Finales, die den Bombast von Alfano noch bei weitem übersteigt. Schließlich soll die amerikanische Komponistin Janet Maguire 1988 noch eine Fassung erarbeitet haben, die ausschließlich auf dem Skizzenmaterial Puccinis basiert.

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