Dienstag, 29. September 2015

Rätsel / China

Zwei Komplexe sind noch hervorzuheben bei einer Betrachtung von Puccinis Turandot. Das Rätsle aller Rätsel im abendländischen Theater stammt aus Oedipus. »Was ist das, am Morgen geht es auf vier Beinen, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei? – Der Mensch!« Man kommt nicht sofort darauf, weil man nicht unbedingt den Stock des Greises als drittes Bein identifiziert, dennoch ist das Rätsel von sehr einfacher Struktur und es wird sofort klar, dass die Formulierung der Frage vollkommen hinter das zurücktritt, wonach gefragt wird. Der Mensch selbst ist das Rätsel, dem seit Aischylos die Dichter hinterherjagen.
Schiller hat für fast jede seiner Turandot-Aufführungen in Weimar von 1802 bis 1804 neue Rätsel erfunden. Gefragt wurde darin nach dem Jahr, dem Auge und dem Pflug (erste Vorstellung), dem Regenbogen, dem Schalttag und dem Blitz (zweite Vorstellung), dem Funken, dem Tag / der Nacht und dem Schiff (dritte Vorstellung), der Fantasie, den Sternen / dem Mond und dem Weltgebäude (vierte Vorstellung), den Farben, dem Schatten auf der Sonnenuhr und der Großen Mauer (fünfte Vorstellung). Man sieht, dass für Schiller das Theaterpraktische im Vordergrund stand, nicht das Philosophische. Er wollte das Publikum durch immer neue Rätsel hereinlocken, er bezahlte das damit, dass nicht alle Rätsel wirklich existenziellen Fragen nachgehen. Bei Gozzi fragt Turandot nach der Sonne, dem Jahr und dem adriatischen Löwen. Die letzte Frage war natürlich speziell für Venedig ersonnen und musste für Weimar auf jeden Fall ersetzt werden.
Puccini entschied sich mit seinem Librettisten Renato Simoni für Fragen nach der Hoffnung, dem Blut und Turandot selbst. Bei Busoni ist es der menschliche Verstand, die Sitte und die Kunst.
Puccinis Turandot ist der krönende Abschluss einer Reihe von acht Turandot-Opern, die innerhalb von gut 100 Jahren komponiert wurden. Den Anfang machte 1816 Franz Danzi (1763–1826), den wir heute vor allem als Komponisten von Bläserquintetten kennen. 1816 ist das Jahr in dem mit Faust von Louis Spohr und Undine von E. T. A. Hoffmann die Romantik auf die deutsche Opernbühne kam. Carl Gottlieb Reißiger (1798–1859), der Nachfolger Carl Maria von Webers an der Dresdner Hofoper und somit der Vorgesetzte von Richard Wagner in seiner Dresdner Zeit, ist der nächste in der Liste, seine Turandot kam 1835 in Dresden zum ersten Mal auf die Bühne. Neben Opern komponierte Reißiger Kammermusik (v. a. Streichquartette und Klaviertrios), eine Sinfonie und ein Flötenkonzert. Die folgenden vier Turandot-Komponisten sind heute weitgehend vergessen, wenn sie auch zu ihrer Zeit recht berühmt waren: es fängt mit J. Hoven (Pseudonym vür Johann Vesque von Püttlingen, 1803–1883) an, dessen Turandot 1838 in Wien herauskam, es geht weiter mit Antonio Bazzini (1818–1897), dem Lehrer von u. a. Giacomo Puccini und Alfredo Catalani, seine »azione fantastica« Turanda 1867 an der Mailänder Scala gespielt wurde, allerdings sicher schon längst vergessen war, als Puccini bei ihm in Mailand studierte. Bazzini war einer der zwölf Komponisten, die von Ricordi und Verdi zu einer gemeinsamen Vertonung eines Requiems für Rossini aufgefordert wurden. Er komponierte das »Dies irae«. Weiter geht es mit Adolf Jensen (1837–1879), der zwischen 1858 und 1865 Die Erbin von Montfort komponierte, die später (1888) von Wilhelm Kienzl als Turandot herausgegeben wurde. Keine der Fassungen wurde bis heute m. W. aufgeführt. Der letzte Komponist vor Busoni war Theobald Rehbaum (1835–1918), dessen Turandot am 11. April 1888 zu den wenigen Opernuraufführungen gehört, die an der Berliner Hofoper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen sind.
Wenn auch in allen Turandot-Opern als »couleur locale« China und Peking definiert ist, so hat doch einzig Puccini sich ernsthaft mit chinesischer Musik auseinander gesetzt. Insbesondere hatte es ihm eine Musikdose angetan, die ihm sein Freund Baron Edoardo Fassini besorgt hatte. Das 1877 in der Schweiz gebaute Instrument spielte einige der chinesischen Melodien, die seit den Mémoires sur la musique des Chinois (1779) von Joseph-Marie Amiot und den Travels in China (1804) von Sir John Barrow in Westeuropa bekannt waren.

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