Montag, 9. November 2015

Priester und König, Kloster und Palast, der alte Streit

Von den Trappisten kennen die meisten Leute vor allem den Käse oder das Bier. Nur, wer sich etwas eingehender mit Religionsgeschichte und mit relgiösen Orden befasst, weiß, dass die Trappisten einen reformierten Zweig der Zirsterzienser darstellen, die ihrerseits einst von den Benediktinern ausgingen. Und wer etwas vom mönchischen Leben weiß, kennt das Schweigegebot in ebendiesen Trappistenklostern, wo man sich über den Reifegrad des Käses und die Gärung des Biers bevorzugt in Zeichensprache unterhält. Und was hat das mit La Favorite von Gaetano Donizetti zu tun?
Die Geschichte, die von Eugène Scribe an den Hof des Alfonso XI. von Kastilien gebunden wurde, entstammt einem Roman aus dem 17. Jahrhundert. Es war ein einst sehr erfolgreicher Roman einer einst sehr erfolgreichen Schriftstellerin, Madame de Tencin (1682–1749), Mémoires du Comte de Comminges. Die Grafschaft Comminges liegt am Nordfuß der Pyrenäen, das angesprochene Adelsgeschlecht ist vom 11. bis zum 15. Jahrhundert nachgewiesen. Die Autorin sagt nicht, um welchen Grafen aus welchem Jahrhundert es sich handeln soll, der aus enttäuschter Liebe ins Kloster geht (der berschmähte Liebhaber wird Priester: das kennen wir doch auch aus der Manon Lescaut des Abbé Prévost!) und dort schließlich einen Novizen betreut, der sich als eben seine Geliebte entpuppt, die dann aber, anstatt mit ihm zu fliehen, in seinen Armen stirbt (das kennen wir aus Verdis Macht des Schicksals). Sie sagt aber, dass es ein Trappistenkloster ist, in das der Comte eintritt, nachdem er glaubt, den Tod seiner Geliebten verursacht zu haben. Das ist zwar geschichtlich nicht ganz plausibel, denn Trappistenkloster gab es bei der Veröffentlichung des Romans erst seit etwa 100 Jahren, also kein Graf von Comminges kann in ein Trappistenkloster eingetreten sein, aber wichtig und für die Geschichte konstituierend ist das erwähnte Schweigegebot. Es ist nämlich kein Zufall, dass diese beiden kommunikationsgestörten Individuen ausgerechnet bei den Trappisten Zuflucht finden. Auch wenn sie miteinander reden, reden sie aneinander vorbei. Hätte er von Anfang an gesagt, wer er ist und sie sich ihrerseits offenbart, wären die ganzen Katastrophen nicht passiert.
Adélaïde ist von ihrem Vater – so kennt man das im Mittelalter, und nicht nur dort – zur Heirat mit einem für den Erhalt der Macht wichtigen Herrn bestimmt. Auf persönliche Neigungen, wie etwa die Liebe zum Comte de Comminges wird da keine Rücksischt genommen. Sie gehorcht und lässt den Comte im Unklaren, warum sie sich von ihm zurückzieht. Er muss schließlich glauben, dass sie gestorben sei und macht sich Vorwürfe, für ihren Tod verantwortlich zu sein, weil er seinerseits ihr seine Herkunft nicht offenbart hat. Deswegen widmet er sein Leben der Buße im Trappistenkloster. Dort kommt Adélaïde nach vielen Jahren an und es gibt ein Wiedersehen mit dem eben erwähnten Ergebnis. 1735 kam der Roman heraus, 1746 gab es eine englische Übersetzung 1754 eine italienische. 1765 schließlich fand der Stoff auf die Bühne, François-Thomas-Marie de Baculard d'Arnaud (1718–1805) gab Les amans malheureux ou Le comte de Comminge heraus (»amans« ohne »t« ist richtig, »Comminge« ohne »s« auch), ein Drama in drei Akten mit einem längeren Vorwort und einer Kurzfassung der Memoiren im Anhang. Der neapolitanische Schriftsteller und Revolutionär (er wurde 1800 wegen Verbreitung republikanischer Schriften hingerichtet) übersetzte und bearbeitete das Werk in drei Teilen 1778 für das Teatro dei Fiorentini. Andrea Leone Tottola (1750–1831, wir kennen ihn als Librettisten Rossinis und Donizettis) machte daraus die ersten Opernbücher über Adelaïde und den in Italien Comingio genannten Grafen. Komponist war Valentino Fioravanti. Als erstes kam 1812 der Mittelteil Adelaïde maritata heraus, es folgte 1817 der Schluss La morte d'Adelaïde und zuletzt 1818 Gli amori di Adelaïde e Comingio. Parallel dazu schrieb Gaetano Rossi (1774–1855, ebenso bekannter Librettist wie Tottola) für Giovanni Pacini 1717 eine Adelaïde e Comingio, die in Mailand herauskam. Zwanzig Jahre später ließ sich Donizetti von einem unbekannten Librettisten in Neapel eine Vorlage schreiben. Hier spätestens scheint der französische Schauplatz ausgetauscht worden zu sein und ein neapolitanischer König erscheint im Personenverzeichnis. Dass die Oper Adelaide unvollendet blieb, verwundert nicht, in Neapel hätte sie mit Sicherheit nicht aufgeführt werden dürfen. Aber Donizetti nahm, was er schon komponiert hatte, 1838 nach Paris mit als er sich dorthin aufmachte, um sein Komponistenglück zu finden. Die Idee und wohl auch große Teile der Musik fanden Eingang in eines der ersten großen Projekte Donizettis für Paris L'Ange de Nisida, komponiert auf ein Libretto von Gustave Vaëz und Alphonse Royer für das Théâtre de la Renaissance, wo die Oper aber bis zu dessen Pleite 1841 nicht aufgeführt wurde. Auch später wurde die Oper nicht aufgeführt, aber sie ging mehr oder weniger vollständig in La Favorite auf. Hier spätestens wurde aus Adelaide der »Engel von Nisida« und spätestens ist das Motiv des Königs als Rivalen für den Liebhaber Adelaides ausgeprägt.
Ferdinand I. von Neapel hatte neben seiner Ehefrau nacheinander drei Mätressen, mit denen er auch Kinder hatte, aber als Eugène Scribe zusammen mit Donizetti das Libretto von Vaëz und Royer für die Opéra einrichtete, suchten sie nach einer verwertbaren historischen Figur auch für die weibliche Hauptpartie. Und sie fanden eine verwertbare Konstellation am Hof des Reconquista-Königs Alfonso XI. von Kastilien. Er hatte eine ganz offizielle Mätresse, Leonor de Guzman, die allerdings ein weit schmählicheres Ende fand, als Léonor in Donizettis Oper: sie wurde nach dem Tod Alfonsos verfolgt und schließlich auf Betreiben der Witwe in Toledo hingerichtet.
Ein typisches Opernelement – und unvermeidbar, wenn zwei ganze Akte im Kloster spielen sollen – ist der »Mönch« (in L'Ange de Nisida hat er auch wirklich noch keinen Namen), der als gütiger Beichtvater ebenso taugt wie als Repräsentant kirchlicher Macht. Die Auseinandersetzung zwischen Balthazar und Alphonse in La Favorite wirkt wie eine Blaupause für die Auseinandersetzung zwischen Philippe und Grand Inquisiteur in Don Carlos von Giuseppe Verdi.
Mit La Favorite beweist Donizetti auf einen Schlag, dass er nicht nur ein Talent für die »Opéra comique« (als erstes komplett in französischer Sprache geschriebenes Werk wurde am 11. Februar 1840 La fille du régiment aufgeführt), sondern auch für die »Große Oper«, verbunden mit der »Salle Peletier« (1821–1874), hat. Alles ist an seinem Platz in diesem vieraktigen Werk, das Ballett im zweiten Akt, der tragische Tod im letzten. Die Unterschiede zu den Hauptwerken des »Grand opéra« sind eher marginal – vier statt fünf Akte (aber auch Guillaume Tell hat nur vier); vergleichsweise bescheidene Schauplätze, der vierte Akt ist wieder das gleiche Kloster wie der erste.
Was Donizetti sich besonders anverwandelt hat, ist der fließende Übergang von den dialogischen Episoden in die Arien und Duette, der Umgang mit den Chorgruppen, die Orchestersprache und der sparsamere Umgang mit Koloraturen zusammen mit einer Konzentration auf melodische Entwicklungen, die ebenmäßigen Gesang fördern. Also vergleichsweise wenig große Sprünge, eher Tonwiederholungen, dafür extrem ausdifferenzierte Phrasierungen.
La Favorite wurde zu einem Standardwerk des französischen Repertoires und blieb bis 1918 ununterbrochen auf dem Spielplan der Opéra. Donizetti beeinflusste damit die gesamte französische Opernproduktion der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch auf die italienische Oper wirkte sie ein, die Figur des Carlo in Verdis Ernani ist musikalisch kaum denkbar ohne das Vorbild Alphonse in La Favorite.

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