Vor bald zwei Jahren haben wir uns mit eine französischen Variante des Fliegenden Holländers befasst, Le Vaisseau fantôme von Pierre-Louis Dietsch. Hatte die Geisteroper des wenig bekannten französischen Komponisten, Chordirektors und Dirigenten noch unmittelbar etwas mit Wagners berühmterer Vertonung der Holländer-Legende zu tun – Wagner hatte das Sujet an den Direktor der Pariser Opéra verkauft, der wiederum Dietsch als Komponisten damit betraute –, so schrieb Ernest Reyer seinen Sigurd vermutlich vollkommen unabhängig von Wagners Ring des Nibelungen. Rein theoretisch wäre es natürlich möglich gewesen, dass Reyer Kenntnis davon hatte, dass Wagner an einem Opernzyklus nach dem Nibelungenlied arbeitete, die erste Lesung der Dichtung im Freundeskreis erfolgte 1853 in Zürich. Als Reyer aber 1862 mit der Komposition des Sigurd begann, war Wagner noch längst nicht fertig mit seinem Ring, es fehlte noch der Schluss des Siegfried und die ganze Götterdämmerung, genau die Teile, die sich auch überschneiden. Reyer hätte schon im Juli nach Wien reisen müssen, um dort im Musikverein Wagner instrumentale Ausschnitte (den »Walkürenritt« und »Wotans Abschied und Feuerzauber«) dirigieren zu hören.
Das erste Szenario für Sigurd schrieb Michel Carré (er war zusammen mit Jules Barbier der Librettist von Gounods Faust und Roméo et Juliette sowie von Thomas' Hamlet und Mignon, seine Dramatisierung einiger Erzählungen von E. T. A. Hoffmann bildete die Grundlage für Offenbachs Les contes d'Hoffmann) bald nachdem 1861 eine kommentierte französischsprachige Ausgabe des Nibelungenlieds mit Ausschnitten aus der Edda erschienen war. Später aber, d. h. spätestens 1864 waren Édouard Blau (er war später an Massenets Le Cid und Werther beteiligt) und Camille du Locle (er schrieb zusammen mit Joseph Méry für Verdi Don Carlos) damit betraut. Weitere Details zur Entstehungsgeschichte gibt Steven Huebner in seinem Buch French Opera at the Fin de Siecle. Leseproben sind hier zu finden. Reyer war im Übrigen kein Wagnerianer, mit Tristan und Isolde konnte er wenig anfangen und als 1893 an der Pariser Opéra Die Walküre gespielt wurde, resignierte er gewissermaßen und sagte voraus, dass nun der gesamte Wagner in Paris gespielt werden würde.
Wer also einen »französischen Wagner« erwartet, wird von Sigurd sicher enttäuscht werden. Wer aber neugierig ist auf eine späte »grand opéra«, der wird Einiges in dem Werk entdecken können, das es zumindest in die Nähe von Massenet bringt. Was Reyers Werk grundsätzlich von Wagner unterscheidet, ist das völlige Fehelen von Humor. Sigurd ist eine sehr, sehr ernste Angelegenheit. Auch das Übernatürliche, das bei Wagner immer wieder hereinspielt, ist bis auf ein Minimum reduziert. Der erste Entwurf von Carré enthielt noch einen Prolog im Himmel und weitere Szenen, die außerhalb der Realität stehen. Das wurde nach und nach eliminiert. Das gedruckte Libretto enthält noch eine Apotheose, in der Sigurd und Brunehild langsam auf einem Regenbogen zu Odins Himmel aufsteigen, der sich für sie öffnet. Und am Ende sieht man Attila. Im Klavierauszug endet das Werk, nachdem die sterbende Hilda (Kriemhild bzw. Gutrune) ihr Geschmeide an Uta übergibt, damit diese es zu Attila bringe, der Rache nehmen soll, mit einem Chor der die Flammen des Scheiterhaufens beschreibt, in dem Brunehild an Sigurd Seite den Tod findet. Trotz dieser Reduktionen befand der Direktor der Pariser Opéra, Émile Perrin, das Werk sei unaufführbar. So zog sich dann auch die Komposition hin und erst als sich 1883 eine Aufführung in Brüssel abzeichnete, vollendete Reyer die Partitur. Nach der triumphalen Uraufführung am 7. Januar 1884, interssierte sich auch die Parieser Opéra für das Werk und führte es 1885 (allerdings stark gekürzt) auf. Seither gehört es in Frankreich zwar nicht gerade zum Standardrepertoire, aber es wird soch in regelmäßigen Abständen gespielt. Während es in Deutschland noch immer so unbekannt ist, dass Erfurt 2015 von einer »Erstaufführung« sprechen kann.
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